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Der Kommissar macht Entdeckungen

Offenbar hatte die kurze Sammlung dem Anwalt nicht viel genutzt, denn Camilla rief, kaum daß sie ihn erblickt hatte, erschrocken: »Was ist los, Pete? Ist noch etwas Schlimmeres geschehen, als das, was ich bereits weiß?«

Er setzte sich zu ihr und legte, wie um sie zu beruhigen, seine freilich ziemlich zitternde Rechte auf ihr Knie. »Die Annahme, daß Lucretia geflohen sei, war ein Irrtum«, sagte er. »Wir haben sie gefunden.«

»Tot?« fragte Camilla. Und als er nickte, schrie sie auf: »Ermordet wie Großvater?«

»Durch einen Kopfschuß, genau so wie er«, bestätigte er leise. »Wir fanden ihre Leiche soeben in seinem Schlafzimmer, hinter der verschlossenen Tür. Sie war noch genau so gekleidet wie gestern beim Abendessen. Der Inspektor ist der Meinung, daß sie erst den alten Herrn erschossen und dann sich selber getötet hat. Aber er wird diese Ansicht nicht lange aufrecht erhalten können.«

»Warum nicht?« fragte Camilla. »Warum sollte er mit seiner Annahme nicht recht haben?«

»Zu viele Dinge sprechen dagegen«, erwiderte Murray. »Darunter auch die Lage der Pistole. Wir fanden die Waffe zwar in der Nähe ihrer rechten Hand, aber sie kann unmöglich so zu Boden gefallen sein. Außerdem haben wir festgestellt, daß der alte Herr auf der Geheimtreppe erschossen und dann an den Füßen ins Arbeitszimmer geschleift worden ist. Das hätte die Parsons niemals getan. Es hätte doch keinen Sinn für sie gehabt, sich erst so große Mühe zu machen und dann wieder nach oben zu gehen, um sich selbst in seinem Schlafzimmer zu erschießen. Darüber hinaus habe ich allen Grund anzunehmen, daß jemand, noch als wir bei Tisch saßen, ins Haus eingedrungen ist. Dein Großvater hatte auf einmal das Gefühl, daß es ziehe, und ließ Fräulein Parson hinausgehen, um das vermutlich irgendwo aufgegangene Fenster zu suchen und zu schließen. Als sie zurückkam, war sie wie umgewandelt und seltsam erregt. Ich nehme an, sie hat irgendeinen Bekannten getroffen, irgend jemand, der sich ins Haus eingeschlichen hatte und den sie dann irgendwo versteckte, um sich später in aller Ruhe mit ihm aussprechen zu können. Diese Version würde jedenfalls eine ganze Reihe seltsamer Dinge zumindest erklärlich erscheinen lassen.«

»Was sind das für Dinge?« fragte sie.

»Das werde ich dir gleich sagen. Vorerst aber will ich mit dir über etwas ganz anderes sprechen. Camilla, ich glaube, ich habe die Mordwaffe wiedererkannt?«

»Wiedererkannt?«

Sie riß die Augen ganz weit auf. »Du willst doch nicht etwa sagen, daß es meine Pistole ist, Pete? Die Pistole, die Großvater mir weggenommen und versteckt hatte?«

»Hatte er das? So! Ja, es ist diese Pistole.«

»Hast du dem Inspektor gesagt, daß sie mir gehört?«

Er schüttelte verneinend den Kopf. »Vielleicht hätte ich es tun sollen, aber ich war noch mit mir selber nicht ganz ins reine gekommen.«

Sie sprang ruckartig auf und straffte ihren Körper. »Komm«, sagte sie kurz. »Je früher wir es ihm erzählen, desto besser ist es.«

Wenn Camillas Temperament mit ihr durchging, half kein noch so gütiges Zureden. Man mußte sie entweder mit Gewalt zurückhalten, oder ihr einfach nachgeben, und Murray entschied sich wie so oft auch diesmal für das letztere. Er folgte ihr wortlos durchs ganze Haus, bis sie in Lucretias Zimmer den Inspektor entdeckten, der gerade noch einmal Sophie ins Verhör nahm.

»Das Zimmer sieht doch noch genau so aus wie heute früh, als Sie heraufkamen, um Fräulein Parsons zum Frühstück zu holen, nicht wahr?« fragte er.

»Jawohl, Herr Inspektor.«

»Waren alle Schubladen aufgerissen? Stand die Schranktür offen?«

Sophie stammelte eine verneinende Antwort. Sie selbst hatte in den Schubladen und im Schrank nachgesehen, um festzustellen, ob Fräulein Parsons ihre Sachen gepackt hätte und für immer fortgegangen wäre.

»Haben Sie sich auch aufs Bett gesetzt?«

Irgend jemand hatte dort gesessen, das war zu sehen.

»Nein, Herr Inspektor«, erwiderte sie, »das habe ich nicht getan. Ich sah hier nur schnell nach und ging gleich wieder hinunter, um alles der Köchin zu erzählen.«

»Nun, es wundert mich nicht, daß Sie glaubten, sie hätte sich aus dem Staube gemacht.«

Sophie erfaßte sofort den tieferen Sinn der Worte des Inspektors und rief: »Sie meinen also, daß sie nicht fort ist? Ist sie noch hier?«

»Wir wissen, wo sie ist«, erklärte Hopkins. »Aber gehen Sie jetzt. Ich habe im Augenblick keine weiteren Fragen an Sie zu stellen.«

Inzwischen hatte er sich umgeblickt, und seinem wachsamen Auge war es nicht entgangen, daß Camilla von der Mitteilung, daß Fräulein Parsons Aufenthalt bekannt sei, keineswegs überrascht war. Leise fragte er Murray: »Sie haben ihr wohl alles bereits erzählt?«

Aber noch ehe Murray nicken konnte, ergriff Camilla selber das Wort.

»Pete glaubt, die Mordwaffe wiedererkannt zu haben«, sagte sie. »Er denkt, es sei die Pistole, die er mir vor zwei Jahren zum Scheibenschießen geschenkt hatte. Wenn Sie mir einmal die Waffe zeigen wollten, könnte ich Ihnen mit Bestimmtheit sagen, ob er recht hat oder nicht.«

»Ich möchte sie vorläufig so liegen lassen, wie wir sie gefunden haben«, entgegnete der Inspektor. »Sehen Sie doch inzwischen nach, ob Ihre Waffe noch dort ist, wo Sie sie aufbewahren.«

»Dort kann sie nicht sein«, gab Camilla zurück. »Ich hatte sie nur kurze Zeit, dann nahm mein Großvater sie mir weg und versteckte sie irgendwo, so daß ich sie seitdem überhaupt nicht mehr gesehen habe.«

»Sind sie sicher, daß nicht Fräuleins Parsons sie genommen hat?«

»Nein, damals war sie doch gar nicht hier. Und außerdem sagte mir Großvater selber, daß er die Waffe genommen und eingeschlossen hätte.«

»Haben Sie irgend jemand erzählt, daß er sie Ihnen weggenommen hat? Zum Beispiel – Herrn Murray?«

»Nein«, erwiderte Camilla. »Ich kehrte gleich darauf ins Pensionat zurück und vergaß die ganze Geschichte.«

»Soweit ich die Dinge überblicken kann«, bemerkte der Inspektor, der sich nach kurzem Nachdenken wieder Murray zuwandte, »deckt sich auch das mit der Theorie, daß niemand sonst als diese Parsons die Waffe benutzt hat. Wahrscheinlich bewahrte der alte Herr die Pistole in jenem Geheimfache auf, und sie hat sie dort gestern nachmittag beim Nachkramen gefunden. Jedenfalls wüßte ich keine andere Rekonstruktion, die so trefflich zu allen uns bis jetzt bekannten Tatsachen paffen würde. Die beiden Fenster im Arbeitszimmer waren und sind auch jetzt noch geschlossen, und die beiden Türen, die zu seinem Schlafzimmer oben und die Herrenzimmertür zur Diele unten, waren gleichfalls zu. Sie hatte gestern abend Ihr Gespräch mit Herrn Lindstrom belauscht, Herr Murray, und wußte auf diese Weise, daß er ihr nicht mehr vertraute und sie entlassen wollte. Und so suchte sie Streit mit ihm und schoß ihn im Verlauf der Auseinandersetzung nieder.«

Es mußte ihm aber, schon während er sprach, klar geworden sein, daß Murray seine Meinung nicht teilte, und so fuhr er einschränkend fort:

»Diese Geschichte erklärt allerdings nicht den Zustand, in dem sich das Zimmer befindet. Niemals hätte Fräulein Parsons selbst es in eine so große Unordnung gebracht, und soviel ich bisher weiß, ist überhaupt niemand in diesem Hause, dem man etwas Ähnliches zutrauen könnte. Oder sind Sie vielleicht in der Lage, uns nach dieser Richtung irgendeinen Wink zu geben?« fragte er plötzlich Camilla.

Bei dieser unerwarteten Frage errötete Camilla und zögerte mit der Antwort. Aber der Inspektor hatte sie offenbar gar nicht überrumpeln wollen, denn sofort setzte er wie zur Erklärung hinzu: »Ich frage ganz allgemein, ohne besonderen Bezug auf die gestrige Nacht, die Sie ja wohl überhaupt nicht zu Hause verbracht haben.«

»Jawohl«, bestätigte Camilla. »Ich war die ganze Nacht nicht zu Hause.«

Murray zuckte zusammen. Dieser Satz erschien ihm recht unbedacht, und auch der Inspektor merkte auf und sah Camilla gespannt an. Aber Camilla fuhr unbekümmert fort: »Niemand von uns mochte Fräulein Parsons besonders gut leiden, und ich glaube, wir trauten ihr alle nicht recht. Ich bestimmt nicht! Ich hatte stets das Gefühl, daß sie Großvater irgendwie übertölpeln wollte. Ihn etwa heiraten und so. Sie verstehen schon. Aber nie wäre es mir eingefallen, ihr Zimmer zu durchsuchen, und ich wüßte nicht, aus welchem Grund irgend jemand von den Hausangestellten auf diesen Gedanken gekommen sein sollte. Ich glaube nicht, daß es jemand vom Personal war.«

»Also muß es Ihrer Ansicht nach ein Fremder gewesen sein?« fragte Hopkins.

Murray wünschte, Hopkins hätte diese Frage an ihn gerichtet. Der Inspektor schien Camilla allmählich in einer den Anwalt beunruhigenden Weise ins Kreuzfeuer zu nehmen.

»Hm – vermutlich, ja«, gab Camilla zögernd zu.

»Eigentlich aber«, entgegnete der Inspektor, »spricht doch alle Wahrscheinlichkeit gegen einen Fremden. Dieses Anwesen hier ist von einer hohen Mauer umgeben, den einzigen Zugang bildet ein ständig verschlossenes Tor; und außerdem wird es die ganze Zeit von einer vertrauenswürdigen Person bewacht. Das bedeutet natürlich keineswegs, daß ein Unbefugter nicht dennoch eindringen könnte, aber glaubhaft scheint mir das gerade nicht zu sein.«

Camilla holte tief Atem und gab sich wieder einen Ruck.

»In der vergangenen Nacht oder heute ganz früh ist bestimmt ein Fremder hier gewesen«, erklärte sie. »Er muß mit einem Flugzeug gekommen und das Grundstück noch zu einer Zeit wieder verlassen haben, als der Tau noch auf dem Grase lag. Sind Ihnen denn die Spuren der Maschine auf der Wiese nicht aufgefallen? Pete und ich haben sie ganz deutlich gesehen.«

»Hm … Eigentlich hätte ich ja auch etwas davon gemerkt haben müssen«, meinte Hopkins. »Ich bin ja knapp eine halbe Stunde vor Ihnen gekommen.«

Er streute diese Worte ganz harmlos ein, aber es lag in ihnen ein versteckter Sinn, der, ganz gleich, ob eine Absicht dahinter steckte oder nicht, den Anwalt noch unruhiger werden ließ.

Wollte der Inspektor Camilla zu verstehen geben, daß sie ihre Glaubwürdigkeit keineswegs erhöhte, wenn sie ihm Dinge erzählte, die er so leicht von selbst hätte entdecken können?

Hopkins machte wieder eine Pause, um seine Worte eine Weile wirken zu lassen. Und fast noch gelassener fuhr er dann fort: »Sie waren also gestern nicht zu Hause, wie mir gesagt worden ist. Aber ich glaube, Herr Murray hat mir noch nicht verraten, wo Sie gewesen sind.«

»Nein«, meinte Camilla, »das wird er Ihnen wohl nicht verraten haben, weil er es selbst nicht weiß. Er glaubt nur das, was ich ihm erzählt habe.«

Sie sah Murray schmerzlich lächelnd an und fragte: »Weißt du noch, was du sagtest, als ich dir mein nächtliches Abenteuer erzählt hatte?«

»Ich sagte dir, und das stimmt auch«, erwiderte Murray, »daß ich dir jedes Wort glaube.«

Camilla nickte und wandte sich wieder Hopkins zu. »Aber außerdem sagte er mir«, fuhr sie fort, »es sei ein Glück, daß ich kein Alibi für die letzte Nacht brauche.«

Was war nur mit dem Mädchen? fragte sich Murray verzweifelt. Wollte sie den Beamten etwa zu dem Glauben verleiten, daß sie dieses entsetzliche Verbrechen selber begangen hätte?

Nun erzählte sie auch dem Inspektor, was sie in der Nacht erlebt hatte, und zwar genau so wie schon einmal an diesem Morgen, kurz und bündig, ohne umständliche Erklärungen, aber auch ohne irgendeine wichtige Einzelheit auszulassen. Als sie aber zu Ende gesprochen hatte, fragte der Inspektor genau so wie Murray es getan hatte, warum sie, als sie sich für die Nacht festgenagelt sah, nicht nach einem Gutshaus Umschau gehalten und den Flugplatz nicht angerufen hätte. Und als sie auch jetzt ihr Verhalten mit der bedrohlichen Leidenschaft der Kühe für Flugzeuglack zu erklären ersuchte, sah Murray, wie im Gesicht des Polizeibeamten ein stahlharter Ausdruck feindseliger Ungläubigkeit erschien.

Auch Camilla war diese Veränderung nicht entgangen. Da aber verlor sie jede Selbstbeherrschung.

»Erledigt!« rief sie mit einem zornigen Aufbrausen, das Murray so gut kannte. »Verhaften Sie mich und sperren Sie mich ein.«

Der Inspektor war ein wenig verblüfft, aber er ließ sich nichts anmerken. »Wieso?« fragte er nur.

»Tun Sie doch nicht so! Sie glauben, ich beschwindele Sie, aber Sie können doch unmöglich annehmen, daß ich in so einem Augenblick zu meinem Vergnügen lüge. Sie müssen also der Ansicht sein, daß ich gestern nacht irgendwann, nachdem Pete schon fort war, mit meiner Maschine hergeflogen wäre, meinen Großvater wegen seines Geldes, und Lucretia der Vollständigkeit halber umgebracht hätte, und dann wieder fortgeflogen wäre. Dabei hätte ich aber jene Spuren auf dem Rasen hinterlassen, von denen ich vorhin natürlich nur deshalb gesprochen habe, weil ich befürchtete, daß Sie sie von selbst entdeckt hätten. Nun, und wenn Sie das alles glauben, dann müssen Sie mich doch verhaften. Haben Sie keine Handschellen bei sich?«

Ehe Hopkins antworten konnte, wurden sie unterbrochen. Es klopfte, und auf das »Herein!« des Inspektors trat ein Polizeibeamter ins Zimmer.

»Was gibt's, Walsh?« fragte Hopkins.

»Herr Ballard ist soeben mit zwei Assistenten und dem Totenbeschauer angekommen. Ich sollte es Ihnen melden.«

»Ich komme gleich hinunter«, fertigte Hopkins ihn kurz ab und wartete, bis die schweren Schritte des Beamten auf der Treppe verklungen waren. Erst danach wandte er sich wieder Camilla zu. Vermutlich war ihm die Unterbrechung sehr gelegen gekommen und hatte ihm genügend Zeit zum Überlegen gelassen.

»Mein liebes Fräulein«, sagte er, »ich habe nicht den leisesten Verdacht, daß Sie irgend jemand getötet haben, aber das, was Sie von den Kühen sagten, hatte mich für einen Augenblick verblüfft. Sie müssen mir das schon verzeihen. Ihrem Vormund kamen diese Dinge anscheinend auch ein wenig spaßig vor. Und jetzt darf ich Sie wohl bitten, das Anwesen vorerst nicht ohne meine Erlaubnis zu verlassen. Wir werden Sie so wenig wie möglich belästigen.« Dann nickte er kurz und ging aus dem Zimmer. Einen Augenblick später hörte man, wie er unten in der Diele die Neuangekommenen begrüßte.

»Entschuldige, daß ich aus dem Häuschen geriet, Pete«, sagte Camilla. »Ich beginne jetzt zu verstehen, warum manche Menschen falsche Geständnisse ablegen. Dann hört man wenigstens auf, sie auf Schritt und Tritt zu beobachten.«

Ihm fiel im Augenblick nichts Tröstliches ein, aber er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie für eine Weile fest an sich. Bald darauf wurde sie ruhiger, machte sich los und wandte ihm das Gesicht zu.

»Ist schon gut, Pete«, sagte sie. »Aber ich möchte jetzt eins wissen: glaubst du, daß dieser Hopkins, oder wie er heißt, wirklich so dumm ist, wie er sich stellt?«

»Warum drückst du dich nicht klarer aus?« fragte Murray etwas ärgerlich. »Du kannst es doch, wenn du willst. Vermutlich willst du fragen, ob der Inspektor wirklich keinen von uns beiden verdächtigt oder nur so tut, in der Hoffnung, daß wir uns beim Versuch, ihm irgend etwas zu verheimlichen, von selbst verraten werden. Wolltest du das fragen?«

Mit leisem Lächeln rieb sie seine Hand an ihrer Wange und führte ihn dann zu einer freien Fensterbank, wo sie Platz nehmen und hinaussehen konnten.

»Du bist ein kluges Kind, Pete«, sagte sie. »Richtig! Genau das wollte ich wissen. Nun rücke gefälligst mit der Antwort heraus. Aber warum sprichst du immer von uns? Er kann ja gar nicht so ungeschickt sein, daß er auch dich verdächtigen könnte?«

»Ich bin der letzte, von dem man weiß, daß er deinen Großvater noch lebend gesehen hat. Ich war fast eine Stunde mit ihm allein eingeschlossen und sagte ihm, meiner eigenen Erzählung zufolge, einige Dinge, die ihm nicht gefallen haben. Er hat mir auch gezeigt, wie das Geheimfach in seinem Schreibtisch funktioniert, und du darfst nicht vergessen, daß der Inspektor annimmt, daß dort die Mordwaffe aufbewahrt wurde. Dennoch wird er mich wahrscheinlich eher für deinen Komplizen halten. Die Polizei prüft bei derartigen Kriminalfällen zunächst zweierlei: das Motiv und die Gelegenheit. Ich hatte eine durchaus passende Gelegenheit. Ich konnte alles in der Zeit erledigt haben, die ich bekanntlich mit deinem Großvater allein verbracht hatte, und kein Mensch im Hause hat ihn oder Fräulein Parsons seitdem lebend gesehen. Das könnte genügen. Sobald sich aber die Frage nach dem Motiv erhebt, werden die Herren in meinem Falle ziemlich enttäuscht sein. Du weißt, dein Großvater war mir ein wertvoller Klient, und mag er auch getan haben, was er wollte, es lag im großen und ganzen in meinem Interesse, ihn so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Du dagegen hattest sowohl einen Grund als auch die nötige Gelegenheit.«

»Ja, richtig, ich hatte einen Grund«, gab sie nachdenklich zu. »Ich war aus der Schule nach Hause gekommen, um, wie du weißt, Lucretia aus ihrer Stellung zu verdrängen und ihre Heirat mit Großvater zu verhindern. Du erinnerst dich doch wohl auch noch daran, daß ich gesagt habe, daß ich ihr nötigenfalls sogar etwas antun würde. Vermutlich könntest du das vor Gericht beeiden. Ich bekam ihre Stellung nicht, und ich mußte annehmen, daß es ihr doch noch gelingen würde, ihn zu heiraten. Da flog ich eben mit meiner Maschine heute früh, als der Tau noch auf dem Grase lag, hierher, schlich mich ins Haus …«

»Wie hast du denn das angestellt?« unterbrach Murray. »Du hattest doch keine Schlüssel.«

»Ich kroch durch das Fenster ins Herrenzimmer hinein. Als Nelson kam, war die Jalousie hochgeschoben. – Oh, aber das Fenster selbst war doch geschlossen, nicht wahr?«

»Vielleicht hast du es selbst abgeriegelt, ich meine, nachdem du eingestiegen warst«, regte Murray an.

»Ja, natürlich«, pflichtete sie ihm bei. »Dann fand ich im Geheimfach meines Großvaters die Pistole. Großvater hörte mich, kam die Geheimtreppe herunter, und da blieb mir nichts übrig, als ihn zu erschießen. Daraufhin begab ich mich nach oben und erschoß auch noch Lucretia. Nach vollbrachter Tat kam ich hierher in dieses Zimmer, um festzustellen, ob irgendwelche – nun, du weißt doch – Dokumente und dergleichen da wären, und kletterte aus diesem Fenster an der Regenrinne auf das Blechdach dort hinunter – das habe ich doch schon mehr als einmal getan –, setzte mich wieder in mein Flugzeug, flog eine Weile herum, kam schließlich in den Flughafen zurück.«

Die kühle Überlegenheit, die sie bei dem Erfinden dieser Fabel zu bewahren versucht hatte, war ihr schließlich doch verlorengegangen. »Pete«, keuchte sie zuletzt, »bist du wirklich fest davon überzeugt, daß die Dinge sich nicht tatsächlich so abgespielt haben?«

»Unbedingt«, beruhigte er sie. »Der Gegenbeweis ist auch nicht einmal allzu schwer. Wenn du heute morgen hier warst und die Tat begangen hast, wie willst du es dann erklären, daß die Ermordeten noch in denselben Kleidern steckten, die sie gestern beim Abendessen anhatten? Und wenn du hierher aus dem Zimmer deines Großvaters durch die Diele gekommen warst, wie hast du dann die Tür hinter dir zugesperrt? Es ist doch kein Patentschloß an dieser Tür! Du hättest dazu den richtigen Schlüssel benützen müssen, und dieser Schlüssel steckt auch jetzt noch von innen im Schlüsselloch. Und außerdem lag die Pistole gar nicht im Geheimfach. Dein Großvater bewahrte sie nicht dort auf. Ich weiß es, weil sie nicht da war, als er das Fach vor mir öffnete, und er sagte mir, daß ihm nichts fehlte.«

Ein langer bebender Seufzer der Erleichterung entfuhr ihrer Brust.

»Nun, nachdem wir mit diesem Unsinn fertig sind«, fuhr er fort, »will ich dir offen sagen, was ich von Hopkins halte. Ich glaube, daß er mehr entdeckt hat, als er uns erzählt. Wahrscheinlich wußte er schon, bevor er dich zu sehen bekam, daß du eine Fliegerin bist und deine Fliegerei vor dem Großvater geheimgehalten hast. Er wußte oder erriet wahrscheinlich auch, wie dein Verhältnis zu Fräulein Parsons gewesen war. Er hatte vermutlich von irgendeiner der Hausangestellten erfahren, daß du die ganze Nacht nicht zu Hause gewesen bist und niemand über deinen Verbleib Bescheid wußte. Schließlich wird er als scharfer Beobachter sicherlich gleich gemerkt haben, daß ich vernarrt genug in dich bin, um jeden Schwindel aufzutischen, sofern er dich nur entlasten könnte. Das alles zusammengenommen ergibt natürlich ein Gesamtbild, das ihm die Beobachtung von uns als lohnend erscheinen läßt. Deshalb ist er von seiner üblichen Methode abgewichen, um – wie ich annehme – auf diese Weise unsere Wachsamkeit abzulenken. Wie ich vermute, wird er auch gleich bemerkt haben, daß ich deine Pistole auf den ersten Blick wiedererkannt hatte, und ich sehe jetzt ein: es war ein grober Fehler, daß ich es ihm nicht gleich gesagt habe. Er wird uns wohl sein Märchen vom Mord und Selbstmord der Parsons nur deshalb aufgetischt haben, weil er glaubte, wir würden ihm irgend etwas verheimlichen oder vorflunkern und ihm so auf die richtige Spur helfen. Ich bin überzeugt, daß wir dauernd beobachtet werden, ich genau so scharf wie du, wenn auch vielleicht nicht so auffällig. Wir müssen also alle Heimlichkeiten fallen lassen und genau so auftreten wie zwei Reklamevorführer in einem Schaufenster, bis man uns durch die Entdeckung des wirklichen Mörders aus unserer Zwangslage befreit. Deshalb wollen wir es uns zum Grundsatz machen, jede Frage wahrheitsgetreu zu beantworten, gleichviel ob diese Wahrheit für uns gute oder schlechte Folgen haben kann.«

»Schön. Ich will es versuchen, Pete«, stimmte sie kleinlaut zu. »Aber angenommen, Pete, sie entdecken den Mörder nie. Und angenommen, die Indizien …«

»Durch Indizien kann ein Unschuldiger nicht überführt werden«, fiel er ihr scharf ins Wort. »Die Fingerabdrücke auf der Pistole, sofern sie welche finden, werden nicht von dir sein, und die Fußspuren im Herrenzimmer stammen ebensowenig von dir.«

Camilla hörte ihm schon wieder nur halb zu. Ihre Aufmerksamkeit war bereits von neuem abgelenkt. »Was meinst du wohl, was sie jetzt von uns wollen?« fragte sie. »Dieser Motorradfritze kommt schon wieder herauf.«

Sie hatte den Mann richtig erkannt. Überraschenderweise wirkte das, was er ausrichten mußte, wie ein Echo dessen, was Murray soeben gesagt hatte. Der Inspektor bat sie beide, zur Abnahme ihrer Fingerabdrücke ins Eßzimmer zu kommen.

»Es ist dabei nichts Beunruhigendes oder Krankendes«, sagte Hopkins, als sie vor ihm erschienen. »Das geschieht nur zu Vergleichszwecken.«

Die darauf folgende Prozedur schien Camilla nicht weiter aufzuregen. Sie zeigte nur eine ganz natürliche Neugierde hinsichtlich des Verfahrens und der Ergebnisse, aber nicht mehr. Murray sah ihr übrigens deutlich an, daß die streng sachliche Weise, in der die Fingerabdrücke untersucht wurden, sie ein wenig enttäuscht hatte. Vermutlich hatte sie obendrein gehofft, daß der Sachverständige schließlich erklären würde: »Nun, Sie sind auf keinen Fall diejenigen, die wir suchen.«

Ihren ganzen Mut mußte sie aber zusammennehmen, als Hopkins sich an Murray wandte und sagte: »Wenn Fräulein Lindstrom Sie für eine Weile entschuldigt, möchte ich Sie bitten, mit mir ins Arbeitszimmer zu kommen.«

Sie unterdrückte die schon auf ihren Lippen schwebende Bitte, man möchte sie mitnehmen, besann sich eines Besseren, nickte zustimmend und schlich tiefbekümmert in die Diele hinunter. Von dort aus ging sie weiter, bis sie allmählich auf die Wiese kam.

Im Arbeitszimmer angelangt, konnte Murray von feinem Platz beobachten, wie sie sich dort bückte, als ob sie irgend etwas suchte. Vermutlich, sagte er sich, will sie feststellen, ob noch die Flugzeugspuren zu sehen sind. Niemand schien sich um sie zu kümmern, aber wahrscheinlich wurde sie dennoch von irgend jemand beobachtet.

Es war Murray nicht ganz klar, was Hopkins hier im Arbeitszimmer von ihm wollte. Bisher hatte er ihn lediglich mit Ballard bekannt gemacht und ihn, auf den Sessel deutend, in dem er gestern abend während des Gesprächs mit Lindstrom gesessen hatte, gebeten, Platz zu nehmen.

»Sicherlich«, dachte Murray im stillen, »hat man mich nur hergelotst, um mich von Camilla zu trennen.«

Die Leiche des alten Lindstrom war inzwischen aus dem Herrenzimmer entfernt worden.

Murray paßte gut auf und versuchte das, was er von einer Unterhaltung zwischen Hopkins, Ballard und den anderen Beamten aufschnappen konnte, zu einem Bild zu formen. Die Herren hatten nur sehr spärliches Material an Fingerabdrücken zusammenbekommen, sowohl im Arbeitszimmer als auch in den oberen Räumen. Unter denen aber, die sie hatten, war kein einziger, der nicht von Lindstrom, Lucretia oder Murray stammte. Das Bezeichnende war jedoch, daß man an den wichtigsten Flächen, an den Türklinken, auf der Vorderseite des Geheimfachs und auf dem Griff der Pistole, überhaupt keine Fingerabdrücke gefunden hatte. Hier mußte jemand alles recht sauber ab gewischt haben.

Diese letzte, äußerst bedeutsame Tatsache stieß, wie man allgemein feststellte, die Vermutung um, daß Fräulein Parsons den alten Herrn erschossen und dann Selbstmord begangen hätte. Wäre sie wirklich die Täterin gewesen, dann hätte man ihre Fingerabdrücke auf dem Griff der Pistole gefunden. Allerdings konnte sie, wenn sie ihren Chef vorsätzlich ermordet hatte, Handschuhe angehabt oder den Pistolengriff mit einem Taschentuch umwickelt haben. Den Selbstmord hatte sie dann vielleicht in einem plötzlichen Verzweiflungsanfall begangen, ohne diese Schutzhülle abzustreifen. In diesem Falle aber wäre ja die Leiche behandschuht gewesen, öfter man hätte irgendwo in der Nähe das Taschentuch gefunden. Nein! Die Ergebnisse der Untersuchung sprachen gegen diese Annahme.

Die Sachverständigen schienen sich aber nicht darum zu kümmern, ob ihre Entdeckungen ein klar verständliches Bild ergaben; im Augenblick war es ihnen nur um Tatsachen zu tun, um Tatsachen und um die immer noch frischen Spuren. Sicherlich hatten sie ganz recht. Aber Murray drängte es, zusammenfassend zu denken. Für eine Weile jedoch hatte ihn das Entsetzen vor dem seit dem vergangenen Abend Geschehenen so stark gelähmt, daß es ihm unmöglich war, irgend etwas klar zu sehen oder einen Ausgangspunkt für ein methodisches Vorgehen zu finden. Da kam ihm ein Zufall zu Hilfe. Ein Windstoß trieb den Nebel plötzlich auseinander, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Luft im Zimmer war so dick vom beißenden Rauch des Blitzlichtpulvers, daß man schließlich das Fenster öffnen mußte. Der frische Wind, der nun hereinwehte, erinnerte Murray unwillkürlich an den Luftzug, der Lindstrom veranlaßt hatte, Lucretia hinauszuschicken, um die Ursache dieses Zuges zu finden. Und die Erinnerung daran wurde endlich zum Ausgangspunkt, den Murray brauchte! Die Kette der Ereignisse, die zu dem Doppelmord geführt hatte, mußte ja schließlich einen bestimmbaren Anfang haben.

Hatte das Fenster während des ganzen Abendessens offen gestanden? Das war natürlich möglich, indessen nicht sehr wahrscheinlich. Bestimmt wäre die hochgezogene Jalousie, die heute morgen dem Töchterchen des Schofförs aufgefallen war, auch von Lindstrom nicht übersehen worden, zumal er hier im Dämmerlicht gesessen und auf die für die Abendmahlzeit festgesetzte Zeit gewartet hatte. Als aber Fräulein Parsons hereinkam, um das Fenster zu schließen, mußte es draußen schon ziemlich dunkel gewesen sein, und so war es leicht möglich, daß sie die veränderte Lage der Jalousie nicht bemerkt hatte.

Das alles deutete, ohne freilich etwas zu beweisen, entschieden auf einen Fremden hin. Es konnte auch ein gewöhnlicher Gelegenheitseinbrecher gewesen sein, der die Stunde des Abendessens gewählt hatte, um leichter ins Haus eindringen zu können. Das wäre, dachte Murray, für einen gewandten Mann ein Kinderspiel gewesen, denn neben dem sehr alten japanischen Efeu, der diesen Teil der Hausmauer überzog, hätte er noch eine vorspringende Mauerkante gefunden.

Lucretia, die zum Schließen des Fensters hereingekommen war, hatte es, wie ihr Daumenabdruck an der Fensterklinke bewies, tatsächlich zugemacht. Aber wo befand sich dann während dieser Zeit der Einbrecher? Nun, als er sie kommen hörte, konnte er natürlich auf demselben Wege, auf dem er eingedrungen war, wieder verschwinden. Vielleicht aber hatte er sich, namentlich wenn er im Hause Bescheid wußte, schon längst hinter der verkleideten Tür der Treppe versteckt oder war sogar diese Treppe ins Schlafzimmer des alten Herrn hinaufgegangen.

Aber keine dieser Kombinationen deckte sich mit den bekannten Tatsachen. Sie erklärten zum Beispiel nicht, warum Fräulein Parsons so lange nach der Ursache des Zuges gesucht hatte und warum ihre Stimmung nach der Rückkehr ins Eßzimmer so erstaunlich verändert war.

Im Arbeitszimmer mußte also irgend etwas vorgefallen sein, was sie aufgehalten und seltsam erregt hatte, und höchstwahrscheinlich war es die Begegnung mit dieser durchs Fenster eingestiegenen Person. Hätte Fräulein Parsons im Dunkeln einen völlig fremden Menschen gefunden, so hätte sie laut aufgeschrien oder wäre hinausgelaufen. Das hatte sie nicht getan. Folglich mußte es jemand gewesen sein, den sie sofort erkannt hatte, ein Mensch, dessen Auftauchen, wenn nicht gerade erwartet, so doch zumindest leicht erklärbar war.

Hopkins könnte jetzt geltend machen, daß diese Vorbedingungen ausgezeichnet auf Camilla paßten. Beim Anblick Camillas hätte Fräulein Parsons nicht aufgeschrien. Sie wäre stehengeblieben, um sich Camillas sonderbares Auftauchen leise erklären zu lassen, und vielleicht wäre diese Erklärung für sie so aufregend gewesen, daß dies allein ihren Stimmungsumschwung erklärt hatte. Aber was die gestrenge Obrigkeit auch über den Zeitpunkt des Auftauchens von Camilla denken mochte, gerade mit dem Abendessen konnte es unmöglich zusammenfallen. Kaum eine Stunde vorher hatte sie gut hundert Meilen entfernt auf einem kleinen provisorischen Landungsplatz getankt. So schnell hätte sie also nur mit dem Flugzeug zurückkommen können. Würde sie das getan haben, so hätte sie mit abgestelltem Motor sehr wohl lautlos landen können, vermutete Murray, aber kein Flugzeug hätte während seiner Anwesenheit im Hause sich von dieser Wiese wieder erheben können, ohne einen Höllenlärm zu verursachen. Nun stand jedoch fest, daß dort, wo er und Camilla auf der Wiese die Flugzeugspuren gesehen hatten, auch bei seiner Abfahrt das heißt, als er Frau Smith in seinem Wagen zum Tor brachte, keine Flugmaschine gestanden hatte. Nein, ganz gleich, wen Fräulein Parsons auch im Arbeitszimmer angetroffen haben mochte, Camilla konnte es auf keinen Fall gewesen sein.

Wenn aber nicht Camilla, – wer dann? Es gab ja sonst niemand im Hause, dessen plötzliches Auftauchen zu einer so ungewöhnlichen Zeit und dazu noch im Arbeitszimmer des Hausherrn Lucretia nicht erschreckt hätte, es sei denn, daß die Sache vorher verabredet war. Aber auch das schien ausgeschlossen zu sein. Wie hätte sie so eine Zusammenkunft mit einem Komplicen vorher vereinbaren können? Wie sollte sie gewußt haben, daß ihr Chef sie rechtzeitig hinausschicken würde, um das Fenster zu schließen?

Während Murray hin und her überlegte, wehte ein kräftiger Windstoß ins Zimmer, wirbelte die losen Papiere auf dem Schreibtisch durcheinander und ließ Hopkins, der jetzt mit Murray allein war, unsicher nach dem offenen Fenster Hinsehen. Murrays Blick aber wurde auf einmal ganz starr: da lag auf dem Fußboden, vom Winde herangeweht, ein kleiner blauer Papierstreifen, der durch seine Form und Farbe den Anwalt an etwas erinnerte, was er gestern abend flüchtig gesehen hatte, als Herr Lindstrom ihm den Mechanismus des Geheimfachs erklärte und den Verdacht aussprach, daß seine Sekretärin es wohl auf die im Geldschrank liegenden fünfundzwanzigtausend Dollars abgesehen hätte. Sollte dieser phantastische Verdacht wirklich berechtigt gewesen sein?

»Hopkins«, sagte er, und der Klang seiner Stimme ließ den Beamten zusammenfahren, »haben Sie schon im Geldschrank nachgesehen?«

»Nein«, antwortete der Inspektor. »Er ist abgeschlossen, und wir hielten es nicht für nötig, ihn aufzubrechen. Wir suchten nur den Griff nach Fingerabdrücken ab, aber wir fanden nichts.«

»Überhaupt keine Fingerabdrücke? Auch nicht von Herrn Lindstrom? Hm … Sagen Sie, haben Sie auch die Kombinationsformel nicht gefunden, die der alte Herr, wie er mir gestern erzählte, im Geheimfach des Schreibtisches aufbewahrte?«

Der Inspektor musterte ihn einen Augenblick schweigend. »Ich werde sofort jemand zum Öffnen des Geldschrankes kommen lassen«, sagte er schließlich und trat an den Fernsprecher.

Aber Murray hob behutsam den vorhin entdeckten blauen Papierstreifen auf und reichte ihn dem Beamten. »Ich glaube. Sie brauchen nicht zu telefonieren«, bemerkte er. »Dieser Zettel kam gerade von irgendwoher angeflogen und sieht ganz nach der verschwundenen Kombinationsformel aus.«

Hopkins nahm den Zettel, betrachtete ihn wortlos und stirnrunzelnd und drehte ihn auch um. Die unbeschriebene Seite des Papiers trug einen auffallend guten Abdruck vom Gummiabsatz eines Herrenschuhs. »Irgend jemand ist wohl darauf getreten«, bemerkte Murray. »Das Dings muß hier schon den ganzen Morgen umhergeschwirrt haben«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Hopkins würdigte diese Stichelei keiner Antwort. »Schließen Sie den Geldschrank auf. Ich werde Ihnen die Nummern ansagen«, erklärte er statt dessen.

Murray kniete vor dem Geldschrank nieder, um die kleinen Ziffern auf der Nummernscheibe besser sehen zu können. Nach einer kurzen Weile war der Schrank offen. Murray riß die schwere Tür auf, warf einen Blick ins Schrankinnere und wußte sofort Bescheid. An einem Schloß der Innentür hing nämlich ein Schlüsselbund, und das Fach, das sich hinter dieser Tür befand, war vollkommen leer.

»Gott sei Dank!« rief Murray. »Das Geld ist weg!« Hopkins nickte ihm verständnisvoll zu. »Ich habe ungefähr dieselbe Einstellung«, sagte er. »Ich glaube, daß Sie recht behalten werden. Aber wir wollen jetzt den Inhalt des Geldschrankes genau untersuchen, denn ich bin verpflichtet, mich von jeder Einzelheit mit meinen eigenen Augen zu überzeugen.«

Die plötzliche Erleichterung, die aus der Entdeckung einer Geschichte resultierte, die in keinem Kapitel Platz für Camilla hatte, war Murray doch ein bißchen auf die Nerven gegangen. »Setzen Sie sich dorthin in den Sessel und spielen Sie Zeuge«, schlug Hopkins gutmütig vor. »Den Rest kann ich allein erledigen.« Murray ließ sich das nicht zweimal sagen. Er setzte sich hin und sah zu, wie Hopkins, wieder in weißen Baumwollhandschuhen, den Geldschrank Fach für Fach ausräumte, alles, was noch da war, sorgfältig untersuchte und dann wieder zurücklegte.

Das Geld aber fand er dabei nicht. Das Suchen danach war im Grunde überhaupt eine reine Formfache gewesen. Nun war es jedenfalls klar, daß hier ein einfacher gewerbsmäßiger Einbruch vorlag, bei dessen Ausführung der Verbrecher zwei zufällige Morde begangen hatte. Das eine der Opfer war seine eigene Komplizin, die er wohl selber in's Haus eingeschmuggelt hatte. Sie mußte sterben, weil es ihm wahrscheinlich zu gefährlich war, sie als Mitwisserin seines Mordes am alten Lindstrom am Leben zu lassen. Und er hatte ihr die Mordwaffe zur Seite gelegt, um den Behörden einen Selbstmord vorzutäuschen, wie er auch den Geldschrank wieder abgeschlossen hatte, um den Raub des Geldes so lange wie möglich zu verbergen. Murray suchte krampfhaft nach schwachen Stellen in dieser Theorie. Aber je mehr er über sie nachdachte, um so mehr erschien sie ihm als die einzig mögliche Lösung des Rätsels, wenngleich sie in einigen Punkten dem Grübeln allzuviel freien Spielraum ließ. Warum sollte er jedoch eine Deutung anzweifeln, die Camilla von jedem Schatten des Verdachts befreite?

Und dennoch … Warum war dieses Verbrechen nicht bereits vor Monaten geschehen? Lucretia hätte ja ihren Komplicen genau so gut auch schon früher ins Haus lassen können. Und warum kam er nicht mitten in der Nacht, sondern zu einer Stunde, da alle auf der anderen Seite der Diele beim Abendbrot saßen? Warum hatte Fräulein Parsons nicht versucht, die Mahlzeit auszudehnen? Warum hatte der Mörder eine im Grunde so ungeeignete Waffe wie Camillas Mauserpistole benutzt?

Inzwischen schien Hopkins etwas gefunden zu haben. Es konnte wohl kaum das Geld sein! Oder doch?

»Hier habe ich etwas«, sagte der Inspektor nach einer Weile, »was Ihnen vielleicht besser als Ihre Nachforschungen über Fräulein Parsons Vergangenheit den gewünschten Aufschluß geben wird. Es ist ein Kuvert, das den Namen der Parsons trägt und mit dem Petschaft des alten Lindstrom versiegelt ist. Offenbar enthält der Umschlag etwas, was sie ihrem Chef zur Aufbewahrung übergeben hat. Ich denke, wir sehen am besten nach, was es ist.«

Murray nickte und sagte – sonderbarerweise zögernd –: »Ja, ich bin auch Ihrer Meinung.« Aber es klang keineswegs gleichgültig oder uninteressiert. Er schien eher erschrocken zu sein.

Hopkins schlitzte den Briefumschlag auf, zog den einzigen sich darin befindlichen Bogen Papier heraus und entfaltete ihn. »Seltsam«, sagte er und machte ganz erstaunte Augen. »Was mag dieser fremde Trauschein zwischen ihren Papieren zu suchen haben? Moment mal! Es ist ja doch der gleiche Name, nur auf französisch! Hier steht: Lucréce Pasteur.«

»Lucretia Parsons ist vermutlich eine rohe Übersetzung davon. Ist es ein französischer Trauschein?«

»Nein, ein englischer. Ausgestellt von einem Londoner Standesamt. Und eins wird Sie ganz besonders interessieren: der Mann, mit dem sie verheiratet war, ist – Eric Lindstrom.«

Eric! Eric und Lucretia waren Mann und Frau!

Die plötzliche Erkenntnis, daß diese Tatsache die ganze Sachlage völlig veränderte, rief bei Murray ein vorübergehendes Schwindelgefühl hervor. Er verließ das Haus und ging an die frische Luft, auf die Wiese hinaus, um Camilla die überraschende Neuigkeit mitzuteilen.


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