Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9

Joan kam am nächsten Morgen frühzeitig herunter, denn sie wollte mit dem Frühstück fertig sein, bevor Mr. Hamon aufstand. Sie hatte ihre Mahlzeit auch beinahe beendet, als er in das Zimmer stürzte. Sein Anblick war jedoch nichts weniger als gesellschaftsfähig. Er trug nur Strümpfe, eine Hose, von der die Träger herabhingen, und eine lebhaft gestreifte Pyjamajacke. Außerdem war er nicht rasiert, und Wut und Ärger entstellten seine Züge.

»Wo ist Stephens?« rief er wild. Aber plötzlich erkannte er, daß weder sein Ton noch seine äußere Erscheinung den Regeln des Anstands entsprachen, und er wurde sehr höflich. »Entschuldigen Sie bitte, Lady Joan, aber ich bin furchtbar aufgeregt – ich bin bestohlen worden!«

Sie schaute ihn mit großen Augen an.

»Hat man Ihnen vielleicht die Schuhe oder den Rock weggenommen?« fragte sie ironisch.

Er wurde rot.

»Ich entdeckte es gerade im Augenblick – ich meine den Diebstahl. In der vergangenen Nacht ist jemand in mein Zimmer eingebrochen und hat meine Brieftasche mit dreitausend Pfund gestohlen – das kann kein anderer gewesen sein als dieser Hund – dieser Morlake! Ich habe diesem Schwein auch noch eine Chance gegeben –«

»Es ist sehr schade, daß der Einbrecher nicht auch Ihren Wortschatz gestohlen hat«, erwiderte sie kühl.

Sie war durchaus nicht so gleichgültig, wie sie vorgab. Morlake war also doch zurückgekommen!

Sie hatte sich durch den Lichtschein in dem Zimmer von Wold House irreführen lassen. Aber vielleicht war James Morlake auch gar nicht dafür verantwortlich? Nach den etwas verworrenen Angaben Hamons, den Aussagen Stephens' und den Überlegungen ihres Vaters war offensichtlich in den frühen Morgenstunden irgendein Unbekannter durch eines der Fenster eingedrungen und hatte unter dem Kopfkissen Ralph Hamons eine Brieftasche entwendet, die etwa drei- bis viertausend Pfund enthielt. Auch hatte er sich den Scherz erlaubt, den Revolver, der auf einem Tisch an Hamons Bett lag, zu entladen.

»Also, mein Lieber«, sagte Lord Creith, der durch die dauernde Wiederholung der Geschichte und die Aufzählung der Einzelheiten gelangweilt wurde, »es ist doch das Einfachste von der Welt, wenn Sie sich an die allerdings etwas langsame Polizei wenden und der alles berichten. Die Leute sind unten im Garten und trampeln meine Blumenbeete kaputt. Die interessieren sich viel mehr als ich dafür, daß Sie Mr. Morlake im Verdacht haben. Als Ortsvorsteher werde ich gern den Haftbefehl gegen ihn unterschreiben oder, was in diesem Fall bedeutend wichtiger wäre, sein Haus durchsuchen lassen. Wenn er Ihr Geld gestohlen hat, wird man es ja auch bei ihm finden.«

»Nein, das möchte ich nicht«, entgegnete Hamon etwas kleinlaut. »Ich habe keine Beweise.«

»Aber Sie haben doch behauptet, daß die Polizei ihn dauernd beobachtet«, mischte sich Joan in die Unterhaltung. Sie erkannte jedoch sofort, daß ihre Bemerkung vielleicht dazu beitragen könnte, den Dieb zu fangen, und es lief ihr heiß und kalt den Rücken hinunter.

»Mein Freund, Inspektor Marborne, überwacht ihn seit Jahren. Nein, ich will diesen Fall nicht der Ortspolizei übergeben, die würde die ganze Sache verpfuschen. Außerdem ist ein Mann wie Morlake viel zu schlau, das gestohlene Geld in seinem Haus aufzubewahren. Ich gehe später hin und spreche selbst mit ihm.«

Er sah böse zu Joan hinüber, als sie lachte.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich, »aber das klingt mir doch sehr komisch, daß der Bestohlene selbst mit dem Dieb verhandelt. Wollen Sie das tatsächlich tun?«

»Auf alle Fälle war es grenzenlos töricht, so viel Geld in der Tasche herumzuschleppen«, mischte sich Lord Creith ein. »Dreitausend Pfund bringt man auf die Bank, mein Lieber! Wozu gibt es denn Safes und Stahlkammern?« Er schaute auf die Uhr. »In einer halben Stunde fahre ich in die Stadt. Leider kann ich Sie nicht einladen, mitzukommen, weil in meinem Auto nur zwei Personen Platz haben.«

»Ach, Sie fahren in die Stadt?« fragte Hamon enttäuscht. »Ich dachte, Sie würden den Rest der Woche noch hier verbringen.«

»Ich habe es Ihnen doch schon am Montag gesagt«, erwiderte der Lord, obgleich das nicht stimmte. »Bei Tattersall ist morgen eine große Auktion, bei der ich zugegen sein will, und Joan muß zu ihrem Zahnarzt ... Wenn es Ihnen beliebt, können Sie ruhig hierbleiben, ich möchte Sie in Ihren Plänen durchaus nicht stören.«

»Wann kommen Sie zurück?«

»Wahrscheinlich in einem Monat.«

Ralph Hamon überlegte sich, daß es auch für ihn besser war, in die Stadt zu fahren. Er bemerkte, daß sein Wagen groß genug sei, alle mitzunehmen, aber man achtete nicht auf seinen Vorschlag.

»Die Sache hätten wir nun also glücklich hinter uns«, meinte Lord Creith mit einem Seufzer der Erleichterung, als sein Auto durch das Tor auf die Hauptstraße fuhr. »Hamon ist ja sonst eine ganz hervorragende Persönlichkeit, aber er fällt mir doch auf die Nerven.«


 << zurück weiter >>