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Beobachtungen aus der Luft

Das hatte Camilla nicht etwa nur so dahingesagt. Es war ihr voller Ernst. Und nachdem sie angeklopft hatte, um sich zu vergewissern, ob er bereits lag und sie die Tür aufmachen könnte, kam sie an sein Bett und gab ihm wieder einen Gutenachtkuß. Und nun sah er sie im schwachen Lichtschein, der aus ihrem Schlafzimmer hereinfiel. Trotz des hochmodernen in Orange und Schwarz gemusterten Pyjamas erschien sie ihm ganz klein und ganz hilflos.

Jeder Blutstropfen in ihm empörte sich gegen die Verwirrung, die sie in ihm anrichtete, weil sie bald ein Kind und bald eine Frau war. Es war ihm vollkommen unmöglich, sich mit dem nötigen Gleichmut mit ihren ewigen Wandlungen abzufinden. Er hätte beinahe gesagt: »Schlüpf unter die Decke und kuschele dich an mich, da du so durchfroren und verängstigt bist«, aber er spürte, wie er schon allein bei diesem sträflichen Gedanken heftig und bis an den Hals errötete.

So kam er zu dem blödsinnigen Entschluß, gegen den Schlaf anzukämpfen. Nur ein kleines Nickerchen wollte er sich gönnen, nicht mehr, um ja alles zu hören, falls während der Nacht irgend etwas geschehen sollte, was sie erschrecken könnte. Die Folge war, daß er drei Stunden oder länger krampfhaft wach blieb, obwohl er sich seit Donnerstag nicht mehr ordentlich ausgeschlafen hatte, und dann dennoch der Müdigkeit unterlag und fest einschlief.

Als er allmählich wieder zu sich kam, schlug die große Uhr unten gerade acht, das Licht eines prachtvollen Sonntagmorgens im August schien ihm ins Gesicht, und die Tür zwischen Camillas Zimmer und dem seinen war geschlossen. Sofort kam ihm die peinliche Frage in den Sinn, ob er denn so laut geschnarcht hätte, daß Camilla, um schlafen zu können, die Tür schließen mußte. Er wußte nicht, ob er überhaupt zu schnarchen pflegte, er hatte keine Möglichkeit, es zu kontrollieren. Wenn er jedoch schnarchte, dann wußte es Camilla – hol's der Kuckuck! – jetzt wahrscheinlich ganz genau.

Er wäre wohl noch einmal eingeschlafen, wenn nicht das Brummen eines Flugzeuges über dem Dach ihn wieder an Camilla hätte denken lassen. Jetzt konnte er verstehen, warum der alte Herr Lindstrom diese verdammten mechanischen Vögel so gehaßt hatte. Er selber durfte sie, so lange Camilla sie so leidenschaftlich liebte, leider nicht verabscheuen. Womöglich saß in der Maschine, die jetzt über das Haus flog, niemand anderes als Camilla selbst, die vielleicht die Absicht hatte, ihn auf diese Weise zu wecken.

Er kroch aus dem Bett und trat an das offene Fenster, um gähnend und blinzelnd in den blauen Himmel hinaufzustarren und nach ihr Ausschau zu halten, obwohl eigentlich kaum damit zu rechnen war, daß es ihm gelingen könnte, sie zu erkennen und zu veranlassen, ihm mit dem Taschentuch zuzuwinken. Er war aber dennoch etwas verdutzt, als ihre helle junge Stimme ihn von unten begrüßte. Sie war allem Anschein nach auf die Wiese gegangen, um selbst in die Lüfte zu sehen.

»Hat dieser Idiot dich geweckt, mein Lieber?« rief sie. »So eine Gemeinheit! Aber zieh dich jetzt, da du doch nun einmal glücklich auf bist, schnell an und komm herunter. Wir wollen zusammen frühstücken.«

Eine halbe Stunde später, als er endlich hinunterkam, war sie immer noch auf der Wiese. Sie trug ein Sporthemd und blaue Trainingshosen, sah aber dennoch nicht wie ein Junge aus. Sie gab ihm einen ziemlich flüchtigen Kuß und lobte seine Krawatte und den Wohlgeruch seiner Rasierseife. Er sagte ein paar Worte über das schöne Wetter.

»Ja, es ist in der Tat ziemlich schön jetzt«, stimmte sie sachverständig zu, »obwohl die Luft später wahrscheinlich diesig wird, wenn nicht ein steifer Wind aufkommt.«

Sie hatte, entrüstete er sich innerlich, wahrhaftig nichts anderes im Kopf, als schleunigst in ihr verwünschtes Flugzeug zu steigen und zwischen den Wolken herumzusegeln. Deshalb hatte sie sich wahrscheinlich auch so sportlich angezogen, um für alle Fälle einen Fallschirm anschnallen zu können. Was diese Frauen sich herausnahmen! Hatten sie Angst, so ließen sie die Männer immer noch Hofhund spielen, sonst aber gingen sie vollkommen unbekümmert ihre eigenen Wege, ohne sich auch nur im geringsten um jemand zu kümmern!

»Hast du heute schon Eric gesehen?« fragte sie, nahm ihn bei der Hand und schleppte ihn zum Haus. Er schüttelte den Kopf und brummte etwas Verneinendes. Daraufhin beschleunigte sie ein wenig ihren Schritt und erklärte: »Dann wollen wir uns beeilen und allein frühstücken. Man kann nicht wissen, wann er herunterkommt.«

Er war noch immer in seine Gedanken mit dem störenden Übergangsstadium zur modernen Frau beschäftigt; er erklärte sich zwar mit ihrem Plan einverstanden, aber man sah ihm deutlich an, daß er verstimmt war. Da brachte sie ihn plötzlich in arge Verlegenheit. »Hast du wieder eine schlechte Nacht hinter dir, Pete?« fragte sie recht besorgt.

Er hob ruckartig den Kopf, weil er glaubte, daß sie heimlich lächelte, aber sie schien ganz ernst zu sein, wenigstens äußerlich. »Ich war ziemlich lange wach, habe aber nachher ganz gut geschlafen«, erwiderte er daraufhin. Und dann stellte er die Frage, die ihn selber beschäftigte. »Wie kommt es eigentlich, daß unsere Verbindungstür zu war?«

»Ich habe sie zugemacht, als ich vor etwa einer Stunde aufstand, um mich anzuziehen«, erklärte sie. Das war also in Ordnung, dachte er; aber als er ihr wieder ins Gesicht sah, meinte er, daß sie diesmal doch kaum merklich lächelte. Und gleich darauf setzte sie hinzu: »Ich wollte auch dich wecken, als ich aber in dein Zimmer hineinguckte, schliefst du so hübsch und sahst so unschuldig aus, daß ich es einfach nicht übers Herz brachte.«

Wahrscheinlich hatte er schaurig ausgesehen, folgerte er, vermutlich war sein Mund offen gewesen. Er fragte lieber nicht weiter.

Übrigens wäre ihm das, selbst wenn er es gewollt hätte, unmöglich gewesen; denn in diesem Augenblick – sie näherten sich gerade den Verandastufen – tauchte die kleine Ruth auf, die Tochter des Schofförs. Die Kleine lief aus Leibeskräften auf sie zu und keuchte heftig, als ob sie von jemandem gejagt wäre. Aber ihre Züge drückten absolut keine Angst aus, es spiegelte sich in ihnen nur eine Wichtigtuerei, und ihr Keuchen war bloßes Theater. Das Kind konnte meilenweit wie ein Hirsch laufen.

»Mutter läßt fragen«, bestellte sie, »ob ein Mann, der mit einem Taxi aus dem Ort gekommen ist und der neue Diener sein will, einfahren darf. Sie meinte, niemand hätte ihr etwas von einem neuen Diener erzählt, aber vielleicht wäre Vater im Bilde, und der hätte nur vergessen, ihr Bescheid zu sagen.«

»Nein«, erwiderte Camilla, »ich habe vergessen, es euch mitzuteilen. Das mit dem Diener stimmt. Wir erwarten ihn. Lauf zum Tor zurück und laß ihn herein.«

Das Kind machte rechtsumkehrt und sauste davon.

Camilla lallte kurz auf. »Es ist ein Glück, daß der Mann kein wirklicher Diener ist«, sagte sie, »sonst hätte er sich vielleicht über das lange Warten geärgert und eine andere Stellung gesucht. Pete, können wir nicht jetzt, da Großvater tot ist, eine Art Privattelefon zwischen dem Herrenhaus und dem Schofförhäuschen am Tor anlegen lassen?«

»Soll das heißen, daß keines vorhanden ist?« fragte Murray. »Geht das jedesmal so vor sich, wenn ein Fremder am Tor auftaucht? Und wie hat denn der alte Herr seinen Wagen bestellt, wenn er ihn brauchte? Mußte da Frau Smith oder Sophie jedesmal herunterlaufen?«

»Nun, es kommen natürlich nur selten Fremde ans Tor, die hereingelassen werden sollen«, sagte Camilla. »Und es ist auch ein elektrisches Läutewerk da, mit dem Großvater zu klingeln pflegte: einmal nach Nelson selbst und zweimal, wenn er seinen Wagen haben wollte. Und ich klingle jetzt dreimal nach dem meinen. Außerdem hat Nelson noch ein eigenes Telefon, so daß wir ihn auch auf diese Weise erreichen können – aber es ist ein Nebenanschluß, mit etwa fünfzehn Teilnehmern, und meist besetzt. Großvater wollte es einfach nicht haben, daß sie uns anriefen. Sie mußten entweder Ruth herschicken oder selbst herkommen. Das ist natürlich lästig für sie und schrecklich unbequem.«

Pete sagte, daß er morgen für die Anlage eines Privattelefons sorgen würde, und erging sich in lauten Betrachtungen über die merkwürdige Art des alten Lindstrom, der seine Leute so unnötig schikanierte. Camilla gab ihm recht, aber im Geiste war sie bereits weit weg. Sie mußte in die Küche eilen und Stimmung für den neuen Diener machen, sonst konnte er ihr zuvorkommen.

Tatsächlich schien Fixigkeit eine der hervorragendsten Charaktereigenschaften dieses neuen Faktotums zu sein. Man saß noch nicht fünf Minuten am Frühstückstisch, als er in einer weißen Jacke auftauchte und Sophie die Bedienung abnahm. Dabei trat er so geschickt auf, als ob er die Stellung schon einen Monat inne gehabt hätte. Er sah seriös und dabei doch ziemlich jung aus, hörte auf den Namen Karl und sprach mit einem unverkennbaren skandinavischen Akzent. Sowohl Camilla als Pete hatten im Nu völlig vergessen, daß er etwas anderes war, als er zu sein schien. Da stellte er plötzlich eine Frage, die sie an die tatsächliche Lage der Dinge erinnerte. Er erkundigte sich, ob Herr Lindstrom sein Frühstück aufs Zimmer wünsche.

Camilla, die nicht wußte, was sie darauf antworten sollte, sah Pete hilfesuchend an. Er erriet sofort ihre Gedanken. Es mußte ihrem Bruder einen nicht gelinden Schrecken einjagen, wenn plötzlich ein fremder Mann in seiner Schlafzimmertür erschiene. Aber was war da zu tun?

»Gehen Sie lieber hinauf und fragen Sie ihn selber«, entschied Murray plötzlich, und nachdem der Mann das Zimmer verlassen hatte, erklärte er Camilla: »Eric hat so lange in Frankreich gelebt, daß er sicherlich daran gewöhnt ist, daß man ihm sein Frühstück aufs Zimmer bringt. Die Flugzeuge werden ihn auch längst geweckt haben.«

Er hatte sich bewußt Mühe gegeben, ohne Groll über die Flieger zu sprechen, aber irgend etwas in seinem Tonfall hatte Camilla aufhorchen lassen. Sie lachte nicht auf und schnitt ihm auch kein Gesicht, wie man von ihr hätte erwarten können. Im Gegenteil, sie blieb vollkommen ernst, trank ihren Kaffee ganz ruhig zu Ende und lehnte sich in den Sessel zurück.

Er fühlte unwillkürlich, daß jetzt endlich eine Aussprache folgen würde, die er schon wochenlang, seit sie zum ersten Male allein geflogen war, vorausgesehen hatte. Er wußte, sie würde ihn jetzt bitten, sie einmal auf einem Fluge zu begleiten. Er hatte eine Antwort auf diese Einladung so lange einstudiert, bis er sich jeden Satz genau eingeprägt hatte. Er mochte bis zu einem gewissen Punkt Wachs in ihren Händen sein, aber über diesen Punkt hinaus war er ehern. Ein kleines Flugzeug mit offener Kabine und Camilla am Steuer ging einfach über das ein für allemal festgesetzte Maß. Alle Mittel, die sie nun anzuwenden gedachte, ihre Schmeicheleien, ihr Spott, ihre Versuche, ihn durch Zärtlichkeit umzustimmen, würden genau so vergeblich sein, als wenn sie damit etwas bei einem alten Walroß erreichen wollte. Sie wollte das alles lieber für Dinge aufsparen, die durchzusetzen wirklich in ihrer Macht stand. Das wollte er ihr sagen.

Camilla jedoch mußte, um diese Rede zu ermöglichen, sich auf die Armlehne seines Sessels setzen, ihre Wange an der seinen reiben, an ihm wie ein Pony das Näschen schubbern, sein Haar zerzausen, ihn auslachen, ihn beschimpfen und ihn beschwören, nicht ein so fader Geselle zu sein. Jetzt aber tat sie nichts dergleichen. Sie saß ganz still in ihrem Sessel und sah ihn nicht einmal an, sondern starrte zum Fenster hinaus. Ihr Gesicht war sehr ernst, und die natürliche frische Farbe war von ihren Wangen gewichen, so daß sie ihm ziemlich blaß erschien. Als er merkte, daß sie etwas sagen wollte, überkam ihn ein wildes Verlangen nach Verstärkung, nach der Gegenwart irgendeines Dritten im Zimmer, und wäre es auch nur der neue Diener.

Und dann sagte sie: »Du mußt die Fliegerei nicht zu sehr hassen, Pete.«

»Das tue ich doch gar nicht«, erwiderte er, aber sein Leugnen kam ihr fast ebensowenig überzeugend vor wie ihm selber, denn sie überhörte es einfach.

»Großvater haßte sie allerdings auch«, fuhr sie fort. »Er wußte aber nur, daß die Maschinen einen furchtbaren Krach machten und daß er ihnen nicht verbieten konnte, über seinem Hause zu fliegen. Er hatte Angst, sie könnten abstürzen oder ihm etwas auf den Kopf abwerfen. Ich glaube, das ist ein ganz natürliches Gefühl, wenn man sich seinen Standpunkt über die Fliegerei nur von der Erde aus zurechtlegt.«

Er hätte jetzt darauf hinweisen können, daß er schon einmal einen Flug unternommen hatte. Als sie zum ersten Male geflogen war, damals, von Berlin nach Amsterdam, war er ja bei ihr gewesen, und auf Grund dieser Erfahrung mußte zwischen seinem Standpunkt und dem des alten Lindstrom ein Unterschied gemacht werden. Aber diesen Hinweis, das wußte er, würde sie als eine Ausrede betrachten. Sie hatte ihm oft genug gesagt, daß die Maschinen mit den großen Kabinen ganz anders waren als ihre; man gewann durch einen Flug in ihnen bei weitem nicht den gleichen Genuß. Er aber wollte ihr gegenüber, wenigstens solange ihr Gesicht diesen tiefernsten Ausdruck beibehielt, keine Ausreden gebrauchen.

Er ahnte jedoch bereits, während ihr Schweigen sich über Sekunden ausdehnte, daß sie nicht einmal die Absicht hatte, ihn zu bitten, mit ihr in ihrem kleinen Flugzeug aufzusteigen, geschweige denn, ihn dazu drängen oder beschwätzen würde. Und in einer atemberaubenden Erkenntnis begriff er auch, warum. Sie sah in ihm jetzt an diesem Frühstückstisch nicht mehr den ältlichen Vormund, den sie mit Schmeicheleien betören mußte, wenn sie etwas durchsetzen wollte, sondern einen Gefährten, einen ebenbürtigen Kameraden – und das war eine Ehre, die sie ihm damit erwies – mit dem sie ein Erlebnis teilen wollte, ein Erlebnis, das eine tiefe Bedeutung für sie hatte.

Ein Gefühl, als wäre er mit knapper Not einer Gefahr entronnen, über deren Wesen er sich freilich nicht erst lange klarzuwerden versuchte, lähmte seine Lippen und machte seine Kehle trocken, aber sobald er wieder sprechen konnte, sagte er: »Ich hätte gern einen ähnlichen Einblick in die Dinge erlangt, wie du, Camilla – soweit es einem Passagier eben möglich ist. Wann willst du mich mitnehmen?«

Nicht einmal jetzt, obwohl der Glanz und die Farbe in ihr Gesicht zurückkehrten, erklärte sie, daß er ein prächtiges altes Haus sei, und setzte sich nicht auf die Armlehne seines Sessels, um ihn mit Liebkosungen zu belohnen. Sie fragte einfach: »Heute morgen vielleicht, Pete? Jetzt gleich? Dieser angenehme leichte Ostwind, der die Luft klärt, verspricht einen wundervollen Tag.«

Sie war noch immer ernst und etwas versonnen, eine neue Camilla für sein Empfinden, und er hatte fast ein wenig Angst vor ihr. Er machte keinerlei Witze, wie er es sonst zu tun pflegte, wenn er sich ihr zu diesem oder jenem Zweck auslieferte. Er versicherte nur kurz, daß jetzt die beste Zeit sei, die er sich für einen Flug denken könnte, und ging mit ihr in die Diele hinunter, wobei er im Vorbeigehen seine Mütze vom Haken nahm.

Ihr kleines Auto wartete bereits vor der Haustür – sie mußte Nelson rechtzeitig verständigt haben, noch bevor sie sich an den Frühstückstisch gesetzt hatten –, und ohne jedes weitere Wort stiegen sie ein und fuhren davon. Frau Nelson öffnete ihnen das Tor – warum hatte sie nur ein so verständnisinniges Lächeln? – und dann waren sie draußen. Die Fahrt vom Haupttor bis zum Flugplatz dauerte kaum fünf Minuten.

Pete fühlte, daß es eine Menge Dinge gab, über die er nachdenken wollte, aber über seinen Geist hatte sich gleichsam ein Schleier gesenkt, der es ihm einfach unmöglich machte, klar über irgend etwas nachzudenken. Was ihn auffallenderweise nicht bedrückte, war der bevorstehende Flug in Camillas Flugzeug. Er hatte zwar ein banges Gefühl – zum mindesten verspürte er etwas wie Angst, hatte Atembeklemmung, Herzklopfen und die Empfindung unbeschreiblicher Leere unter dem Zwerchfell –, aber das alles hatte nichts mit dem Flug zu tun. Es entsprang ganz anderen Ursachen.

Camilla blieb versonnen. Sie fuhr den Wagen nicht mit dem gewohnten Schwung, obwohl sie die ganze Zeit beide Hände am Steuer hielt und starr geradeaus blickte. Als sie beide ausstiegen und den Flugplatz betraten, wies sie Murray auf ein kleines grünes Flugzeug hin, dessen Motor bereits lief, und sagte mit freudigem Besitzerstolz, daß dies ihre Maschine sei.

Sie äußerte sich über das Flugzeug mit tiefem Gefühl, aber sie streichelte weder seine schlanken Seiten noch sprach sie zu ihm, als wenn es lebendig wäre; sie trat nur näher, um es kühl und kritisch zu überprüfen und versuchte auch nicht, Murray zu irgendwelchen Begeisterungsausbrüchen zu verleiten.

Der Apparat war tatsächlich klein. Sein nächster Nachbar in der Reihe war ein riesiger Ford, der mit vielen Passagieren Dreißigminutenflüge machte, zu denen ein uniformierter Beamter Fahrkarten verkaufte. Neben diesem Luftriesen machte Camillas Flugzeug den Eindruck eines Weihnachtsspielzeugs. Aber ein staubig aussehender Mann in einem bräunlichen Kittel, der herausgekommen war, um Camilla bei der Nachprüfung der Maschine zu helfen, nahm es genau so ernst wie sie.

Camilla wechselte mit dem Mann einige Sätze über rein technische Dinge, und ihre Unterhaltung endete damit, daß sie sich entschloß, die bisherige Montierung ändern zu lassen. »Machen Sie es bitte so, daß Herr Murray hinten sitzen kann, Bill. Von dort hat man einen besseren Blick nach unten. Wechseln Sie bitte das Steuer aus.«

Und als der Mann nickte, nahm sie Pete am Arm und führte ihn beiseite. »Während er das erledigt, können wir unsere Fallschirme und Sturzhelme anlegen. Da ist Brown. Er wird dir zeigen, wie du das machen mußt.«

Das Umbinden des Fallschirms wurde für Murray recht peinlich. Das Riemenzeug schien blödsinnig kompliziert zu sein und war in der Tat gräßlich unbequem. Brown – Camillas erster Fluglehrer – brauchte einige Minuten, um Murray darin festzuhaken, und als die Arbeit bewältigt war, kam sich der arme Pete wie ein zusammengeschnürtes Huhn vor.

Dann erklärte Brown mit einem nach Petes Ansicht recht unangebrachtem Humor, wie man mit Fallschirmen umzugehen hat. »Es ist ganz einfach«, sagte er, neben ihm her gehend, als sie auf den Platz hinauswatschelten und sich durch eine Ansammlung von Schaulustigen drängten. »Wenn Fräulein Lindstrom Ihnen sagt, Sie sollen abspringen, reißen Sie den Sicherheitsgurt auf, klettern aus der Kabine und lassen sich über Bord fallen. Und dann zählen Sie bis sechs und ziehen kurz und heftig an diesem Griff. Das ist alles. Der Fallschirm nimmt Sie ganz von selbst unter seine Fittiche.«

Als Murray wieder zu Camilla trat, fragte er, ob man ihm das Tragen dieser Zwangsjacke nicht erlassen könnte. »Es wäre wesentlich bequemer für mich und genau so sicher. Denn wenn irgend etwas passiert, könnte ich sie doch nicht benutzen. Ich hätte nicht den Mut, abzuspringen.«

»Doch, den hättest du«, erwiderte Camilla, unmerklich lächelnd, aber noch immer ernst. »Denn ich könnte das Flugzeug nicht vor dir verlassen. Ich bin der Kapitän und müßte als letzte über Bord gehen.«

Dann tat er genau, was sie ihm befahl, und zwängte sich mit dem Fallschirm in den kleinen Rundsitz der hinteren Kabine. Als sie ihn sicher festgeschnallt und ein- oder zweimal den Gurt hatte aufmachen lassen, um sich zu vergewissern, daß er die nötigen Handgriffe richtig erfaßt hatte, sagte er: »Das soll mich wohl vor dem Herausfallen schützen, wenn du Loopings und dergleichen machst?«

»Es sind keine Kunststückchen für diesen Flug vorgesehen, Pete«, beruhigte sie ihn. »Ich habe sozusagen alle meine Eier in einem Korb. Und kein Korb mit Eiern«, fuhr sie mit einem Schmunzeln fort, »wurde je vorsichtiger getragen, als du getragen werden sollst.«

Anstatt gleich von ihrem Platz in der Reihe aufzusteigen, was sie mit Leichtigkeit hätte tun können, fuhr sie am Flugzeugschuppen vorbei bis zur äußersten Westgrenze des Flughafens, wo der mögliche Anlauf ausreichen mußte, um jeden beliebigen Gegenstand mit Flügeln in die Luft zu bringen.

Pete wußte dies natürlich nicht zu schätzen, und er saß sehr unbequem. Aber nicht einmal jetzt schalt er sich einen Narren, weil er sich in dieses Abenteuer gestürzt hatte.

Camilla riß das Flugzeug zur Seite und blickte sich um, aber nicht nach ihm, sondern rein sachlich, nur um den Himmel erst über ihrer rechten und dann über ihrer linken Schulter zu prüfen; das Geknatter des Motors, das schon vorher laut genug war, wurde jetzt doppelt so stark; Pete spürte, daß er plötzlich bequem saß, der Erdboden wich zurück, dann waren sie über dem Fluß und über der Lindstromvilla, und mit dem Gefühl wachsender Sicherheit ließ die Spannung seiner Muskeln nach.

Sie blieb mit ihm, wie er später feststellte, über eine Stunde in der Luft und verschaffte ihm durch ein Aufsteigen bis zur Höhe von gut fünfzehnhundert Meter zum ersten Male einen Rundblick auf den Landstrich, in dem er im großen und ganzen sein Leben verbracht hatte. Schon die kristallklare Sichtbarkeit aller Dinge, die dem Sonnentag und der Tatsache, daß Ostwind herrschte, zu verdanken war, hätte diesen Flug durch die Fülle der neuen Eindrücke zu einem wirklichen Erlebnis gemacht. Aber Murray übersah diese Dinge mehr oder weniger, denn seine Gedanken drehten sich immer noch hauptsächlich um Camilla.

Sehen konnte er von ihr, da sie tief in der vorderen Kabine saß, nur den kleinen Kopf im enganliegenden Leinenhelm. Hin und wieder drehte sie sich zwar um, um ihm etwas zuzurufen oder ihm etwas zu zeigen, was er sich ansehen sollte, aber was auf ihn den weitaus größten Eindruck machte, das war ihre sonst vollkommene Regungslosigkeit. Er konnte keine der Bewegungen, die sie zum Lenken des Flugzeugs machen mußte, auch nur andeutungsweise wahrnehmen. Aber dieses behelmte Haupt vorn war eben Camilla und wurde seinen kreisenden Gedanken zum Mittelpunkt.

In dieser neuen Verwandlung war es völlig unmöglich, in ihr noch ein Kind zu sehen. Das Benehmen Browns und des Monteurs, den sie mit Bill anredete, bewies das zur Genüge. Es war nichts Herablassendes oder Gönnerhaftes im Wesen der beiden jungen Leute gewesen. Man hatte Camilla offenbar ihrer Leistungen wegen als vollgültiges Mitglied in die Fliegerzunft aufgenommen.

Nun, war sie denn sonst in irgendeiner ihrer Beziehungen zum Leben noch ein Kind, oder hatte er nur an dieser Fiktion festgehalten, weil er es nicht ertragen konnte, sie aufzugeben? Natürlich hatte er gewußt, daß die Kindheit nicht ewig dauern könnte. Er hatte sogar in eifersüchtigen Stunden Zukunftsbilder heraufbeschworen, in denen sie zu ihm kam und ihm sagte, daß sie irgend jemand, der irgendwo in Südamerika lebte, heiraten wollte, oder irgend etwas ähnlich Vernichtendes mitteilen würde. Aber er hatte sie sich dabei stets imponierend und königlich vorgestellt. Und alle diese Dinge wurden in seiner Phantasie einem ganz alten, schon ziemlich gebeugten und sehr grauen Mann gesagt.

Das war aber natürlich sentimentaler Unsinn. Jene Zukunft war bereits da. Wie lange eigentlich schon? Und seit wann wußte Camilla, daß sie schon da war? Wann hatte sie zum erstenmal versucht, ihm zu zeigen, daß ihr altes Verhältnis zueinander nur noch eine leere Schale war, und daß sie beide, weil ihnen eine leere, bunte Schale nicht genügte, etwas Neues – und vielleicht Gefährlicheres beginnen müßten?

Jedenfalls wußte er jetzt, welcher Gefahr er heute früh mit knapper Not entronnen war. Wenn er über ihren nur zu ernst gemeinten Wunsch gelacht und nicht gespürt hätte, wag dieser Wunsch in Wirklichkeit bedeutet, hatte sie ihn leicht zu den liebgewordenen Andenken an ihre Jugend beiseite schieben können, und er hätte es nicht einmal gemerkt. Nun, das war eben nicht geschehen. Sie hatte ihm doch soeben erst selber gesagt, daß er gleichsam ihr »ganzer Korb voll Eier« wäre, und zwar in einer Weise, die bewies, daß auch das ihr Ernst war – wenigstens bis jetzt.

Den großartigsten Eindruck, den sie ihm bescheren wollte, hatte sie sich offenbar bis zuletzt aufgespart. Als sie etwa siebenhundertfünfzig Meter über dem Flugplatz waren, drosselte sie den Motor ab und glitt in einer großen Spirale in die Tiefe. Das Gefühl, das Murray dabei überkam, war so beseligend, daß er unwillkürlich aufhörte, zu philosophieren. Es überraschte ihn daher, daß Camilla, als sie wieder glücklich die Erde erreicht hatte, von ihrer Landung bitter enttäuscht war. Technisch – das heißt von Browns Standpunkt aus – fand sie diese Landung unter aller Kanone.

Es blieb ihm nicht ganz verständlich, was sie eigentlich sagte, da er im Dröhnen des Motors nur die Worte »mies« und »Schwanz nach oben« vernommen hatte, aber er reimte es sich selber zusammen, als sie ihn fragte, ob es ihm recht sei, wenn sie noch einmal aufstiege, nur um dann vorschriftsmäßig zu landen. Er nickte bereitwillig, sie gab Gas und sie erhoben sich von neuem. Und gleich darauf flogen sie über dem Anwesen der Lindstrom, und zwar etwa in der Höhe der Gebäude an der Flußwindung, aus deren Fenster er zuweilen auf die Straße hinauszusehen pflegte.

Sogar in der hinteren Kabine, aus der man angeblich einen besseren Blick in die Tiefe haben sollte, konnte er nicht erkennen, was unmittelbar unter ihnen war, aber auf einmal war es ihm, als ob Camilla zusammengezuckt wäre und nach unten starrte, und im nächsten Moment hatten seine Augen irgendwie ihren Blickpunkt verloren – er verspürte eine beängstigende Leere im Innern und merkte, daß der Erdboden plötzlich umfiel und langsam parallel mit der Seitenwand des Flugzeugs zu kreisen begann.

Der Gedanke, daß dies das Ende war, hatte ihn noch nicht so recht durchdrungen, als ihm klar wurde, daß Camilla vollkommen gefaßt, aber sichtlich erregt, auf irgend etwas am Boden zeigte. Und nun begriff er, daß sie, nur um besser sehen zu können, das Flugzeug auf die Seite gelegt hatte und es einen geschlossenen Kreis beschreiben ließ.

Murray sah einen Mann über die Rasenfläche laufen, der eilig einem Gebüsch zustrebte. Die Hast, mit der er sich fortbewegte, schien auffällig. Es sah so aus, als ob er keinen Hut aufhätte, sondern statt dessen einen leuchtenden Metallhelm trug. An sich konnte diese Beobachtung eine ganz harmlose Aufklärung finden, aber Camilla und Murray waren durch die Ereignisse der letzten Tage mißtrauisch geworden.

Sie konnten ihn nur ein paar Sekunden lang beobachten. Vermutlich war es Camilla nicht möglich, dieses Manöver noch länger auszudehnen, denn sie brachte den Apparat wieder in eine wagerechte Lage, und dann flogen sie weiter nach Osten und stiegen sehr hoch. Plötzlich drehte sich Camilla auf ihrem Sitz um, drosselte den Motor ab und schrie Murray eine Frage zu. Er konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber er hielt es für richtig, wiederum »Ja« zu nicken, da er annahm, daß sie umkehren und noch einen Blick in die Tiefe werfen wollte. Er hatte sich auch diesmal nicht geirrt: sie flog in einem weiten Bogen zurück.

Beim zweitenmal empfand Murray bei dem Manöver von vorhin nicht annähernd so viel Angst, und er konnte seine Aufmerksamkeit ganz der Erde widmen. Diesmal vermochte er den Flüchtling überhaupt nicht mehr zu entdecken. Aber gerade als Camilla sich anschickte, das Flugzeug wieder in seine Normallage zu bringen, erblickte Pete einen zweiten Mann, oder vielmehr einen kurz aufleuchtenden bunten Farbfleck, der so aussah, als läge ein Mann im Sportanzug auf dem Boden. Sollte das Eric sein? fragte sich Pete im stillen. In dem Anzug, in dem er gestern nachmittag die kleine Ruth erschreckt hatte?

Offenbar war Camilla inzwischen zu der Ansicht gekommen, daß es keinen Zweck hätte, noch ein drittes Mal umzukehren, denn, nachdem sie den Flugplatz umkreist hatte, ging sie zu einer diesmal anscheinend befriedigenden Landung nieder, hielt an ihrem Hanger, schaltete einen Ventilhebel um und stieg aus. Auch Murray streifte seinen Gurt ab und kletterte hinaus, aber er benahm sich dabei ziemlich steif und unsicher.

»Ich danke dir, Liebes«, sagte er dann zu Camilla. »Das war ein großartiges Erlebnis.« Es kam ihm selber sonderbar vor, daß er sich so ausdrückte, aber diese Worte waren ihm ganz unwillkürlich auf die Zunge gekommen.

Sie sah ihn gespannt, aber zugleich auch besorgt an. »Ich hätte dich nicht so ohne jede Warnung in diese Seitenlage bringen sollen«, meinte sie schließlich. »Das muß dir einen Heidenschreck eingejagt haben. Aber die Dinge dort unten sahen mir zu merkwürdig aus.«

»Du hast vermutlich auch niemanden erkannt.«

»Wer mag das nur gewesen sein, der so eilig durch den Garten lief? Hast du gesehen, was er auf dem Kopf hatte? Es blitzte wie ein Spiegeltelegraph. Sahst du ihn beim zweitenmal auch?«

»Nein. Du etwa?«

Sie nickte. »Er lag flach ausgestreckt auf der Mauer, und wollte wahrscheinlich auf die andere Seite hinabgleiten und das Grundstück auf diese Weise verlassen. Ich konnte leider nicht feststellen, wie er hinaufgekommen war, aber er muß wohl eine Leiter gefunden haben, die einer der Gärtner zum Beschneiden der Bäume benutzt hatte. Wahrscheinlich war es nur irgendein neugieriger Idiot, der sich den Schauplatz des Mordes ansehen wollte, und der irgendwie gestört wurde. Aber das Ganze machte doch einen recht sonderbaren Eindruck.

»Und der zweite Mann?« fragte Murray. »Kam der dir irgendwie bekannt vor?«

Camillas Augen wurden ganz groß. Sie hatte niemand weiter gesehen.

»Er lag ausgestreckt am Boden«, sagte Pete, »– oder es sah wenigstens so aus – und zwar nicht weit von der Stelle, an der wir zuerst den anderen davonrennen sahen. Mir fiel er eigentlich nur als ein weiß und orange leuchtender Fleck auf.«

»Das werden wohl der Pullover und die Schuhe gewesen sein«, mutmaßte sie. »Glaubst du, daß es Eric war?«

»Bill!« rief sie dem Monteur zu, der in diesem Augenblick aus dem Flugzeugschuppen herauskam und auf sie zuging. »Komm rasch mit! Ich starte wieder. – Nein, nicht du«, setzte sie hinzu, als Murray sich dem Flugzeug zuwandte. »Geh, leg deinen Fallschirm ab und fahre dann meinen Wagen nach Hause. Vielleicht brauchen wir ihn noch. Wir haben nichts zu befürchten, Pete. Was der Mann auch getan hat, ich sah ihn flüchten. Aber es wäre ein Unsinn, zwanzig Minuten zu vergeuden, auf die es jetzt vielleicht ankommt.«

Selbst wenn er einen Grund zum Abraten gefunden hätte, würde ihm das nichts genützt haben, denn sie saß schon wieder auf dem Führersitz, der Motor sprang knatternd an, und im nächsten Augenblick war sie weg.


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