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Hopkins kommt zu spät, aber Camilla hilft

»Wegen Beihilfe zum Mord an Eric Lindstrom!«

Das war eine Reihe durchaus verständlicher Worte, aber für Murray wollten sie einfach keinen Sinn ergeben. Irgend etwas Unkontrollierbares in seinem Hirn würfelte sie stumpfsinnig immer wieder durcheinander. Eric Lindstrom also war ermordet – trotz der Wachsamkeit Carls! Taylor hatte ihn überlistet. – Aber das hatte Hopkins doch eigentlich gar nicht gesagt. Warum hatte er von »Beihilfe« gesprochen? Was für Helfershelfer konnte der Mann gehabt haben? Wer war schließlich der wirkliche Mörder?

Diese Gedanken waren im Grunde nichts anderes als die unwillkürlichen Reflexe eines Anwaltsgehirns. Sonst aber war dieses Hirn wie gelähmt vom Entsetzen, von einem phantastischen, maßlosen Grauen, das ihn drängte, kehrtzumachen und blindlings, verzweifelt zum Herrenhaus zurückzulaufen – zu Camilla. Um sich gegen diesen heftigen Drang zu wehren, zwang er sich zur Beobachtung dessen, was sich vor seinen Augen abspielte. Die Schuhe schienen nicht alles zu sein, was Hopkins finden wollte. Die Durchsuchung dehnte sich planmäßig auch auf das übrige Gepäck Taylors aus.

Taylor konnte nicht sehen, was die Polizisten machten. Das Auto stand zwischen ihm und ihnen, und man ließ ihn nicht sich vom Fleck rühren. Sein Gesicht war kein Gesicht mehr, sondern sah eher wie eine Maske aus Papiermaché aus: es war zumindest genau so ausdruckslos und von gleich lebloser Farbe.

Ein kleiner Toilettenkoffer hatte, wie Hopkins bald entdeckte, einen doppelten Boden. Sofort flogen Rasierklingen, Bürsten und Flaschen ins Gras – hier wollte der Inspektor näher nachforschen.

»Da haben wir's!« rief er plötzlich. Aus einer seiner Taschen zog er ein kleines, in dunkelrotes Glanzleder gebundenes Notizbuch hervor; mit der freien Hand holte er aus dem Toilettenkoffer Taylors drei Päckchen Banknoten heraus. Dann forderte er Murray durch ein Zeichen auf, sie ihm abzunehmen.

»Deshalb wollte ich Sie hier haben«, erklärte er. »Ich vermute, daß dieses Bündel vierundzwanzigtausendneunhundert Dollars enthält, aber versuchen Sie bitte nicht, das Geld jetzt zu zählen. Vergleichen Sie nur die Nummern einiger dieser Banknoten mit den Nummern im Buch und machen Sie sich Notizen, um den Befund später beeiden zu können.« Dann wandte er sich ab, um sich erneut dem Inhalt der Koffer zu widmen, aber offenbar war jetzt alles, wonach er gesucht hatte, gefunden.

»Ein grundgescheiter kleiner Amateurdetektiv, nicht wahr?« spöttelte inzwischen Taylor. Sein Gesicht hatte sich nicht um eine Spur belebt, aber in seine Stimme war ein seltsam hetzender Ton gekommen, wie ein Destillat aus kochender Wut. »Sherlock Holmes und so! Löst alles mit Hilfe höherer Mathematik!« fuhr er fort. »Ach, Sie gottverdammter Spürhund, Sie haben zeitlebens nie etwas gefunden, worauf man Sie nicht mit der Nase gestoßen hätte!«

»Denken Sie, was Sie wollen«, erwiderte Hopkins gutmütig, »aber sprechen würde ich an Ihrer Stelle lieber nicht zuviel! Sie wissen doch: alles, was Sie sagen, kann gegen Sie vorgebracht werden – obwohl ich eigentlich nicht glaube, daß Sie uns noch irgend etwas erzählen können.«

Murray hatte inzwischen mit den Banknoten das getan, was Hopkins gewünscht hatte: er hatte drei gefunden, deren Nummern mit den Nummern im Notizbuch des alten Lindstrom übereinstimmten, und eine entsprechende Aufzeichnung in seinem eigenen Notizbuch gemacht. Hierauf gab er die Scheine Hopkins zurück, der sie wieder in ihr Versteck hineinlegte, die Sachen, die er ins Gras geworfen hatte, zusammenklaubte und von neuem einpackte, den Koffer abschloß und dann an den Gefangenen herantrat.

»Legt ihm Handschellen an und bringt ihn zur Wache«, befahl er den Polizisten. »Fahren Sie mit, Hanson; Walsh brauche ich noch hier. Fräulein Lindstrom wird doch nichts dagegen haben«, fragte er Murray, »wenn wir ihr Auto als Überfallwagen benutzen?«

»Nein«, sagte Murray, »sicher nicht.«

Einer von den Polizisten kletterte, den an sein Handgelenk gefesselten Taylor hinter sich schleppend, etwas unbeholfen in den großen Rolls-Royce, und ein anderer schickte sich an, das Tor zu öffnen. »Ich glaube, damit wären die Vorbereitungen erledigt«, sagte der Inspektor. »Jetzt sind wir bereit, uns Emil zu widmen.«

Die Stimme des Inspektors klang nicht lauter als sonst, aber sie hatte einen messerscharfen, metallischen Unterton, der sich spitz in Murrays Bewußtsein hineinbohrte. Emil? Was meinte er damit? Und plötzlich glaubte Murray zu begreifen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Hopkins richtete noch ein paar letzte Befehle an zwei Polizisten, die daraufhin durch die Büsche in der Richtung des Herrenhauses davoneilten, dann sah er auf seine Uhr und wandte sich Murray zu. »Fräulein Camilla ist doch heute aufgestiegen, nicht wahr?« fragte er.

»Sie ist schon wieder zurück«, erwiderte Murray mit trockener Kehle. »Als wir mit dem Auto losfuhren, war sie gerade vor dem Hause gelandet.«

Man konnte Hopkins deutlich ansehen, daß ihm etwas daran unangenehm war. Aber er sagte nur: »Macht nichts. Kommen Sie jetzt mit. Sehen Sie zu, daß Sie sie finden. Führen Sie die junge Dame weg, sie möchte sich fernhalten, bis alles vorbei ist.«

Er kam nicht weiter. Das plötzliche Geknatter eines Flugzeugmotors ließ ihn verstummen. Beide Männer sahen zum Himmel hinauf. Aber ein Flugzeug war nicht zu entdecken. »Wenden Sie, Mann«, rief Hopkins erregt Nelson zu, »fahren Sie uns rasch zum Herrenhaus! Zum Teufel, Mann, achten Sie jetzt nicht auf den Rasen!« Mit diesen Worten riß er, während der Motor ansprang, die Wagentür auf. »Los, einsteigen!« befahl er auch den Umstehenden. Sie gehorchten, und gleich darauf raste der Wagen davon.

Als sie ankamen, war das Flugzeug natürlich bereits verschwunden. Das Geknatter, das sie gehört hatten, war sicherlich von der zum Fluge startenden Maschine Camillas verursacht worden; es konnte nichts anderes gewesen sein. Aber das hatte vielleicht nichts auf sich. Möglicherweise übte sie sich wieder einmal im Landen; sie hatte ja eine gewisse Schwäche dafür. Oder vielleicht hatte sie, als sie das Haus verlassen fand, beschlossen, noch eine halbe Stunde umherzufliegen. Es hatte keinen Zweck, sich gleich sinnlos aufzuregen, bloß weil …

Der Wagen hielt mit einem Ruck unter der Einfahrt, und alle, außer Hanson und dem Gefangenen, sprangen heraus und rannten ins Haus. Es war tatsächlich wie ausgestorben. Unten war wenigstens kein Mensch zu sehen, und als sie stehen blieben, um zu lauschen, drang zu ihnen kein Laut.

Doch! Etwas vernahmen sie doch! Irgendwo in den oberen Stockwerken schluchzte krampfhaft eine Frau. Sofort stürzten sie hinauf.

Sie fanden Sophie, die auf einer alten, im Gang stehenden Chaiselongue lag und einen richtigen Weinkrampf hatte. Nelsons Frau, die Wäscherin, die ein angeborenes Talent zu haben schien, stets das Falsche zu tun, streichelte und tröstete sie wehklagend und kümmerte sich nicht im geringsten um Carl, der – kreideweiß im Gesicht – in einer Blutlache auf dem Fußboden saß, sich mit dem Rücken an dem Geländer der schmalen, zur Kuppel emporführenden Treppe lehnte und mit letzter Kraft sein Bein über dem Knie umklammerte, an einer Stelle, wo das Blut in dünnem Strahl aus einer Kugelwunde hervorströmte.

»Walsh«, rief Hopkins, »hole ein Badetuch und schnüre ihm das Bein ab! Und Sie, Nelson, stopfen dieser Frau den Mund! Gießen Sie ihr Wasser über den Kopf! Ertränken Sie sie, wenn es nötig ist!«

Ohne eine Sekunde zu verlieren, führte Walsh den Befehl aus, schnürte um Carls Schenkel das Badetuch und verknotete es, da ihm gerade nichts anderes in die Hände fiel, mit dem Lauf seines Revolvers. In der Zwischenzeit tauchte Nelson zögernd mit einem Glas Wasser in der Hand aus dem Badezimmer auf. Aber er brauchte niemanden eine kalte Dusche zu verabfolgen, denn Sophies Schluchzen legte sich wunderbarerweise schon bei seinem Anblick.

»Wo ist dein Mann?« fragte Hopkins den verwundeten Carl. »Er ist dir wohl entwischt, wie?«

»Er hat mich überrumpelt«, antwortete Carl matt. »Als ich ihm das Frühstück heraufbrachte, fand ich sein Zimmer leer. Da kam ich wieder heraus und sah ihn von der Kuppel heruntereilen: er hatte von dort das Tor beobachtet. Ich hätte ihn mir gekappt, aber da hat diese Frau hier aufgeschrien und ihn gewarnt. Er bewilligte mir eine Kugel, und die Frau vertrat mir den Weg, so daß ich …« Weiter kam er nicht. Seine Stimme verblaßte plötzlich, und er wurde ohnmächtig.

Man trug ihn in Erics Zimmer, legte ihn aufs Bett, deckte ihn zu und flößte ihm aus Taylors Flasche, die man auf dem Nachttisch fand, etwas Whisky ein. »Wenn erst das Blut zum Stehen kommt, wird er sich schnell erholen«, bemerkte Hopkins zuversichtlich und wandte sich ab, um die beiden Frauen zu verhören.

»Wohin ist Lindstrom gegangen?« fragte er.

Sophie war sprachlos und nahe daran, wieder in ihren Weinkrampf zu verfallen. Frau Nelson dagegen hatte viel mitzuteilen, aber sie mußte alles von Anfang an erzählen. Übrigens schien sie auch das Gefühl zu haben, daß Carl ihnen mit seinem Bericht Unrecht getan hatte.

»Wir waren unten, wir wollten dort die Betten abziehen«, fing sie an, »und Sophie hatte mir gerade gesagt, daß Carl ein Dieb sei, daß er gestern das Silber beiseite gebracht hätte und Fräulein Camilla es heute früh Ihnen melden wollte. Und dann kamen wir herauf, um Herrn Erics Waschschüssel zu holen, und da sahen wir, wie Carl aus dem Zimmer gestürzt kam. Die Hand hielt er in der Tasche, aber ich merkte, daß sie darin einen Revolver umklammerte. Gleichzeitig kam mit stierem Blick und ohne Carl zu sehen, Herr Eric von der Kuppel heruntergerannt, Sophie rief: ›Vorsicht! Man will Sie ermorden!‹, und Carl rief: ›Hände hoch! Sie sind verhaftet!‹ Ich konnte nicht begreifen, mit welchem Recht ein Verbrecher wie er, irgend jemand verhaften wollte. Und dann feuerte Carl seinen Revolver ab – wenigstens glaubten wir in diesem Augenblick, daß es Carl war – und versuchten zu fliehen, als Herr Eric uns plötzlich einen Stoß versetzte und die Treppe hinunterlief.«

»Und Sie sind ihm nicht nachgelaufen, um zu sehen, wohin er gegangen ist?«

»Ich?« gab Frau Nelson empört zurück.

Dann kam die Frage, auf die Pete atemlos gewartet hatte. »Wann geschah denn das alles? Bevor Sie Fräulein Camillas Flugzeug von der Wiese aufsteigen hörten oder nachher?«

Frau Nelson wußte es nicht mehr. Sie hatte wohl das Knattern eines Motors gehört, aber ob vor oder nachher – das konnte sie nicht sagen. Und als Sophie danach gefragt wurde, schüttelte sie nur den Kopf und begann wieder zu heulen.

Man verlor kostbare Minuten. Hopkins ließ sich zu einer Geste hilfloser Verzweiflung hinreißen und wandte sich an Walsh. »Ich überlasse das Haus dir«, sagte er. »Überzeuge dich, ob er sich nicht irgendwo versteckt hat …« Dann aber hielt er inne: die Treppe hinauf kamen müde und unsichere Schritte.

Murray erzählte als erster, wer dort ankam. »Die kleine Ruth«, verkündete er. »Wenn sie irgend etwas gesehen hat, wird sie uns nichts verschweigen. Und ihrem Gesichtsausdruck nach muß sie wirklich etwas gesehen haben.«

Kaum war sie oben, da wollten schon ihre Eltern, der Vater stumm, die Mutter mit lautem Wehgeschrei auf sie zustürzen, aber Hopkins wies sie rücksichtslos zurück. »Überlaßt sie nur mir«, sagte er. Offenbar war die Kleine froh, ihn zu sehen, und auch froh, ihn als ersten sprechen zu können, denn ihr Gesicht hellte sich etwas auf. Sie ging auf ihn zu und griff seine Hand.

»Hast du das Flugzeug eben davonfliegen sehen?« fragte er.

Sie nickte.

»Wer war denn das? Noch jemand außer Fräulein Camilla?«

Sie nickte wieder stumm.

»Wer denn?« fragte er. »War es etwa Herr Eric Lindstrom?«

Die Art, in der diese Frage gestellt wurde, löste endlich ihre Zunge. »Ich werde Ihnen alles erzählen«, sagte sie. »Ich war unten am Fluß. Als ich über die Wiese kam, sah ich Vater im großen Auto davonfahren, und weil der Weg zum Tor mir zu weit war, beschloß ich einfach zu warten. Und dann kam Fräulein Camillas Flugzeug zu Boden und hielt vor dem Hause. Fräulein Camilla saß ziemlich geduckt auf ihrem Sitz und ich wunderte mich, warum sie nicht ausstieg. Dann dachte ich: wenn sie wieder aufstiege, würde sie mich vielleicht mitfahren lassen – denn das hatte sie mir schon lange versprochen. Ich ging also zu ihr, um sie darum zu bitten, als ich plötzlich merkte – als ich sah … Ach, der Mann sah ja wie Herr Eric aus, aber sein Gesicht war furchtbar, und er hielt eine Pistole in der Hand, als ob er irgend jemand erschießen wollte. Ich hätte am liebsten laut aufgeschrien, aber da sah er mich an, und ich konnte keinen Ton von mir geben. Fräulein Camilla sprang gerade auf, um aus dem Flugzeug zu klettern, aber er richtete die Pistole auf sie, zwang sie, sitzen zu bleiben und rannte auf das Flugzeug zu. Er nannte sie ›liebste Camilla‹ und sagte, daß sie jetzt eine kleine Reise zusammen machen würden, und sie sollte sich lieber beeilen, weil er keine Zeit zu verlieren hätte. Er sprach so, wie er immer spricht – als wenn er lachen wollte. Aber er lachte nicht und hielt die Pistole immer noch auf sie gerichtet. Dann begann der Motor einen solchen Krach zu machen, daß ich nichts mehr hören konnte, aber er kletterte auf den Sitz hinter Fräulein Camilla und schrie sie an, als ob er sie zur Eile antreiben wollte. Sie sah sich nicht nach ihm um, und nach einer Weile begann das Flugzeug über den Rasen zu gleiten und flog davon. Und weil mir ziemlich schlecht war, blieb ich, wo ich war, an der Freitreppe stehen. Als ich aber Sie kommen sah, wurde mir gleich besser.«

Den Höhepunkt des Schreckens in der Erzählung der Kleinen bildeten für Murray die von ihr angeführten Worte Erics »liebste Camilla« und ihr Hinweis auf die ihm wohlbekannte spöttische Art, in der Eric so oft zu sprechen pflegte. Nun schwand auch der letzte leise Zweifel, an den er sich zu klammern versucht hatte; es stand auch für ihn jetzt fest, daß der Mann, den er und Camilla vor zwei Tagen als ihren Bruder willkommen geheißen hatte, kein anderer sein konnte als Emil. Diese Identität, die sein Geist noch immer als unglaublich zu verwerfen versucht hatte, machte den ganzen Fall zu einem wahren Alptraum.

Hopkins nahm die Geschehnisse allerdings nicht so tragisch.

»Es wäre nett, wenn Sie hineingingen, um noch einmal nach Carl zu sehen«, sagte er zu Murray. »Geben Sie ihm noch einen Schluck Whisky, wenn Sie glauben, daß es ihm gut tun würde. Ich gehe jetzt hinunter, um zu telefonieren. Sie werden mich im Herrenzimmer finden.« Dann eilte er in Begleitung von Walsh und Nelson davon, worauf die beiden Frauen nebst dem Kind ihm folgten.

Murray fand Carl bei Besinnung, wenn auch immer noch sehr schwach und eines weiteren Schluckes Whisky bedürftig. Sobald sich der Verwundete aber etwas gestärkt hatte, erkundigte er sich nach seinem Angreifer und wollte wissen, ob er entkommen wäre.

»Er zwang Camilla mit vorgehaltenem Revolver, mit ihm in ihrem Flugzeug davonzufliegen«, erwiderte Murray, und Carl schien über diese Auskunft ziemlich erfreut zu sein. Wenn man seinen Mann entwischen läßt, bereitet es Genugtuung zu erfahren, daß er auch keinem anderen in die Hände gefallen ist.

»Sie muß jetzt recht vorsichtig sein«, sagte Carl leise nach kurzem Nachdenken. »Er wird darauf dringen, daß sie irgendwo auf einem einsamen Felde landet. Wenn sie das tut, wird er sie bestimmt töten. Wenn sie aber auf einem richtigen Landungsplatz mit ihm niedergeht oder irgendwo, wo Leute in der Nähe sind, wird ihr nichts geschehen. Das muß sie im Auge behalten.«

Offenbar wollte er damit andeuten, daß irgendein guter Freund Camilla sofort warnen sollte. Nachdem er sich aber auf diese Weise Erleichterung verschafft hatte, ließ er die Augen zufallen und schlief friedlich ein.

Der von ihm geäußerte Gedanke machte Murray fast wahnsinnig. Es war richtig, ja, es war natürlich richtig, daß Eric–Emil sie genau so unbarmherzig töten würde, wie irgendeines seiner früheren Opfer, um seine eigene Aussicht auf ein Entkommen zu verbessern. Wenn sie sich dazu bewegen ließe, in einer einsamen Gegend zu landen, würde er sie erschießen und dann vielleicht das Flugzeug in Brand stecken. Der einzige Trostschimmer ergab sich für Murray aus der Tatsache, daß der Flüchtling, der sie mit dem Revolver in der Hand gezwungen hatte, mit ihm davonzufliegen, sie auf diese Weise selber gewarnt hatte. Hätte er seine Waffe eingesteckt und sie nur als Bruder um Hilfe angefleht, so wäre sie ihm blind in die Falle gegangen. Jetzt wußte sie wenigstens, daß sie in Gefahr war.

Aber dieses Wissen konnte ihr nicht viel nützen. Aus der hinteren Kabine war jetzt ständig ein Revolver auf sie gerichtet, und sie konnte nichts anderes tun, als Erics Befehlen gehorchen.

Die Erfahrungen, die er bei seinem eigenen Flug am Vortage gemacht hatte, ermöglichten es ihm, sich die Situation ganz genau zu vergegenwärtigen: Eric saß jetzt dort, wo er gesessen hatte, und Camillas kleiner behelmter Kopf war gerade vor ihm – knapp außer Reichweite. Es würde ihm nicht so leicht sein, in dieser Lage Befehle zu erteilen; er konnte sie wohl aussprechen, aber Camilla würde sie kaum hören.

Dann kam es über ihn wie eine jähe Erleuchtung, und er begriff, daß von dem Augenblick an, da das Flugzeug den Boden verließ, und solange es in der Luft blieb, der vorgehaltene Revolver gar keine Wirkung haben konnte. Natürlich! In Camillas Flugzeug zumindest, war ein Angriff auf den Piloten, sofern man keinen Fallschirm hatte, gleichbedeutend mit Selbstmord. Der Flüchtling mußte aber – so weit man der kleinen Ruth glauben wollte – tatsächlich ohne Fallschirm zum Flug aufgestiegen sein.

Aber vielleicht dachte Camilla nicht daran. Es hatte ja auch bei ihm so lange gedauert, bis ihm diese Dinge eingefallen waren. Wenn man ihr nur einen Wink geben könnte – vom Erdboden oder von einem anderen Flugzeug aus! Wäre es nicht möglich, ein Flugzeuggeschwader auszuschicken, um sie zu suchen? Er stand auf und ging nach unten zu Hopkins.

Aus irgendeinem Grunde hatte man auch Taylor ins Haus geführt. Er war nach wie vor an das Handgelenk des Polizisten gefesselt. Beide Männer, aneinander gekettet und nebeneinander auf einer Bank im Flur sitzend, schnitten ein fast gleich verdrossenes Gesicht, und die Koffer standen genau so aneinandergereiht am Ausgang, wie vor dem Frühstück. Die Herrenzimmertür war geschlossen, und der Polizist Hanson erwiderte auf Murrays fragendem Blick, daß der Inspektor gerade telefoniere. Nelson aber wäre in seinem Auftrage nach Hause gefahren, um von dort aus einen Arzt und einen Krankenwagen für Carl herbeizurufen, denn der Inspektor wollte den Apparat im Herrenzimmer ganz zu seiner Verfügung haben. Die Tatsache, daß Hopkins so dringend zu telefonieren hatte, gab Murray wieder einen schwachen Schimmer neuer Hoffnung.

Nach kurzem Zögern betrat er das Herrenzimmer und machte die Tür hinter sich zu. Der Inspektor nahm offenbar gerade irgendeinen Bericht entgegen. Mit einem stummen Nicken forderte er Murray auf, sich hinzusetzen. Dabei hörte er weiter zu, sagte ab und zu kurz »Ja« und machte sich mit dem Bleistift Notizen.

Im Augenblick blieb Pete wirklich nichts anderes übrig, als Platz zu nehmen und ruhig zu sein, aber gerade das fiel ihm bei seinem Wunsch, mitzuhelfen, durchaus nicht leicht. Alles, was er sah, reizte ihn: die Bleistiftnotizen des Inspektors; die Tatsache, daß fünf der acht dicken Bände von Mitfords »Griechenland« in Ganzleder seltsamerweise aus dem Bücherschrank herausgenommen und in Reih' und Glied auf dem Schreibtisch aufgebaut waren. Was zum Teufel konnte da jemand mit fünf Bänden dieses Werkes gewollt haben?

»Nun, ich glaube, das genügt«, sagte Hopkins endlich in den Hörer. »Ich bleibe hier, bis ich von irgendwo Nachricht bekomme.« Dann hängte er ein und wandte sich Murray zu. »Wir haben alle Flughäfen im Umkreis von fünfzig Kilometer alarmiert und aufgefordert, Camillas Flugzeug zu suchen. Die Leute wissen bereits, wer ihr Passagier ist und wie sie dazu kam, mit ihm aufzusteigen. Man wird also scharf aufpassen und Flugzeuge startbereit halten, um ihr, sobald sie irgendwo auftaucht, zu folgen. Wer sie auch entdeckt, wird sich an ihre Spur heften und so nah wie möglich landen, sobald und wo sie niedergeht. Es sind fünfunddreißig solche Flughäfen in dem abgegrenzten Gebiet und in einem von ihnen dürfte sie bestimmt gesichtet werden.« Offenbar hatte der Inspektor den gleichen Gedanken gehabt wie Carl.

»Und jetzt wird sie bereits aus diesem Gebiet heraus sein, nicht wahr?« fragte Murray mit einem finsteren Blick.

»Sie hat keine besonders schnelle Maschine«, erwiderte Hopkins. »Die Höchstgeschwindigkeit, die sie entwickeln kann, fünfundsiebzig bis achtzig Meilen in der Stunde. Und jetzt sind es genau –«, er warf einen Blick auf seine Uhr, »– genau dreiundzwanzig Minuten, seitdem sie aufgestiegen ist.«

»Sie sind verrückt«, rief Murray. »Mir ist es, als ob schon Stunden vergangen wären.«

»Genau dreiundzwanzig Minuten«, wiederholte der Inspektor. »Ich hatte zufällig gerade nach der Uhr gesehen, als wir am Tor unten das Geknatter des Motors vernahmen.« Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er ging ans Telefon, um die Polizeiwache anzurufen. »Ist der Krankenwagen schon unterwegs?« fragte er. »Nun, dann schickt einen Stenographen mit. Ich brauche ihn vielleicht. Im allgemeinen«, erklärte er, sich wieder an Murray wendend, und hängte ein, »im allgemeinen ist Taylor nicht der Mann, der aus der Schule plaudert. Aber er glaubt, daß er betrogen worden ist, und das ist zu seinem ursprünglichen Groll – ich weiß nicht, was er mit Emil hatte, aber es muß etwas Ernstes gewesen sein – fast mehr, als er ertragen kann.«

»Ich dachte, Sie wüßten schon alles, was er Ihnen erzählen könnte.«

Hopkins faßte sich an den Kopf. »Mein Gott, Mann, sind Sie auch darauf hereingefallen? Ich hatte noch nie einen Fall«, fuhr er fort, »bei dem ein gründliches, ehrliches Geständnis mir gelegener gekommen wäre. Ich stütze mich auf drei unerschütterliche Tatsachen, aber das Feld der bloßen Vermutungen ist so groß, daß ich am liebsten gar nicht daran denke.«

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Hopkins riß den Hörer ans Ohr und meldete sich. Gleich darauf sah Murray, wie seine Augen ganz groß wurden und sein Atem zu stocken anfing. Unwillkürlich hielt auch Murray den Atem an.

»Gut«, sagte Hopkins schließlich. »Ihr seid doch auf alles gefaßt, nicht wahr? Ihr wißt, es kommt auf jede Sekunde an …« Offenbar war soweit alles in Ordnung. Hopkins nickte befriedigt und warf den Hörer auf die Gabel. Dann, ohne sich zu einem Wort der Erklärung an Murray Zeit zu lassen, rannte er aus dem Herrenzimmer durch die Diele und auf die Wiese hinaus.

»Schalte den Motor im Beiwagen ein!« befahl er gerade Walsh, als Murray ihn einholte.

Dann wandte er sich Pete zu. »Camilla ist gesichtet worden! Sie ist in unserer Gegend. Dicht über ihrem eigenen Flughafen; in rund siebentausend Meter Höhe, hat man mir gesagt. Und macht mit ihrer Maschine die tollsten Kunststückchen; sie holt aus dem Apparat alles heraus, was er hergibt. Sehen Sie, Murray! Sehen Sie doch! Ist das ihr Flugzeug? Können Sie es erkennen?«

Man sah am Himmel kaum mehr als einen glitzernden Fleck, und es war völlig unmöglich, zu erkennen, was es war. Aber ein seltsamer Instinkt sagte Murray, daß da oben niemand anders als Camilla flog. Einen Augenblick war es ihm freilich, als ob jenes glitzernde Etwas sich überhaupt nicht bewegte, dann aber sah er, wie es in einer langsamen Schraube hinabzuschießen anfing. Das Herz klopfte ihm in der Kehle, bis der Apparat, sich gleichsam selber auffangend, wieder zu steigen begann. Gleich darauf flog er – oder versuchte wenigstens – eine Schleife zu fliegen, aber in der der Kehre überschlug er sich. Sofort stürzte er in einer Spirale ab und überschlug sich wieder. Was war oben und was unten?

Mit jeder Sekunde kam das Flugzeug näher und näher, mit jedem Manöver fiel es tiefer hinab. Eine wilde Angst befiel Murray. War dort oben ein schrecklicher Kampf um die Steuerung im Gange? Hatte der Mörder entdeckt, daß Camilla ihn zu den Leuten zurückbrachte, die nur darauf warteten, ihn zu ergreifen, und war er in seiner Wut bereit, seinen eigenen Tod zu riskieren, wenn das auch ihren Tod nach sich zog?

Plötzlich war der Kampf, wenn wirklich gekämpft worden war, zu Ende. Das Flugzeug, das westlich von ihnen über dem Flughafen gekreist hatte, schoß nun steil über dem Fluß zur Wiese hin, als ob es – so schien es Murray – dort zur Landung gebracht werden sollte. Aber er irrte sich offenbar.

»Sie will nicht mit dem Wind landen«, überschrie Walsh das Dröhnen des Motors. Er tat übrigens zur Verstärkung des Krachs das seinige, indem er auch seinem Motorrad Gas gab. »Jetzt will sie sich erst mal genau orientieren!« Er saß schon im Sattel, als das Flugzeug knapp drei Meter über der Wiese vorbeisauste.

Pete sah, das Camillas behelmter Kopf ihnen zugekehrt war und daß sie ihnen mit der Hand flüchtig zugewinkt hatte. Die zusammengekauerte Gestalt in der hinteren Kabine hielt jetzt keinen Revolver mehr auf sie gerichtet – wenigstens glaubte Pete, das erkannt zu haben.

Hopkins sprang in den Beiwagen, als ob er Camillas Wink verstanden hätte. Sie hatte die Bäume am Tor schon hinter sich, aber sie kam nicht viel weiter, sondern machte eine halbe Wendung und kehrte um. Dann verstummte das Geknatter ihres Motors, und sie landete lautlos auf der Wiese. Das Motorrad mit dem Beiwagen schoß vor, holte sie ein, fuhr neben ihr her und kam im gleichen Augenblick wie sie zum Stehen.

Pete wußte nicht, wie er dorthin kam; er war wohl wie ein Schnelläufer vorgestürmt, denn er erreichte den Apparat nur ein oder zwei Sekunden nach dem Motorrad. Camilla saß eine Weile ganz still in ihrer Vorderkabine. Dann schob sie ihre Brille hoch und Pete sah, wie sie irgendeinen Hebel herabdrückte. Aber sie blickte sich nicht um.

»Alles in Ordnung?« hörte er Hopkins fragen. »Hat er Ihnen nichts getan?«

»Gar nichts«, antwortete Camilla. »Aber Vorsicht, wenn ihr ihn herausholt. Er hat einen Revolver bei sich, und wenn er nicht zu luftkrank ist, wird er schießen.«

Ein erschrockener Ausruf des Polizisten Walsh ließ Pete sich nach dem Mann umblicken, der auf dem Hintersitz saß. Das Gesicht dieses Mannes – fahl und starr – wirkte mit dem weitaufgerissenen Mund und dem leicht verzerrten Kinn wirklich erschreckend, aber die Haltung seines Körpers machte in ihrer fürchterlichen Verkrampftheit einen noch entsetzlicheren Eindruck.

»Hände hoch!« befahl Hopkins kurz.

Aber der Mann rührte sich nicht.

»Es sieht so aus, als ob er unten angebunden wäre«, meinte Walsh. Er kletterte auf die Tragfläche und warf einen Blick in die Kabine.

»Schnallen Sie seinen Sicherheitsgurt auf«, sagte Camilla. Noch immer hatte sie sich nicht umgesehen, aber beim Sprechen streifte sie den eigenen Sicherheitsgurt ab, kletterte hinaus und gab sich Mühe, sich von ihrem Fallschirm zu befreien. »Wissen Sie nicht, wie Sie den Gurt aufschnallen müssen?« fragte sie den Polizisten

»Er hat gar keinen Gurt um«, antwortete Walsh. »Er hält sich krampfhaft mit den Händen fest und es ist, als könne er nicht loslassen: wie die Stahlarbeiter, die einen Krampf bekommen und die man manchmal, mit einer Winde losreißen muß. Seine Hände sind übrigens ganz blutig.«

Pete, der dicht neben Camilla stand, fühlte, wie sie ziemlich schwer zu ihm hinübersank, und legte, um sie zu stützen, den Arm um sie.

»Schwach?« fragte er. »Soll ich dich wegbringen?«

Sie schüttelte den Kopf und erwiderte, daß sie sich ganz wohl fühle.

Dagegen wurde es Murray fast übel, als er sah, wie Walsh mit aller Kraft den verkrampften Griff der blutigen Hände zu lockern und zu lösen versuchte. »Er hat sich an die Metallkante des Sitzes geklammert«, erklärte der Polizist, »und die ist ziemlich scharf.«

Inzwischen waren zwei weitere Polizisten aufgetaucht, und der Inspektor veranlaßte sie, Walsh zu helfen.

»Tragt ihn auf dieser Seite ums Haus herum und durch den Hintereingang hinein«, befahl Hopkins mit der Miene eines Mannes, dem gerade wieder etwas eingefallen ist. »Gebt ihm zu trinken und schafft ihn über die hintere Treppe ins Zimmer des alten Lindstrom. Haltet ihn dort fest, bis ich Zeit für ihn habe.«

Er sah eine Weile zu, wie seine Leute den Mann wegbrachten – er brauchte nicht mehr unbedingt getragen zu werden – und sagte dann zu Murray: »Ich halte nicht viel von drittklassigen Methoden, aber wenn ein Polizeibeamter einmal im Leben soviel Glück hat wie ich heute, müßte er dumm sein, wenn er die Gelegenheit nicht beim Schopf packte.« Mit diesen Worten ging er ins Haus und ließ Pete und Camilla neben dem Flugzeug stehen.

Camilla kletterte sofort auf eine Tragfläche hinauf, um einen Blick ins Innere zu werfen und nachzusehen, ob sie alles so gelassen hatte, wie es sich gehörte. Pete ließ sie gewähren, weil er der Ansicht war, daß sie wüßte, was sie zu tun hätte, aber es fiel ihm wirklich schwer, einen Einspruch zu unterdrücken, als er merkte, wie sie in die hintere Kabine starrte. Das war offenbar doch zuviel für sie, denn sie wurde kreidebleich und nahm recht gern seine Hilfe beim Hinuntersteigen in Anspruch.

»Wundert mich nicht, daß es zuviel für dich war«, sagte Murray. »Ich kann auch kein Blut sehen.«

»Das ist es nicht«, verriet sie ihm. »Ich habe da nach dem Gurt geschaut. Eine von den Schnallen ist zwischen dem Sitz und der Seitenwand eingeklemmt. Ich wußte nicht, daß er nicht festgeschnallt war, Pete. Ich wollte ihn nicht töten.«

»Nun, er hätte dich bestimmt umgebracht«, erinnerte er sie, aber das vermochte keineswegs sie von ihrem Entsetzen zu befreien. Sie sah noch immer so elend aus, daß er sie gleich darauf fragte, ob sie sich nicht ein Weilchen hinlegen möchte.

»Nein, aber ich weiß, was ich will«, versicherte sie ihm, plötzlich wieder auflebend. »Frühstücken! Ich bin halb verhungert. Ich habe seit unserem gräßlichen Abendessen gestern noch keinen Bissen gegessen. Du hast vermutlich schon gefrühstückt, aber komm, bitte, trotzdem mit und leiste mir Gesellschaft.«

Sie gingen durch die Westveranda, um nicht in der Diele auf Taylor zu stoßen.

Da Sophie zum Glück arbeitsunfähig zu sein schien, wurden sie von Frau Rosnes bedient, die sich ganz ruhig verhielt und gleich, nachdem das Frühstück serviert war, ohne jede Neugier in die Küche verschwand. Schon nach dem ersten Schluck Kaffee wurde Camilla wieder mobil. Und dann – beim Frühstück – erzählte sie Pete ausführlich, was sie erlebt hatte.

»Ich sah ihm, als er aus dem Haus gestürzt kam, gleich an, daß er jemand erschossen haben mußte, und natürlich konntest auch du es gewesen sein«, sagte sie. »Wenn er dich getötet hatte, dachte ich – nun, dann war ja alles einerlei. Dann konnte mir nichts mehr geschehen. Aber ich glaubte aus irgendeinem Grunde doch nicht recht daran. Und ich wußte genau, daß er mir, wenn ich erst aufgestiegen war, überhaupt nichts tun konnte. Schlimm war es nur anfangs, als er annahm, daß ich ihn hinhalten und nicht starten wollte. Ich hatte das Ventil geschlossen, verstehst du, und das Gas ging durch die Zuführung, und nun wußte er nicht, daß ich warten mußte, bis der Motor wieder anspringen konnte. Aber sobald wir dahinzugleiten begannen, war alles in Ordnung. Er versteht nichts von Flugzeugen; das hat er mir gestern selbst gesagt. Deshalb begann ich in einem Fünfzehnkilometerkreis höher und höher zu steigen, und das war gut! Ich sollte ihn nach dem Norden bringen, in irgendeine einsame Gegend von Wisconsin, aber ich sagte mir, daß er wohl kaum wissen konnte, welche Höhe ich erreichen mußte, um richtig loszufliegen. Als ich dann ungefähr siebentausend Meter hoch war, stoppte ich und ließ die Maschine ihren ersten Purzelbaum schlagen. Ich hörte, wie er hinter mir einen lauten Schrei ausstieß, und da wurde es mir völlig klar, daß ich richtig gehandelt hatte und daß er sehr bald zu mitgenommen sein würde, um den Revolver zu halten. Dann machte ich beim Niedergehen alles, was nur zu machen ging: Schleifen und Loopings, kurze Rollen und einen umgekehrten Sturzflug und eine Art selbsterfundenen Immelmann. Und dabei, Pete, hat er sich die ganze Zeit nur mit den Händen festhalten können. Vermutlich war er beim Start so sehr darauf bedacht, mich mit seinem Revolver in Schach zu halten, daß er gar nicht daran gedacht hatte, den Gurt umzuschnallen, und später klemmte sich die Schnalle unten fest. Und vielleicht wußte er überhaupt nicht, wozu der Gurt da war.«

Sie wurde wieder kreidebleich. Offenbar fühlte sie sich durch diese Dinge in ihrer Berufsehre verletzt; der Gedanke, daß sie einen Passagier durch Herausschleudern aus dem Apparat beinahe getötet hätte, selbst wenn dieser Passagier seinerseits nur auf die Gelegenheit lauerte, sie mit voller Überlegung umzubringen, hatte etwas allzu Grausiges für sie. Sie schüttelte den Kopf, als ob sie diesen Gedanken verscheuchen wollte und beschloß das Gespräch mit einem blassen Anflug von Humor.

»Einen solchen Flug hätte ich nie einem Menschen zugemutet. Dieses Vergnügen machte ich nur meinem eigenen Bruder.«

Nun, sie könnte ja die Wahrheit genau so gut schon jetzt erfahren – und das würde sie überdies ablenken –, sagte sich Murray. »Er ist ja gar nicht dein Bruder«, erklärte er laut. »Er ist – Emil.«


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