Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

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[ VII ]

In der hiermit beendigten Darstellung habe ich Möglichkeiten des Ausdruckes bezeichnet, deren eine dichterische Absicht sich bedienen kann, und deren die höchste dichterische Absicht zu ihrer Verwirklichung sich bedienen muß. Die Wahrmachung dieser Möglichkeiten des Ausdruckes bedingt sich einzig aus der höchsten dichterischen Absicht: diese kann aber erst gefaßt werden, wenn der Dichter jener Möglichkeiten sich bewußt ist. –

Wer mich hiergegen so verstanden hat, als wäre es mir darum zu tun gewesen, ein willkürlich erdachtes System aufzustellen, nach dem fortan Musiker und Dichter arbeiten sollten, der hat mich nicht verstehen wollen. – Wer ferner aber glauben will, das Neue, was ich etwa sagte, beruhe auf absoluter Annahme und sei nicht identisch mit der Erfahrung und der Natur des entwickelten Gegenstandes, der wird mich nicht verstehen können, auch wenn er es wollte. – Das Neue, das ich etwa sagte, ist nichts anderes als das mir bewußt gewordene Unbewußte in der Natur der Sache, das mir als denkendem Künstler bewußt ward, da ich das nach seinem Zusammenhange erfaßte, was von Künstlern bisher nur getrennt gefaßt worden ist. Ich habe somit nichts Neues erfunden, sondern nur jenen Zusammenhang gefunden. –

 

Es bleibt mir nur noch übrig, das Verhältnis zwischen Dichter und Musiker, wie es aus der obigen Darstellung hervorgeht, zu bezeichnen. Um dies in Kürze zu tun, beantworten wir uns zunächst die Frage: »Hat sich der Dichter dem Musiker und der Musiker dem Dichter gegenüber zu beschränken

Die Freiheit des Individuums hat bisher nur in einer – weisen – Beschränkung nach außen möglich geschienen: Mäßigung seiner Triebe, somit der Kraft seines Vermögens war die erste Anforderung der staatlichen Gemeinsamkeit an den einzelnen. Die volle Geltendmachung einer Individualität mußte als gleichbedeutend mit der Beeinträchtigung der Individualität anderer angesehen werden, und Selbstbeschränkung der Individualität war dagegen höchste Tugend und Weisheit. – Genaugenommen war diese, vom Weisen gepredigte, von Lehrdichtern besungene, vom Staate endlich als Untertanspflicht, von der Religion als Pflicht der Demut geforderte Tugend eine niemals vorhandene, gewollte – aber nicht ausgeübte, gedachte – aber nicht verwirklichte; und solange eine Tugend gefordert wird, wird sie in Wahrheit auch nicht ausgeübt werden. Die Ausübung dieser Tugend war entweder eine despotisch erzwungene – somit also ohne das Verdienst der Tugend, wie es gedacht wurde; oder sie war eine notwendig freiwillige, unreflektierte, und dann war die ermöglichende Kraft nicht der selbstbeschränkende Wille, sondern – die Liebe. – Dieselben Weisen und Gesetzgeber, welche die Ausübung der Selbstbeschränkung durch Reflexion forderten, reflektierten nicht einen Augenblick darüber, daß sie Knechte und Sklaven unter sich hatten, denen sie jede Möglichkeit der Ausübung dieser Tugend abschnitten, und doch waren diese in Wahrheit die einzigen, welche sich wirklich um eines anderen willen beschränkten, weil sie dazu gezwungen waren: unter sich bestand bei jener herrschenden und reflektierenden Aristokratie die Selbstbeschränkung nur in der Klugheit des Egoismus, die ihnen die Absonderung, das Unbekümmertsein um andere anriet, und dieses Gehenlassen anderer, das in äußerlichen, der Hochachtung und Freundschaft abgeborgten Formen sich einen ganz anmutigen Schein zu geben wußte, war ihnen gerade nur dadurch möglich, daß andre Menschen, eben als Knechte und Hörige, ihnen zu Gebote standen, die jene abgesonderte, wohlbegrenzte Selbständigkeit ihren Herren einzig ermöglichten. Wir sehen in der, jeden wahrhaften Menschen empörenden, furchtbaren Entsittlichung unsrer heutigen sozialen Zustände das notwendige Ergebnis der Forderung einer unmöglichen Tugend, die schließlich durch eine barbarische Polizei geltend erhalten wird. Nur das gänzliche Verschwinden dieser Forderung und der Gründe, aus denen sie gestellt wurde – nur die Aufhebung der unmenschlichsten Ungleichheit der Menschen in ihrer Stellung zum Leben kann den gedachten Erfolg der Anforderung der Selbstbeschränkung herbeiführen, und zwar durch die Ermöglichung der freien Liebe. Die Liebe aber führt jenen gedachten Erfolg in unermeßlich erhöhtem Maße herbei, denn sie ist eben nicht Selbst beschränkung, sondern unendlich mehr, nämlich – höchste Kraftentwickelung unsres individuellen Vermögens – zugleich mit dem notwendigsten Drange der Selbstaufopferung zugunsten eines geliebten Gegenstandes. –

Wenden wir nun diese Erkenntnis auf den vorliegenden Fall an, so sehen wir, daß Selbst beschränkung des Dichters wie des Musikers in ihrer höchsten Konsequenz den Tod des Dramas herbeiführen, oder vielmehr seine Belebung gar nicht erst ermöglichen würde. Sobald Dichter und Musiker sich gegenseitig beschränkten, könnten sie nichts anderes vorhaben, als jeder seine besondere Fähigkeit für sich glänzen zu lassen, und da der Gegenstand, an dem sie diese Fähigkeiten zum Glänzen brächten, eben das Drama wäre, so würde es diesem natürlich wie dem Kranken zwischen zwei Ärzten gehen, von denen jeder seine Geschicklichkeit nach einer entgegengesetzten Richtung der Wissenschaft hin zeigen wollte: der Kranke würde bei der besten Natur zugrunde gehen müssen. – Beschränken sich Dichter und Musiker nun gegenseitig aber nicht, sondern erregen sie in der Liebe ihr Vermögen zur höchsten Macht, sind sie in der Liebe somit ganz, was sie irgend sein können, gehen sie in dem sich dargebrachten Opfer ihrer höchsten Potenz gegenseitig in sich unter – so ist das Drama nach seiner höchsten Fülle geboren. –

Ist die dichterische Absicht – als solche – noch vorhanden und merklich, so ist sie im Ausdrucke des Musikers noch nicht untergegangen, d. h. verwirklicht; ist aber der Ausdruck des Musikers – als solcher – noch kenntlich, so ist er auch von der dichterischen Absicht noch nicht erfüllt; und erst wenn er in der Verwirklichung dieser Absicht als ein Besonderes, Merkliches untergeht, ist weder Absicht noch Ausdruck mehr vorhanden, sondern das Wirkliche, was beide wollten, ist gekonnt, und dieses Wirkliche ist das Drama, bei dessen Vorführung wir weder an Absicht noch Ausdruck mehr erinnert werden sollen, sondern dessen Inhalt als eine, vor unsrem Gefühle als notwendig gerechtfertigte, menschliche Handlung uns unwillkürlich erfüllen soll.

Erklären wir dem Musiker daher, daß jedes, auch das geringste Moment seines Ausdruckes, in welchem die dichterische Absicht nicht enthalten, und welches von ihr zu ihrer Verwirklichung nicht als notwendig bedingt ist, überflüssig, störend, schlecht ist; daß jede seiner Kundgebungen eine eindruckslose ist, wenn sie unverständlich bleibt, und daß sie verständlich nur dadurch wird, wenn sie die dichterische Absicht in sich schließt; daß er, als Verwirklicher der dichterischen Absicht aber ein unendlich Höherer ist, als er in seinem willkürlichen Schaffen ohne diese Absicht war – denn als eine bedingte, befriedigende Kundgebung ist die seinige selbst höher als die der bedingenden, bedürftigen Absicht an sich, die wiederum dennoch die höchste menschliche ist; daß er endlich, als von dieser Absicht in seiner Kundgebung bedingt, zu einer bei weitem reicheren Kundgebung seines Vermögens veranlaßt wird, als er es in seiner einsamen Stellung war, wo er – um möglichster Verständlichkeit wegen – sich selbst beschränken, nämlich zu einer Tätigkeit anhalten mußte, die nicht seine eigentümliche als Musiker war, während er gerade jetzt zur unbeschränktesten Entfaltung seines Vermögens notwendig aufgefordert ist, weil er ganz nur Musiker sein darf und soll.

Dem Dichter erklären wir aber, daß seine Absicht, wenn sie im Ausdrucke des von ihm bedingten Musikers – soweit sie eine an das Gehör kundzugebende ist – nicht vollständig verwirklicht werden könnte, auch keine höchste dichterische Absicht überhaupt ist; daß überall da, wo seine Absicht noch kenntlich ist, er auch noch nicht vollständig gedichtet hat; daß er daher seine Absicht als eine höchste dichterische nur darnach bemessen kann, daß sie im musikalischen Ausdrucke vollkommen zu verwirklichen ist. –

Das Maß des Dichtungswerten bezeichnen wir schließlich daher so: – wenn Voltaire von der Oper sagte: »Was zu albern ist, um gesprochen zu werden, das läßt man singen«, so sagen wir von dem vor uns liegenden Drama dagegen: Was nicht wert ist, gesungen zu werden, ist auch nicht der Dichtung wert.

 

Nach dem Gesagten dürfte es fast überflüssig erscheinen, noch die Frage aufzuwerfen, ob wir uns Dichter und Musiker in zwei Personen oder nur in einer zu denken haben sollen?

Der Dichter und der Musiker, den wir meinen, sind sehr gut als zwei Personen zu denken. Der Musiker könnte sogar, in seiner praktischen Vermittlung zwischen der dichterischen Absicht und deren endlichen leibhaftigen Verwirklichung durch die tatsächliche szenische Darstellung vom Dichter notwendig als besondere Person bedingt sein, und zwar als eine, wenn auch nicht notwendig nach dem Lebensalter, doch nach dem Charakter – jüngere als der Dichter. Diese jüngere, der unwillkürlichen Lebensäußerung – auch im lyrischen Momente – näher stehende Person, dürfte dem erfahrenern, reflektierenden Dichter wohl geeigneter zur Verwirklichung seiner Absicht erscheinen als er selbst; und aus seiner natürlichen Neigung zu diesem Jüngeren, Erregungsfreudigeren würde, sobald dieser die vom Älteren ihm mitgeteilte dichterische Absicht mit williger Begeisterung in sich aufnehme, die schöne edelste Liebe hervorblühen, die wir als die ermöglichende Kraft des Kunstwerkes erkannt haben. Schon daß der Dichter seine – wie nicht anders möglich – hier nur angedeutete Absicht von dem Jüngeren vollkommen verstanden wußte, und daß dieser Jüngere fähig war, seine Absicht zu verstehen, würde den Liebesbund knüpfen, in welchem der Musiker zum notwendigen Gebärer des Empfangenen würde; denn sein Anteil an dem Empfängnisse ist der Trieb, mit warmem, vollem Herzen das Empfangene weiter mitzuteilen. An diesem, in einem anderen erregten Triebe würde der Dichter selbst eine immer steigende Wärme für sein Erzeugnis gewinnen, die ihn zur mittätigsten Teilnahme auch an der Geburt selbst bestimmen müßte. Gerade die Doppeltätigkeit der Liebe müßte eine nach jeder Seite hin unendlich anregende, fördernde und ermöglichende künstlerische Kraft äußern.

Betrachten wir aber die Stellung, die gegenwärtig Dichter und Musiker zueinander einnehmen, und erkennen wir diese nach den Grundsätzen der Selbstbeschränkung als egoistische Absonderung so geordnet, wie wir sie zwischen allen Faktoren unsrer heutigen staatlichen Gesellschaft wahrzunehmen haben, so fühlen wir allerdings, daß da, wo einer unwürdigen Öffentlichkeit gegenüber jeder für sich glänzen will, nur der einzelne den Geist der Gemeinschaft in sich aufnehmen und nach – immerhin unvermögenden – Kräften pflegen und entwickeln kann. Nicht zweien kann gegenwärtig der Gedanke zur gemeinschaftlichen Ermöglichung des vollendeten Dramas kommen, weil zweie im Austausche dieses Gedankens der Öffentlichkeit gegenüber die Unmöglichkeit der Verwirklichung mit notwendiger Aufrichtigkeit sich eingestehen müßten und dieses Geständnis ihr Unternehmen daher im Keime ersticken würde. Nur der Einsame vermag in seinem Drange die Bitterkeit dieses Geständnisses in sich zu einem berauschenden Genusse umzuwandeln, der ihn mit trunkenem Mute zu dem Unternehmen treibt, das Unmögliche zu ermöglichen; denn er allein ist von zwei künstlerischen Gewalten gedrängt, denen er nicht widerstehen kann und von denen er sich willig zum Selbstopfer treiben läßt.Ich muß hier ausdrücklich meiner selbst Erwähnung tun, und zwar lediglich aus dem Grunde, den in meinem Leser etwa entstandenen Verdacht von mir abzuweisen, als ob ich mit der hier geschehenen Darstellung des vollendeten Dramas gleichsam einen Versuch zur Verständlichung meiner eigenen künstlerischen Arbeiten in dem Sinne unternommen hätte, daß ich die von mir gestellten Anforderungen in meinen Opern erfüllt, also dies gemeinte Drama selbst schon zustande gebracht hätte. Niemand kann es gegenwärtiger sein als mir, daß die Verwirklichung des von mir gemeinten Dramas von Bedingungen abhängt, die nicht in dem Willen, ja selbst nicht in der Fähigkeit des einzelnen, sei diese auch unendlich größer als die meinige, sondern nur in einem gemeinsamen Zustande und in einem durch ihn ermöglichten gemeinschaftlichen Zusammenwirken liegen, von denen jetzt gerade nur das volle Gegenteil vorhanden ist. Dennoch gestehe ich, daß meine künstlerischen Arbeiten wenigstens für mich von großer Wichtigkeit waren, denn sie müssen mir leider, so weit ich um mich sehe, als die einzigen Zeugnisse eines Strebens gelten, aus dessen Erfolgen, so gering sie sind, einzig das zu erlernen war, was ich – aus Unbewußtsein zum Bewußtsein gelangend – erlernte und – hoffentlich zum Heile der Kunst – jetzt mit voller Überzeugung aussprechen kann. Nicht auf meine Leistungen, sondern auf das, was mir aus ihnen so zum Bewußtsein gekommen ist, daß ich es als Überzeugung aussprechen kann, bin ich stolz. –

Werfen wir noch einen Blick auf unsre musikalisch-dramatische Öffentlichkeit, um aus ihrem Zustande uns deutlich zu machen, warum das von uns gemeinte Drama unmöglich jetzt zur Erscheinung kommen kann, und wie das dennoch gewagte nicht Verständnis, sondern nur höchste Verwirrung hervorrufen müßte.

 

Wir mußten als unerläßliche Grundlage eines vollendeten künstlerischen Ausdruckes die Sprache selbst erkennen. Daß wir das Gefühlsverständnis der Sprache verloren haben, mußten wir als einen durch nichts zu ersetzenden Verlust für die dichterische Kundgebung an das Gefühl begreifen. Wenn wir nun die Möglichkeit der Wiederbelebung der Sprache für den künstlerischen Ausdruck darlegten und aus dieser dem Gefühlsverständnisse wieder zugeführten Sprache den vollendeten musikalischen Ausdruck ableiteten, so fußten wir allerdings auf einer Voraussetzung, die nur durch das Leben selbst, nicht durch den künstlerischen Willen allein verwirklicht werden kann. Nehmen wir aber an, daß der Künstler, dem die Entwickelung des Lebens nach seiner Notwendigkeit aufgegangen ist, dieser Entwickelung mit gestaltendem Bewußtsein entgegenzukommen habe, so wäre dessen Streben, seine prophetische Ahnung zur künstlerischen Tat zu erheben, gewiß als vollkommen gerechtfertigt anzuerkennen und jedenfalls ihm das Lob zuzuerteilen, für jetzt nach einer vernünftigsten künstlerischen Richtung sich bewegt zu haben.

Überblicken wir nun die Sprachen der europäischen Nationen, die bisher einen selbsttätigen Anteil an der Entwickelung des musikalischen Dramas, der Oper, genommen haben – und diese sind nur Italiener, Franzosen und Deutsche –, so finden wir, daß von diesen drei Nationen nur die deutsche eine Sprache besitzt, die im gewöhnlichen Gebrauche noch unmittelbar und kenntlich mit ihren Wurzeln zusammenhängt. Italiener und Franzosen sprechen eine Sprache, deren wurzelhafte Bedeutung ihnen nur auf dem Wege des Studiums aus älteren, sogenannten toten Sprachen verständlich werden kann: man kann sagen, ihre Sprache – als der Niederschlag einer historischen Völkermischungsperiode, deren bedingender Einfluß auf diese Völker gänzlich geschwunden ist – spricht für sie, nicht aber sprechen sie selbst in ihrer Sprache. Wollen wir nun annehmen, daß auch für diese Sprachen ganz neue, von uns noch ganz ungeahnte Bedingungen zur gefühlsverständlichen Umgestaltung aus einem Leben hervorgehen könnten, das, frei von allem historischen Drucke, in einen innigen und beziehungsvollen Verkehr mit der Natur tritt – und dürfen wir jedenfalls auch versichert sein, daß gerade die Kunst, wenn sie in diesem neuen Leben das ist, was sie sein soll, auf jene Umgestaltung einen ungemein wichtigen Einfluß äußern wird –, so müssen wir erkennen, daß ein solcher Einfluß derjenigen Kunst am ergiebigsten entsprießen muß, die in ihrem Ausdrucke sich auf eine Sprache gründet, deren Zusammenhang mit der Natur dem Gefühle jetzt schon noch kenntlicher ist, als es bei der italienischen und französischen Sprache der Fall ist. Jene vorahnende Entwickelung des Einflusses des künstlerischen Ausdruckes auf den des Lebens kann zunächst nicht von Kunstwerken ausgehen, deren sprachliche Grundlage in der italienischen oder französischen Sprache liegt, sondern von allen modernen Opernsprachen ist nur die deutsche befähigt, in der Weise, wie wir es als erforderlich erkannten, zur Belebung des künstlerischen Ausdruckes verwandt zu werden, schon weil sie die einzige ist, die auch im gewöhnlichen Leben den Akzent auf den Wurzelsilben erhalten hat, während in jenen der Akzent nach unwillkürlicher naturwidriger Konvention auf – an sich bedeutungslose – Beugungssilben gelegt wird.

Das über alles wichtige Grundmoment der Sprache also ist es, daß uns für den Versuch eines vollkommen zu rechtfertigenden, höchsten künstlerischen Ausdruckes im Drama auf die deutsche Nation hinweiset; und wäre es dem künstlerischen Willen allein möglich, das vollendete dramatische Kunstwerk zutage zu fördern, so könnte dies jetzt nur in deutscher Sprache geschehen. Was diesen künstlerischen Willen als einen ausführbaren bedingt, liegt zunächst aber in der Genossenschaft der künstlerischen Darsteller: betrachten wir die Wirksamkeit dieser auf deutschen Bühnen. –

 

Italienische und französische Sänger sind gewohnt, nur musikalische Kompositionen vorzutragen, die auf ihre Muttersprache verfaßt sind: so wenig diese Sprache in einem vollkommen naturgemäßen Zusammenhange mit der musikalischen Melodie stehen mag, so ist doch eines bei dem Vortrage italienischer oder französischer Sänger unverkennbar, – die genaue Beachtung und Kundgebung der Rede – als solcher. Ist dieses bei den Franzosen noch ersichtlicher als bei den Italienern, so muß doch jedem die Deutlichkeit und Energie auffallen, mit der auch diese die Worte aussprechen, und dies namentlich in den drastischen Phrasen des Rezitatives. Vor allem aber muß dies eine an beiden anerkannt werden, daß sie ein natürlicher Instinkt davor bewahrt, jeden Sinn der Rede durch einen falschen Ausdruck zu entstellen.

Deutsche Sänger sind dagegen gewohnt, zum überwiegend größten Teile nur in Opern zu singen, die aus der italienischen oder französischen Sprache in die deutsche übersetzt sind. Bei diesen Übersetzungen ist nie weder ein dichterischer noch musikalischer Verstand tätig gewesen, sondern sie wurden von Leuten, die weder Dichtkunst noch Musik verstanden, im geschäftlichen Auftrage ungefähr so übersetzt, wie man Zeitungsartikel oder Kommerznotizen überträgt. Gemeinhin waren diese Übersetzer vor allem nicht musikalisch; sie übersetzten ein italienisches oder französisches Textbuch für sich, als Wortdichtung nach einem Versmaße, welches als sogenanntes jambisches unverständigerweise ihnen dem gänzlich unrhythmischen des Originales entsprechend vorkam, und ließen diese Verse von musikgeschäftlichen Ausschreibern unter die Musik so setzen, daß die Silben den Noten der Zahl nach zu entsprechen hatten. Die dichterische Mühe des Übersetzers hatte darin bestanden, die gemeinste Prosa mit läppischen Endreimen zu versehen, und da diese Endreime selbst oft peinliche Schwierigkeiten darboten, war ihnen – den in der Musik fast gänzlich unhörbaren – zuliebe auch die natürliche Stellung der Worte bis zur vollsten Unverständlichkeit verdreht worden. Dieser an und für sich häßliche, gemeine und sinnverwirrte Vers wurde nun einer Musik untergelegt, zu deren betonten Akzenten er nirgends paßte: auf gedehnte Noten kamen kurze Silben, auf gedehnte Silben aber kurze Noten; auf die musikalisch betonte Hebung kam die Senkung des Verses, und so umgekehrt.Ich hebe diese gröbsten Verstöße heraus, nicht weil sie in Übersetzungen gerade immer vorkamen, sondern weil sie – ohne Sänger und Hörer zu stören – oft vorkommen konnten: ich bediene mich daher des Superlatives, um den Gegenstand nach seiner kenntlichsten Physiognomie zu bezeichnen. Von diesen gröbsten sinnlichen Verstößen schritt die Übersetzung bis zur vollkommenen Entstellung des Sinnes vor und prägte diese dem Gehöre recht geflissentlich noch durch zahlreiche Wortwiederholungen in einer Weise ein, daß dieses unwillkürlich sich vom Texte gänzlich ab und nur noch auf die reinmelodische Kundgebung wandte. – In solchen Übersetzungen wurden der deutschen Kunstkritik die Opern Glucks vorgeführt, deren wesentliche Eigentümlichkeit in einer getreuen Deklamation der Rede bestand. Wer eine Berliner Partitur von einer Gluckschen Oper gesehen und sich von der Beschaffenheit der deutschen Textunterlage überzeugt hat – mit welcher diese Werke dem Publikum vorgeführt wurden, der kann einen Begriff von dem Charakter der Berliner Kunstästhetik erhalten, die aus Glucks Opern sich einen Maßstab für dramatische Deklamation bildete, von der man auf literarischem Wege von Paris aus so viel vernommen hatte und die man nun auch merkwürdigerweise aus den Aufführungen wiedererkannte, die in jenen – alle richtige Deklamation über den Haufen werfenden – Übersetzungen vor sich gingen. – Nichts geht über Berliner Gelehrtenphantasie! –

Bei weitem wichtiger als auf die preußische Ästhetik war aber der Einfluß dieser Übersetzungen auf unsre deutschen Opernsänger. Der vergeblichen Mühe, die Textunterlage in Übereinstimmung mit den Noten der Melodie zu bringen, mußten sie sich notgedrungen bald entwinden; sie gewöhnten sich daran, den Text – als einen sinngebenden – immer unbeachteter zu lassen, und durch diese Unbeachtung ermunterten sie von neuem die Übersetzer zu immer vollendeterer Nachlässigkeit in ihren Arbeiten, die endlich immer mehr nur die Bestimmung erhielten, als gedruckte Textbücher dem Publikum ganz in dem Sinne, wie Inhaltsprogramme zur Erklärung einer Pantomime dienen sollten, in die Hände gegeben zu werden. Unter solchen Umständen gab der dramatische Sänger schließlich auch noch die unnütze Mühe der deutlichen Aussprache der Vokale und Konsonanten auf, die für den Gesang, den er nun als reines musikalisches Instrument ausführte, ihm nur hinderlich und erschwerend waren. Es blieb ihm und dem Publikum somit vom ganzen Drama nichts weiter übrig als die absolute Melodie, die unter so bewandten Umständen nun auch auf das Rezitativ übergetragen ward. Da die Grundlage desselben im Munde des übersetzten deutschen Sängers nicht mehr die Rede war, so gelangte das Rezitativ, mit dem er so nicht wußte, was anfangen, für ihn bald zu einem eigentümlichen Werte: es war nämlich dies Rezitativ durch das Zeitmaß der Melodie nicht mehr gebunden, und frei von dem peinlichen Takte des Orchesterdirigenten, fand der Sänger hier eine Gelegenheit, nach Belieben in der Produktion seiner Stimme sich zu ergehen. Das Rezitativ ohne Rede war für ihn ein Chaos zusammenhangsloser Noten, aus denen er nun jedesmal diejenigen herausholen durfte, die seiner Stimmlage sich besonders günstig zeigten; solche ein Ton, der sich aller vier bis fünf Noten einmal darbot, ward nun zur Wonne befriedigter Stimmeitelkeit so lange ausgehalten, bis der Atem ausging, und jeder Sänger liebte es daher sehr, mit einem Rezitativ aufzutreten, weil dies ihm die beste Gelegenheit gab, sich – nicht etwa als dramatischer Redner – sondern als Eigentümer eines guten Stimmkehlkopfes und tüchtiger Lungen auszuweisen. Dem ohngeachtet blieb das Publikum dabei, daß dieser oder jener Sänger sich als dramatischer Sänger auszeichne: man verstand darunter genau dasselbe, was man an einem Violinvirtuosen rühmte, wenn er durch Abstufungen und Übergänge den reinmusikalischen Vortrag unterhaltend und interessant zu machen wußte.

Die künstlerischen Ergebnisse hieraus kann man sich leicht vorstellen, wenn man plötzlich diesen Sängern die Wortversmelodie, über die wir uns genau verständlicht haben, zum Vortrage geben wollte. Sie würden sie um so weniger vortragen können, als sie sich bereits daran gewöhnt haben, auch in Opern, die auf deutsche Texte komponiert sind, mit ihrem Verfahren bei übersetzten Opern durchzukommen; und hierin wurden sie von unsren modernen deutschen Opernkomponisten selbst unterstützt. – Von jeher ist die deutsche Sprache von deutschen Komponisten nach einer willkürlichen Norm behandelt worden, die sie von der Sprachbehandlung entnahmen, wie sie sie in den Opern der Nation vorfanden, von der die Oper als fremdes Produkt zu uns übergesiedelt worden ist. Die absolute Opernmelodie, mit ihren ganz bestimmten melismischen und rhythmischen Besonderheiten, wie sie in Italien im ziemlichen Einklange mit einer willkürlich akzentuierbaren Sprache sich ausgebildet hatte, war auch deutschen Opernkomponisten das von Anfang herein Maßgebende gewesen; diese Melodie war von ihnen nachgeahmt und variiert worden, und ihren Anforderungen hatte sich die Eigentümlichkeit unsrer Sprache und ihres Akzentes fügen müssen. Von jeher ist von unsren Komponisten die deutsche Sprache wie eine übersetzte Unterlage für die Melodie behandelt worden, und wer sich von dem, was ich meine, deutlich überzeugen will, der vergleiche genau z. B. Winters »unterbrochenes Opferfest«. Außer des gänzlich willkürlich verwendeten Sinnsprachakzentes, ist selbst der sinnliche Akzent der Wurzelsilben – dem Melismus zuliebe – oft gänzlich verdreht; gewisse Worte von zusammengesetztem doppeltem Wurzelakzent sind aber gradeswegs für unkomponierbar erklärt, oder – wenn sie durchaus angewandt werden mußten – in einem unsrer Sprache ganz fremden, entstellenden Akzente musikalisch wiedergegeben worden. Selbst der sonst so gewissenhafte Weber ist der Melodie zuliebe gegen die Sprache oft noch durchaus rücksichtslos. – In neuesten Zeiten ist von deutschen Opernkomponisten geradesweges der aus den Übersetzungen herrührende, sprachbeleidigende Tonakzent nachgeahmt und als eine Erweiterung des Opernsprachvermögens beibehalten worden – so daß Sänger, denen eine Wortversmelodie, wie wir sie meinen, zum Vortrage gegeben würde, in unsrem Sinne zu diesem Vortrage durchaus unfähig gemacht wären. – Das Charakteristische dieser Melodie liegt in der bestimmten Bedingung ihres musikalischen Ausdruckes aus dem Sprachverse nach seiner sinnlichen und sinnigen Eigenschaft: nur aus diesen Bedingungen gestaltete sie sich so, wie sie sich musikalisch kundgibt, und das stets Gegenwärtige, von uns Mitempfundene dieser Bedingungen ist wiederum die notwendige Bedingung für ihr Verständnis. Diese Melodie nun, von ihren Bedingungen losgelöst, wie unsre Sänger sie vom Sprachverse vollkommen loslösen würden, bliebe eine unverständliche und eindruckslose; könnte sie dennoch nach ihrem reinmusikalischen Gehalte wirken, so würde sie wenigstens nie in dem Sinne wirken, wie sie es der dichterischen Absicht nach soll, und dieses wäre – selbst wenn jene Melodie an sich dem Gehöre Gefallen erwecken sollte – eben die Vernichtung der dramatischen Absicht, welche in jene Melodie, wenn sie beziehungsvoll im Orchester wiederkehrt, die Bedeutung einer gemahnenden Erinnerung setzt – eine Bedeutung, die ihr nur zu eigen sein kann, wenn sie nicht als absolute Melodie, sondern als einem kundgegebenen bestimmten Sinne entsprechend von uns erfaßt worden ist und als solche bewahrt werden kann. Ein Drama, in der Worttonsprache, wie wir sie bezeichneten, kundgegeben, würde – von unsren sprachlosen Sängern dargestellt – daher nur einen reinmusikalischen Eindruck auf den Zuhörer noch machen können, und dieser würde sich, bei dem Wegfall der bezeichneten Bedingungen für das Verständnis, folgendermaßen herausstellen. Der sprachlose Gesang müßte uns überall da gleichgültig und gelangweilt stimmen, wo wir ihn nicht zu der Melodie sich erheben sehen, die als absolute, in ihrer Kundgebung und durch unser Empfängnis vom Sprachverse losgelöste, unser Gehör fesselte und zur Teilnahme bestimmte. Diese Melodie, vom Orchester als bedeutungsvolles dramatisches Motiv der Erinnerung zurückgerufen, würde uns eben nur die Erinnerung an sie, als nackte Melodie, nicht aber an das in ihr kundgegebene Motiv erwecken, ihre Wiederkehr an einer anderen Stelle des Dramas uns also vom gegenwärtigen Momente abziehen, nicht aber ihn uns verständlichen. Ihrer Bedeutung ledig könnte diese Melodie unser Gehör, durch das unsre innere Empfindung eben nicht angeregt ist, sondern in dem nur der Durst nach äußerlichem, d. h. unmotiviert wechselndem Genuß erweckt wurde, bei ihrer Wiederkehr fast nur ermüden und das als belästigende Armut in der Kundgebung erscheinen lassen, was in Wahrheit einem reichen Gedankengehalte am sinnvollsten und sinnlichsten entspricht. Das Gehör, das bei nur musikalischer Erregung aber auch eine Befriedigung im Sinne des ihm gewohnten, enger begrenzten musikalischen Gefüges fordert, würde durch die große Ausdehnung dieses Gefüges über das ganze Drama vollständig verwirrt werden; denn diese große Ausdehnung auch der musikalischen Form kann nur von dem für das wirkliche Drama gestimmten Gefühle nach ihrer Einheit und Verständlichkeit gefaßt werden: dem für dieses Drama aber nicht gestimmten, sondern im sinnlichen Gehöre einzig haftenden Gefühle würde die große einheitliche Form, zu welcher die kleinen, engen, gegenseitig unzusammenhängenden Formen erweitert wären, ganz und gar unkenntlich bleiben; und das ganze musikalische Gebäude müßte daher den Eindruck eines zusammenhangslosen, zerrissenen, unübersehbaren Chaos machen, dessen Dasein wir uns aus nichts als der Willkür eines phantastischen, in sich unklaren, unvermögenden Musikers erklären könnten.

Was uns in diesem Eindrucke aber noch mehr bestärken müßte, wäre die scheinbar zerrissene, zügellose und wüst durcheinandergreifende Kundgebung des Orchesters, dessen Wirkung auf den absoluten Gehörsinn nur dann eine befriedigende sein kann, wenn sie in festgegliederten, melodiös betonten Tanzrhythmen sich konsequent äußert. –


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