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31

Er mußte träumen! Das konnte doch nicht wahr sein! Es war zu absurd. Sie wollte ihn ebenso erschrecken, wie sie Lydia Hamon erschreckt hatte. Sicherlich war das nicht wahr...

Er hielt wieder vor dem Hause von Mrs. Cornford. Er hätte ja hineingehen, sich Gewißheit verschaffen können, aber eben sah er den Doktor aus der Tür kommen. Der alte Mann nickte ihm freundlich lächelnd zu.

»Wie geht es Ihrem Patienten?« fragte Jim.

»Sehr schlecht. Ich fürchte, er hat Angina. Er ist kraftlos und kann der Krankheit keinen Widerstand entgegensetzen. Ein merkwürdiger Kerl, dieser Farringdon! Hat eine Hochschule besucht, aber die Haare würden Ihnen zu Berge stehen, wenn Sie gehört hätten, was er im Delirium redete. Wissen Sie eigentlich etwas von Mitternachtsmönchen?«

»Wovon?«

»Von Mitternachtsmönchen. Sie sind doch weit in der Welt herumgekommen. Es muß irgendeine Geheimgesellschaft sein. Er hat die ganze Zeit davon geschwatzt. Eigentlich dürfte ich ja nicht darüber sprechen. Neben den Mitternachtsmönchen erwähnte er immer noch den Namen Joan.«

Jim sagte nichts darauf, und der Arzt verabschiedete sich.

Tief in Gedanken versunken ritt Morlake weiter. Joan hatte ihn erschrecken wollen, das war die einzige Erklärung. Hierbei blieb er und betrog sich selbst.

Er bog nach Wold House ein, als ein großer italienischer Wagen an ihm vorbeifuhr. Einen kurzen Augenblick konnte er den Mann sehen, der darin saß. Hamons Anwesenheit würde hier niemand Glück bringen, ihm am allerwenigsten.

»Polizeibeamte waren hier!« sagte Binger, der ihm auf der Zufahrtsstraße entgegenkam, etwas theatralisch.

»Wer denn? Spooner und Finnigan?«

»Die beiden und noch einer. Der wollte wissen, ob Sie letzte Nacht ausgegangen seien. Aber ich wußte ja ganz genau, daß Sie hier waren, und habe das auch zu Protokoll gegeben.«

»Wann sind sie fortgegangen?«

»Sie sind noch in Ihrem Arbeitszimmer. Der eine Herr sagte, daß er sich nicht wohl fühle und sich ein wenig hinsetzen müsse. Draußen scheine ihm die Sonne zu stark.«

»Wir haben seit einem Monat überhaupt keinen Sonnenschein gehabt – ich nehme an, daß dieser dritte Welling heißt. Was Sie eben sagten, klingt ganz nach ihm.«

»Stimmt. Er ist ein älterer Mann, der nicht ganz richtig im Kopf sein muß. Er ist ein wenig kindisch. Den Plattenspieler hat er auf den Tisch gestellt und gefragt, wofür denn die kleinen Löcher an der Seite seien. Es ist schrecklich, wenn man einen Menschen sieht, der seinen Verstand nicht ganz beisammen hat.«

Als Jim in sein Arbeitszimmer kam, bewunderte Welling gerade eine große Radierung, die über dem Kamin hing.

»Da sind Sie ja endlich, Morlake. Ich dachte, es sei gut, wenn ich mich einmal nach Ihnen erkundigte. Erst gestern abend habe ich entdeckt, daß ohne mein Wissen zwei Leute vom Yard hierhergeschickt wurden, um Sie zu beobachten. Ich finde das nicht richtig«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Sobald ich es entdeckte, entschloß ich mich, die Beamten zu entfernen. Ich möchte Sie nicht ärgern; Sie müssen sich frei bewegen können, Morlake.«

Jim lachte laut.

»Ich zweifle nicht im geringsten daran, daß Sie selbst die Detektive beauftragt haben, mich zu überwachen.«

»Und ich zweifle noch weniger daran«, gab Welling reumütig zu, »daß ich sie tatsächlich herschickte. Das ist das Schlechteste an unserem Beruf, daß wir dauernd lügen müssen.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Und dann solche unnötigen Lügen. Mir graut manchmal vor mir selbst, wenn ich daran denke, was ich so tagsüber zusammengelogen habe. Sie haben da einen netten Plattenspieler – haben Sie auch Platten?«

»Massenhaft«, antwortete Jim prompt.

»Sehen Sie mal an. Ich hatte den Apparat gerade vorhin angedreht.« Bei diesen Worten schaltete er ihn an, und der Plattenspieler bewegte sich langsam. »Der kriecht wie eine Schnecke. Nun dachte ich mir, wenn Sie eine Lampe hätten und sie in die Mitte setzten, dann könnte man eine Pappfigur von der Gestalt eines Mannes ausschneiden und den Apparat so aufstellen, daß jedesmal der Schatten die Vorhänge trifft, wenn die Figur vorübergeht. Wie gefällt Ihnen die Idee? Wenn ich mein kleines Buch über Einbrecher schreibe, dann werde ich diese Sache ganz bestimmt erwähnen – sogar mit Illustrationen.«

Jim verschob den Regulator, und die Scheibe drehte sich nun schnell.

»Das beweist nur, wie selbst ein schlauer Plan aus Mangel an Vorsicht scheitern kann. Wenn ich ein Verbrecher gewesen wäre, wenn ich die Polizei hätte täuschen wollen, dann hätte ich doch vor allem den Hebel auf normale Gangart zurückstellen müssen. Bitte, vergessen Sie nicht, auch das in Ihrem Buch zu erwähnen.«

»Sicherlich werde ich das nicht vergessen«, gab der Detektiv schalkhaft zu. »Ich danke Ihnen für Ihre Informationen.«

Er sah sich nach Spooner und Finnigan um.

»Also, die Sache ist in Ordnung – ich glaube nicht, daß Sie hier noch zu warten brauchen. Sie fahren beide mit dem nächsten Zug in die Stadt zurück. Inzwischen möchte ich mit Mr. Morlake noch etwas privatim besprechen.«

Er verbeugte sich leicht, ging zum Fenster und beobachtete, wie die beiden Beamten verschwanden.

»Gute Leute«, meinte er und wandte sich wieder an Jim. »Kein bißchen Verstand, aber von idealer Pflichttreue. Sagen Sie mal, Morlake, wo waren Sie eigentlich letzte Nacht?«

»Wo soll ich denn gewesen sein?« Jim nahm seine Pfeife vom Kamin und stopfte sie.

»Ich nehme an, daß Sie in dem Haus Cambridge Circus Nr. 302 waren und den Geldschrank unseres Freundes Marborne ein wenig öffneten. Und wenn ich sage, ich nehme es an, dann heißt das, ich weiß es genau. Morlake, das gehört sich doch nicht.« Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Ein Hund beißt doch nicht den anderen, und ein Dieb darf doch nicht den anderen berauben. Dieser Marborne war der größte Dieb, der je Polizeiuniform getragen hat. Der Himmel und unser Chef wissen es genau. Haben Sie denn wenigstens das gefunden, was Sie suchten?«

»Nein.«

»Aber warum nahmen Sie dann das Geld?«

»Was für Geld?« fragte Jim unschuldig.

Captain Welling setzte sich in einen Sessel und zog die Falten seiner Hose hoch.

»Ich sehe schon, wir müssen uns erst eine Weile streiten.«

»Um Himmels willen, ich nähme doch nur Geld, wenn es dem Mann gehörte, den ich beraube.«

Welling nickte.

»Das habe ich schon vermutet – aber es war doch Marbornes Eigentum. Können Sie mir eigentlich sagen, welchen Einfluß Marborne auf Hamon hat?«

»Soviel ich weiß, erpreßt er ihn, weil er ein Dokument hat, das für Hamon sehr belastend ist. So sehe ich wenigstens den Fall an.«

»Mysteriöse Angelegenheit, die ich nicht verstehe. Da ist also ein Dokument, das Sie haben wollen und das nach Ihrer Behauptung Marborne besitzt. Wenn dieses Schriftstück in die Hände der Polizei oder des Gerichts fiele, würde das für Hamon katastrophale Folgen haben. Habe ich bis dahin alles richtig gesagt?«

»Ja, soweit wie möglich.«

»Nun gut.« Welling legte die Spitzen der Finger zusammen. »Also zuerst haben wir ein Dokument oder einen Brief, ein Protokoll oder so was Ähnliches, dessen Bekanntwerden, sagen wir einmal, Hamon in eine böse Lage bringt. Warum in aller Welt vernichtet der Mann dieses Dokument nicht?«

Ein feines Lächeln zeigte sich auf Jims Zügen.

»Weil er eben wie ein Affe ist. Er hat seine Hand in die Kürbisflasche gesteckt, hat die Frucht darin ergriffen und kann nun die Hand nicht herausziehen, ohne seine Beute fahrenzulassen.«

»Ich habe zwar gehört, daß er ein Geizhals ist – aber warum bewahrt er denn eine Sache auf, die ihn –«

»An den Galgen bringt«, ergänzte Jim.

Welling machte ein ernstes Gesicht.

»Ist es wirklich so schlimm? Ich ahnte es. Der Mann ist verrückt. Für eine solche Wahnsinnstat gibt es überhaupt keinen Präzedenzfall in der Geschichte der Justiz. Ein Mann mag solch ein Dokument aufheben, weil er nachlässig ist, oder weil er es vergessen hat – aber absichtlich! Hat er es denn geschrieben?«

»Nein, ein anderer. Es enthält eine Anklage, daß er einen großen Betrug plante und jemand zu ermorden versuchte.«

»Ich gebe es auf, diese Sache zu entwirren«, meinte Welling und schüttelte den Kopf. »Aber unter allen Umständen wird es Hamons Untergang sein.«

»Er ist übrigens schon wieder hier.«

Jim hatte Welling gern, und unter gewöhnlichen Umständen hätte er sich über seine Gesellschaft gefreut, aber jetzt war er nicht in der Stimmung, Menschen um sich zu haben, und er war froh, als der Detektiv ging. Die Erklärung Joan Carstons hatte ihn sehr mitgenommen. Er glaubte jetzt, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Mit ihm würde sie nicht spielen. Zweimal ritt er an diesem Tage noch zu Mrs. Cornford und fragte nach dem Patienten.

»Es geht ihm sehr schlecht, aber der Arzt hat Hoffnung.«

»Wissen Sie eigentlich Genaueres über Mr. Farringdon?«

»Ich weiß nur wenig. Er hat fast keine Freunde. Ein Anwalt aus der Stadt zahlt ihm pünktlich eine Rente aus. Wenn ich nur wüßte, wie ich seine Verwandten benachrichtigen kann, aber er spricht von nichts anderem als diesen Mitternachtsmönchen, und der einzige Name, den er außer dem eines Mädchens erwähnt, ist Bannockwaite. Er kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich kann nicht sagen, woher ich ihn kenne.«

Jim hatte den Namen auch schon gehört, besann sich aber nur darauf, daß er mit irgendwelchen unangenehmen oder bösen Dingen verknüpft war. Plötzlich kam ihm ein Einfall. Welling hatte ihm gesagt, daß er noch einen oder zwei Tage im Dorf bleiben wolle. Jim ritt also zum ›Roten Löwen‹, wo der Beamte sein Quartier aufgeschlagen hatte und fand ihn vor einem großen Bierglas sitzend.

»Kennen Sie einen gewissen Bannockwaite?«

»Früher kannte ich einen Mann dieses Namens«, entgegnete der Detektiv sofort. »Er war ein furchtbares Rauhbein. Erinnern Sie sich nicht an den Fall? Ein junger Geistlicher, der sich unmöglich machte und aus der Kirche ausgeschlossen wurde? Er hatte eigentlich nicht viel verbrochen, er war von Natur ein Teufel, und es gibt keinen größeren Fehler, als die geistliche Karriere einzuschlagen, wenn man nicht dazu berufen ist. Später war er in eine Falschspieleraffäre verwickelt und geriet auch in unsere Hände. Aber es wurde keine Klage gegen ihn erhoben. Bei Kriegsausbruch meldete er sich freiwillig, erhielt das Victoriakreuz und fiel an der Somme. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn in Verbindung mit einer der Geheimgesellschaften, die er gründete.«

»Welche Geheimgesellschaften meinen Sie?«

»Als er noch auf die Schule ging, hat er mit einer solchen Geschichte nicht nur seine Kameraden in Verwirrung gebracht, sondern auch noch ein Dutzend andere Institute.«

»Auf welcher Schule war er denn? Aber das werden Sie wohl nicht wissen.«

»Zufällig weiß ich es noch. Es war Hulston – das ist eine große Schule in Berkshire.«

Jim ging nach Hause und schrieb an den Schuldirektor in Hulston.

Spät am Nachmittag sah er Hamons Wagen in der Richtung nach London vorbeifahren und wunderte sich, welches dringende Geschäft den Finanzmann wohl in die Stadt zurücktreiben mochte.

Nach Mitternacht kehrte Hamon schon wieder zurück. Er hatte in London zwei nützliche Stunden verbracht und mit einem Fremden gesprochen, der gerade angekommen war. Die Unterhaltung war nur auf arabisch geführt worden.


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