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42

Joan Carston schlief in der Nacht nicht; sie saß am Fenster und schaute unverwandt nach Wold House hinüber. Wenn doch nur das Licht aus seinem Fenster zu ihr herüberleuchten würde! Wenn sie nur den Klang seiner Stimme in diesen dunklen und stürmischen Stunden hören könnte! Ihr Herz sehnte sich nach ihm. Wie glücklich war sie doch gewesen, ohne es gewußt zu haben!

Als der Tag heraufdämmerte, kam ihr zum Bewußtsein, daß sie heute Creith verlassen sollte, aber sie konnte jetzt unmöglich fortgehen – sie mußte warten, falls Jim sie brauchen würde. Sie verurteilte ihn nicht; sie versuchte auch nicht, sich die Beweggründe seiner Handlungsweise klarzumachen. Sie konnte sich nur mit den Tatsachen abfinden und mußte sich ins Unvermeidliche fügen.

Am Morgen nach einem heißen Kaffee fühlte sie sich etwas erfrischt und ging ins Freie hinaus. Der Wind wehte kalt und scharf. Wasserlachen standen auf den Wegen. Dieses trübselige Wetter spiegelte nur die Stimmung in ihrem Innern wider. Ohne daß sie es wußte, ging sie die Auffahrt entlang, bis sie ans Parktor kam. Dort blieb sie stehen, faßte die kalten Eisenstangen mit den Händen und schaute durch das Gitter ins Leere.

Dann sah sie nach dem kleinen Haus von Mrs. Cornford hinunter und schauderte. Schnell wandte sie sich ab und ging zurück. Aber kaum hatte sie ein paar Schritte getan, als jemand sie anrief.

Sie entdeckte Welling.

»Waren Sie auch die ganze Nacht auf?« fragte sie. Er sah übernächtig aus, und seine Schuhe waren beschmutzt.

»Ich schließe aus Ihren Worten, daß Sie selbst nicht viel geschlafen haben«, erwiderte er. »Aber ich will Ihnen keinen Vorwurf machen. Der Wind blies diese Nacht so heftig, daß man nicht zur Ruhe kam. Ist Lord Creith schon aufgestanden?«

»Ja, ich glaube.«

»Sie haben in der letzten Zeit viel Aufregungen gehabt«, meinte der Detektiv, als er neben ihr herging. »Das ist doch ein sehr merkwürdiger Fall – wirklich sehr sonderbar. Haben Sie übrigens beobachtet, daß Morlake immer breite, amerikanische Schuhe trägt?«

»Nein, ich kann mich auf keine Einzelheiten seiner Kleidung besinnen«, sagte sie schnell, um Jim nicht durch eine unfreiwillige Aussage zu schaden.

»Es ist aber eine Tatsache, daß er amerikanische Schuhe trägt«, erwiderte Welling. »Er hat überhaupt keine anderen, ich habe nämlich sein Haus durchsucht –«

»Ist er fort?«

»Spurlos verschwunden! Man kann es nicht anders nennen. Das ist das Schlimmste bei diesen klugen und gewitzten Menschen: Wenn sie verschwinden, dann tun sie es so gründlich, daß man von ihnen keine Spur mehr findet. Ein gewöhnlicher Verbrecher würde seine Visitenkarte an jedem Meilenstein zurücklassen.«

Er wartete, ob sie etwas entgegnen würde. Aber erst nach einer Pause nahm sie allen Mut zusammen, um eine Frage zu stellen.

»Welche Bedeutung haben die breiten Schuhe?«

»Ich kann es Ihnen ja sagen. Der Mann, der Farringdon ermordete, trug spitze Schuhe.«

Sie wandte sich blitzschnell zu ihm um.

»Meinen Sie – daß Jim Morlake nicht der Täter war?« fragte sie zitternd. »Captain Welling, wollen Sie mir eine Falle stellen, um mich zu einer Aussage zu zwingen?«

»Ich bin zu allem, auch dazu, fähig«, gestand er und schüttelte traurig den Kopf. »Es gibt keine Lüge und keine Arglist, die ich nicht anwenden würde, Lady Joan. Aber diesmal bin ich vollständig ehrlich. Die Fußspuren, die wir auf dem Beet unter dem Fenster gefunden haben, zeigen deutlich, daß der Täter französische Schuhe trug, die vorne spitz zulaufen. Auch die Pistole, mit der er Farringdon erschoß, hat ein viel schwereres Kaliber als irgendeine Waffe in Morlakes Besitz. Ich kenne alle seine Waffen und könnte schwören, daß er nie die Pistole besaß, mit der Farringdon getötet wurde. Sie glaubten wohl, daß es Morlake war?«

»Ja, das dachte ich. Ich war Augenzeugin, als Farringdon erschossen wurde«, sagte sie mit einem plötzlichen Entschluß.

»Das wußte ich. In dem weichen Boden konnte ich Ihre Fußabdrücke deutlich sehen. Glauben Sie, daß der Mann mit den spitzen Schuhen von Ihrer Gegenwart wußte? Übrigens noch eine Frage – haben Sie sein Gesicht gesehen? Trug er eine schwarze Maske?«

»Ja.«

»War er auch von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet wie Mr. Morlake? Ich dachte es mir doch«, meinte er, als sie nickte. »Das kann natürlich Zufall gewesen sein, aber ich glaube nicht daran. Vielleicht können Sie mir noch eine kleine Mitteilung machen, die wir dringend brauchen«, sagte er und blieb stehen. »Wer trägt in Creith außer Ihrem Vater noch spitze, französische Schuhe?«


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