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6

»Hat es nicht eben gedonnert?« fragte Lord Creith. Er hob die Hand zum Mund, um ein Gähnen zu verbergen.

Auch Joan fühlte sich gelangweilt. Das Essen nahm kein Ende.

»Es klang fast so«, erwiderte Hamon und fuhr aus seinen unangenehmen Gedanken auf.

»Im Oktober sind Gewitter sehr selten«, meinte der Lord. »Ich kann mich daran erinnern, als ich noch ein Junge war ...«

Er machte einen schwachen Versuch, die andern durch eine Geschichte zu unterhalten, die jedoch niemand fesselte. Er schien es auch zu fühlen und brach bald ab. Aber dann brachte er das Gespräch plötzlich auf ein Thema, das seine beiden Tischgenossen in hohem Maße interessierte.

»Ich habe Stephens nach diesem Morlake gefragt. Ein merkwürdiger Mensch. Niemand weiß auch nur das Geringste über ihn. Vor drei Jahren kam er von irgendwoher, kaufte Wold House und ließ sich hier als Gutsbesitzer nieder. Er beteiligt sich an keiner Jagd, keinem Ball, lehnt alle Einladungen ab, die ihm geschickt werden, und hat offenbar weder Bekannte noch Freunde. Ein ganz eigentümlicher Kerl!«

»Das kann ich nur bestätigen!«

Mr. Hamon lachte laut, und Joan sah ihn erstaunt an.

»Kennen Sie ihn denn?«

»Ziemlich genau – er ist ein amerikanischer Verbrecher!«

Joan versuchte vergeblich, ihre Erregung zu verbergen. Aber anscheinend übersah Hamon das Wohlwollen und die Sympathie, die der Besitzer von Wold House hier genoß. Er freute sich über das Aufsehen, das seine Worte hervorriefen.

»Ja, er ist ein Verbrecher, einer der größten Geldschrankknacker und Erpresser! Wie er in Wirklichkeit heißt, weiß ich nicht.«

»Aber dann ist die Polizei doch sicher über ihn informiert«, meinte Lord Creith verwundert.

»Das mag sein, aber ein Mann wie Morlake, der so viel Geld hat, braucht die Polizei nicht zu fürchten.«

Joan hatte bis jetzt sprachlos zugehört.

»Woher wollen Sie denn das alles wissen?« fragte sie, als sie ihre Stimme wieder beherrschte.

Hamon zuckte die Schultern.

»Vor einigen Jahren bin ich einmal mit ihm aneinandergeraten. Er dachte, er habe etwas entdeckt, was ihm eine gewisse Macht über mich gebe, und versuchte, mich zu erpressen. Er entkam nur mit genauer Not. Das nächstemal wird es ihm nicht glücken! Und das nächstemal –« er öffnete und schloß die Hand, als ob er jemand erwürgen wollte »– wird recht bald kommen! Ich habe ihn in meiner Gewalt.«

Joan haßte Ralph Hamon in diesem Augenblick über alle Maßen, obwohl er sie eigentlich nicht beleidigt hatte.

»Ich sagte schon, daß ich nicht weiß, wie er in Wirklichkeit heißt. Die Polizei beobachtet ihn seit Jahren, aber sie hat noch nie genügend Material gegen ihn sammeln können, um ihn vor Gericht zu bringen.«

»Ich habe aber noch nie etwas davon erfahren«, unterbrach ihn Lord Creith, »und ich bin doch hier der Ortsvorstand. Die hiesige Polizei hat nichts gegen ihn, im Gegenteil, man spricht ganz gut von Mr. Morlake.«

»Als ich eben die Polizei erwähnte, meinte ich damit Scotland Yard in London, und die Leute dort reden natürlich nicht darüber.«

»Ich kann das alles nicht glauben!« Joans lange unterdrückte Entrüstung kam zum Durchbruch. »Wahrscheinlich haben Sie irgendwelche Schauergeschichten gehört, die Ihre Phantasie jetzt verwirren!«

Hamon lächelte.

»Ich gebe zu, daß es recht unglaubhaft klingt, aber es ist die volle Wahrheit. Ich habe Morlake erst heute morgen gesprochen. Er war auf das unangenehmste überrascht, als er mich sah, das kann ich Ihnen sagen. Am meisten schien er sich darüber zu ärgern, daß ich ihn wiedererkannte. Er bat mich auch händeringend, es niemand zu erzählen –«

»Das ist nicht wahr! Unter keinen Umständen kann das stimmen!« erklärte Joan zornig. »Mr. Morlake ist der letzte, der einen anderen um etwas bitten würde. Ich glaube auch nicht, daß er ein Dieb ist.«

»Ist er denn Ihr Freund?«

»Ich bin ihm noch nie begegnet.«

Ein verlegenes Schweigen trat ein, aber Ralph Hamon hatte ein dickes Fell. Obwohl sie ihm auf den Kopf zusagte, daß er log, fühlte er sich nicht im mindesten verletzt.

Als sich Lord Creith in sein Zimmer zurückgezogen hatte, ging Joan hinaus, um die aufflammenden Blitze am südlichen Himmel zu beobachten. Sie wollte allein sein, doch Hamon folgte ihr.

»Es sieht so aus, als ob wir eine stürmische Nacht bekämen«, meinte er, um eine Unterhaltung zu beginnen.

Sie gab ihm recht und wollte wieder ins Haus zurückkehren, aber er hielt sie an.

»Wo haben Sie denn die Bekanntschaft der Dame gemacht, die dort drüben wohnt?«

»Sprechen Sie etwa von Mrs. Cornford? Ist sie vielleicht auch eine Verbrecherin?« fragte sie scharf.

Er lächelte nachsichtig über die sarkastische Bemerkung.

»Das nicht gerade. Ich interessiere mich nur für sie. Es kommt mir vor, als hätte ich sie schon vor Jahren einmal gesehen. Ich vermute, daß sie mich noch kennt. Hat sie Ihnen etwas davon gesagt?«

»Sie hat Ihren Namen niemals erwähnt – wahrscheinlich, weil ich mit ihr nicht über Sie gesprochen habe«, antwortete Joan etwas erstaunt.

»Ich glaube mich daran zu erinnern, daß sie nicht ganz richtig im Kopf war – sie war ein Jahr in einer Irrenanstalt.«

Joan lachte laut auf.

»Ausgezeichnet! Wer von meinen Freunden nicht gerade ein Verbrecher ist, wird von Ihnen für wahnsinnig erklärt!«

»Ich wußte nicht, daß er Ihr Freund ist«, sagte er schnell und trat an sie heran.

»Mr. Morlake ist unser Nachbar, und Nachbarn sind nach alter Sitte unsere Freunde. Wir gehen jetzt aber besser hinein.«

»Einen Augenblick noch.«

Er nahm ihren Arm, und sie machte sich durch eine leichte Bewegung wieder frei: »Was wollen Sie mir denn noch sagen?«

»Hat Ihr Vater über meinen Antrag mit Ihnen gesprochen?«

»Ja, es war die Rede davon«, erwiderte sie gleichgültig. »Ich erklärte ihm, daß ich nicht den Wunsch habe, Sie zu heiraten, obwohl ich gut verstünde, welches Kompliment Sie mir mit Ihrem Antrag machten.«

Hamon räusperte sich. »Erwähnte er auch die Tatsache, daß in Wirklichkeit ich der Eigentümer der Creithschen Güter bin?«

»Auch das hat er mir gesagt.«

»Ich nehme an, daß Ihnen das Stammhaus der Creith doch ein wenig am Herzen liegt? Ihre Vorfahren haben es seit Hunderten von Jahren besessen!«

»Sicher, es ist mir sehr teuer«, entgegnete sie steif. »Aber es ist mir doch nicht so kostbar, daß ich das Glück meines Lebens opfern würde, um den Titel einer Herrin von Creith zu behalten. Es gibt noch viel schlimmere Dinge, als heimatlos zu sein, Mr. Hamon.«.

Sie machte eine Bewegung, als ob sie gehen wollte, aber wieder hielt er sie zurück.

»Warten Sie noch«, sagte er leidenschaftlich. »Joan, ich bin zwanzig Jahre älter als Sie, aber Sie sind die Frau, von der ich geträumt habe, solange ich denken kann. Es gibt nichts, das ich nicht für Sie tun könnte, kein Dienst wäre mir zu schwer. Ich muß Sie besitzen!«

Bevor sie wußte, was geschah, hatte er sie in die Arme geschlossen. Sie wehrte sich und wollte sich frei machen, aber er umklammerte sie fest.

»Lassen Sie mich gehen – wie dürfen Sie das wagen!«

»Ruhe!« zischte er. »Ich liebe Sie, Joan, obwohl Sie mich mit Ihrem Hochmut tief gekränkt haben. Ich liebe Ihr süßes Gesicht, Ihre Augen, Ihren herrlichen, schlanken Körper ...«

Sie bog den Kopf zur Seite, um dem Kuß seiner gierigen Lippen zu entgehen. Im selben Augenblick klang die Stimme ihres Vaters von der Halle zu ihnen herüber.

»Bist du noch draußen, Joan?«

Hamon ließ die Arme sinken, und sie taumelte zitternd vor Schrecken und Abscheu zurück.

»Es tut mir sehr leid, daß ich mich so vergaß«, flüsterte er.

Sie konnte nicht sprechen und zeigte nur zur Tür. Er verließ sie und ging hinein. Erst nach einigen Minuten folgte sie ihm.

Lord Creith schaute mit seinen kurzsichtigen Augen prüfend auf seine Tochter.

»Ist etwas passiert?« fragte er, als er ihre Blässe bemerkte.

»Nein, Vater.«

Er sah sich um. Hamon war verschwunden.

»Ein Mensch ohne Erziehung – ich werde ihn aus dem Hause weisen, wenn du es wünschest, mein Liebling.«

»Ach, das ist nicht notwendig. Aber wenn er morgen nicht von selbst verschwindet, wollen wir dann nicht lieber nach London gehen?«

»Ja, das wollen wir tun.«


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