Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

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[ I ]

Das moderne Drama hat zweierlei Ursprung: einen natürlichen, unserer geschichtlichen Entwickelung eigentümlichen, den Roman – und einen fremdartigen, unserer Entwickelung durch Reflexion aufgepfropften, das, nach den mißverstandenen Regeln des Aristoteles aufgefaßte griechische Drama.

Der eigentliche Kern unserer Poesie liegt im Roman; im Streben, diesen Kein so schmackhaft wie möglich zu machen, sind unsere Dichter wiederholt auf fernere oder nähere Nachahmung des griechischen Dramas verfallen. –

Die höchste Blüte des dem Roman unmittelbar entsprungenen Dramas haben wir in den Schauspielen des Shakespeare; in weitester Entfernung von diesem Drama treffen wir auf dessen vollkommensten Gegensatz in der »Tragédie« des Racine. Zwischen beiden Endpunkten schwebt unsere ganze übrige dramatische Literatur unentschieden und schwankend hin und her. Um den Charakter dieses unentschiedenen Schwankens genau zu erkennen, müssen wir uns etwas näher nach dem natürlichen Ursprunge unseres Dramas umsehen.

 

Wenn wir seit dem Erlöschen der griechischen Kunst uns im Gange der Weltgeschichte nach einer Kunstperiode umsehen, der wir uns mit Stolz erfreuen können wollen, so ist dies die Periode der sogenannten »Renaissance«, mit der wir den Ausgang des Mittelalters und den Beginn der neueren Zeit bezeichnen. Hier strebt mit wahrer Riesenkraft der innere Mensch sich zu äußern. Der ganze Gärungsstoff der wunderbaren Mischung germanisch individuellen Heroentumes mit dem Geiste des römisch-katholizisierenden Christentumes drängte sich von innen nach außen, gleichsam um in der Äußerung seines Wesens den unlösbaren inneren Skrupel loszuwerden. Überall äußerte sich dieser Drang nur als Lust zur Schilderung, denn unbedingt ganz und gar sich selbst geben kann nur der Mensch, der im Inneren ganz mit sich einig ist: das war aber der Künstler der Renaissance nicht; dieser erfaßte das Äußere nur in der Begierde, vor dem inneren Zwiespalte zu fliehen. Sprach sich dieser Trieb am Erkenntlichsten nach der Richtung der bildenden Künste hin aus, so ist er in der Dichtung nicht minder ersichtlich. Nur ist zu beachten, daß, wie die Malerei sich zu treuester Schilderung des lebendigen Menschen angelassen hatte, die Dichtkunst sich von der Schilderung bereits schon zur Darstellung wandte, und zwar indem sie vom Roman zum Drama vorschritt.

Die Poesie des Mittelalters hatte bereits das erzählende Gedicht hervorgebracht und bis zur höchsten Blüte entwickelt. Dieses Gedicht schilderte menschliche Handlungen und Vorgänge, und deren bewegungsvollen Zusammenhang, in der Weise, wie ähnlich der Maler sich bemüht, die charakteristischen Momente solcher Handlungen uns vorzuführen. Das Vermögen des Dichters, der von der unmittelbaren, lebendigen Darstellung der Handlung durch wirkliche Menschen absah, war aber so unbegrenzt als die Einbildungskraft des Lesers oder Zuhörers, an die er sich einzig wandte. Dieses Vermögen fühlte sich zu den ausschweifendsten Kombinationen von Vorfällen und Lokalitäten um so mehr veranlaßt, als sein Gesichtskreis sich über ein immer anschwellenderes Meer außen vorgehender Handlungen verbreitete, wie sie eben aus dem Gebaren jener abenteuersüchtigen Zeit hervorgingen. Der Mensch, der in sich uneinig mit sich selbst war, und im Kunstschaffen dem Zwiespalte seines Innern entfliehen wollte – wie er zuvor vergeblich sich gemüht hatte, diesen Zwiespalt selbst künstlerisch zu bewältigenDenken wir an die eigentliche christliche Poesie.  –, fühlte nicht den Drang, ein bestimmtes Etwas seines Inneren auszusprechen, sondern dieses Etwas vielmehr erst in der Außenwelt zu suchen: er zerstreute sich gewissermaßen nach innen durch willigstes Erfassen alles von der Außenwelt ihm Vorgeführten, und je mannigfaltiger und bunter er diese Erscheinungen zu mischen verstand, desto sicherer durfte er eben den unwillkürlichen Zweck innerer Zerstreuung zu erreichen hoffen. Der Meister dieser liebenswürdigen, aber aller Innerlichkeit, alles Haftes der Seele entbehrenden Kunst, war Ariosto.

Je weniger aber, nach ungeheuren Ausschweifungen, diese schimmernden Gemälde der Phantasie den inneren Menschen wiederum zu zerstreuen vermochten, je mehr dieser Mensch unter dem Drucke politischer und religiöser Gewaltsamkeiten zur Kraftanstrengung eines Gegendruckes aus seinem inneren Wesen selbst gedrängt wurde, desto deutlicher erkennen wir auch in der vorliegenden Dichtungsart das Streben ausgesprochen, der Masse des vielartigen Stoffes von innen heraus Herr zu werden, seiner Gestaltung einen festen Mittelpunkt zu geben, und diesen Mittelpunkt als Achse des Kunstwerkes aus der eigenen Anschauung, aus dem festen Wollen eines Etwas, in dem sich das innere Wesen ausspricht, zu entnehmen. Dieses Etwas ist der Gebärungsstoff der neueren Zeit, die Verdichtung des individuellen Wesens zu einem bestimmten künstlerischen Wollen. Aus der ungeheuer Masse der äußeren Erscheinungen, wie sie vorher dem Dichter sich nicht bunt und vielartig genug darstellen konnten, werden nun die unter sich verwandten Bestandteile gesondert, die Mannigfaltigkeit der Momente zur bestimmten Zeichnung des Charakters der Handelnden verdichtet. Wie unendlich wichtig für alle Untersuchung des Wesens der Kunst ist es nun, daß dieser innerliche Drang des Dichters, wie wir es deutlich vor uns sehen, sich endlich nur dadurch zu befriedigen vermochte, daß er auch zur bestimmtesten Äußerung durch die unmittelbare Darstellung an die Sinne gelangte, mit einem Worte, daß der Roman zum Drama wurde! Die Bewältigung des äußeren Stoffes zur Kundgebung der inneren Anschauung von dem Wesen dieses Stoffes konnte nur dann gelingen, wenn der Gegenstand selbst in überzeugendster Wirklichkeit den Sinnen vorgeführt wurde, und dies war eben nur im Drama zu ermöglichen.

Das Drama des Shakespeare ist mit vollster Notwendigkeit aus dem Leben und unserer geschichtlichen Entwickelung hervorgegangen: seine Schöpfung war so aus der Natur unserer Dichtkunst bedingt, wie das Drama der Zukunft ganz naturgemäß aus der Befriedigung der Bedürfnisse geboren werden wird, die das Shakespearesche Drama angeregt, noch nicht aber gestillt hat.

Shakespeare, den wir uns hier immer im Vereine mit seinen Vorgängern und nur als deren Haupt denken müssen, verdichtete den erzählenden Roman zum Drama, indem er ihn gewissermaßen für die Darstellung auf der Schaubühne übersetzte. Die vorher von der redend erzählenden Poesie nur geschilderten menschlichen Handlungen ließ er nun von wirklich redenden Menschen, die für die Dauer der Darstellung in Aussehen und Gebärde mit den darzustellenden Personen des Romanes sich identifizierten, Auge und Ohr zugleich vorführen. Er fand hierzu eine Schaubühne und Schauspieler vor, die bis dahin als unterirdisch verborgene, heimlich aber immer noch fortrieselnde Quellader des wirklichen Volkskunstwerkes dem Auge des Dichters sich entzogen hatten, von seinem sehnsüchtig suchenden Blicke aber schnell entdeckt wurden, als die Not ihn zu ihrer Auffindung trieb. Das Charakteristische dieser Volksschaubühne war aber, daß die Schauspieler, die daher sich auch vorzugsweise so nannten, auf ihr dem Auge, und absichtlich gerade fast nur dem Auge sich mitteilten. Ihre Darstellungen auf freiem Platze vor der weithin ausgedehnten Menge konnten lediglich fast nur durch die Gebärde wirken, und in der Gebärde sprechen sich deutlich eben nur Handlungen, nicht aber – sobald die Sprache fehlt – die inneren Motive dieser Handlungen aus, so daß das Spiel dieser Darsteller seiner Natur nach ebenso von grotesker, massenhaft gehäufter Handlung strotzte als der Roman, dessen zerstreute Vielstoffigkeit der Dichter eben zusammenzudrängen sich bemühte. Der Dichter, der diesem Volksschauspiele zusah, mußte finden, daß aus Mangel einer verständlichen Sprache dieses zu eben der ungeheuerlichen Vielhandligkeit gedrängt sei wie der erzählende Romandichter durch die Unfähigkeit, seine geschilderten Personen und Vorgänge wirklich darzustellen. Er mußte den Schauspielern zurufen: »Gebt mir eure Bühne, ich gebe euch meine Rede, so ist uns beiden geholfen!«

Wir sehen nun vom Dichter zugunsten des Dramas die Volksschaubühne zum Theater verengen. Ganz so wie die Handlung selbst durch deutliche Darlegung der Beweggründe, die sie hervorrufen, zu bestimmten wichtigsten Momenten derselben zusammengedrängt werden mußte, stellte sich die Notwendigkeit heraus, auch den Schauplatz zusammenzudrängen, und zwar namentlich aus Rücksicht für den Zuschauer, der nun nicht mehr bloß schauen, sondern auch deutlich hören sollte. Wie auf den Raum hatte sich diese Beschränkung auch auf die Zeitdauer des dramatischen Spieles auszudehnen. Die Mysterienbühne des Mittelalters, auf weitem Anger oder auf freien Plätzen und Straßen der Städte aufgeschlagen, bot der versammelten Volksmenge ein tagelang, ja – wie wir noch heute es erfahren – mehrere Tage lang dauerndes Schauspiel dar: ganze Historien, vollständige Lebensgeschichten wurden aufgeführt, aus welchen die ab- und zuwogende Zuschauermasse nach Belieben für ihre Schaulust sich auswählen konnte, was ihr das Sehenswerteste erschien. Solch eine Aufführung war das vollständig entsprechende Seitenstück der ungeheuer bunten und vielstoffigen Historien des Mittelalters selbst: gerade so larvenhaft charakterlos, ohne alle individuelle Lebensregung, hölzern und grob zugeschnitten waren die vielhandelnden Personen dieser gelesenen Historien, wie die Darsteller jener zur Schau gebrachten. Aus denselben Gründen, die den Dichter bestimmten, die Handlung und den Schauplatz zu verengen, hatte er somit auch die Zeitdauer der Aufführung zusammenzudrängen, weil er seinen Zuschauern nicht mehr Bruchstücke, sondern ein in sich abgeschlossenes Ganzes vorführen wollte, so daß er die Kraft der Fähigkeit des Zuschauers, einem vorgeführten fesselnden Gegenstande seine ungeteilte Aufmerksamkeit fortgesetzt zuzuwenden, zu seinem Maßstab für die Zeitdauer dieser Aufführung machte. Das Kunstwerk, das nur an die Phantasie appelliert, wie der gelesene Roman, kann in seiner Mitteilung sich leicht unterbrechen, weil die Phantasie so willkürlicher Natur ist, daß sie keinen anderen Gesetzen als der Laune des Zufalls gehorcht: was aber vor die Sinne tritt, und diesen mit überzeugender, unfehlbarer Bestimmtheit sich mitteilen will, hat nicht nur nach der Eigenschaft, Fähigkeit und natürlich begrenzten Kraft dieser Sinne sich zu richten, sondern sich ihnen auch vollständig, von Kopf bis zu Fuß, von Anfang bis Ende, vorzuführen, wenn es nicht, durch plötzliche Unterbrechung oder Unvollständigkeit seiner Vorführung, zur notwendigen Ergänzung eben nur wieder an die Phantasie, aus der es sich gerade an die Sinne wandte, appellieren will.

Nur eines blieb auf dieser verengten Bühne noch gänzlich nur der Phantasie überlassen – die Darstellung der Szene selbst, in welcher die Darsteller den lokalen Erfordernissen der Handlung gemäß auftraten. Teppiche umhingen die Bühne; die Inschrift einer leicht zu wechselnden Tafel zeigte dem Zuschauer den Ort, ob Palast, Straße, Wald oder Feld, an, der als Szene gedacht werden sollte. Durch diesen einen, der damaligen Bühnenkunst noch unumgänglich nötigen Appell an die Phantasie blieb im Drama dem buntstoffigen Romane und der vielhandligen Historie noch Tor und Tür offen. Fühlte der Dichter, dem es bis jetzt immer nur noch um die leiblich redende Darstellung des Romanes zu tun war, die Notwendigkeit einer naturgetreuen Darstellung auch der umgebenden Szene noch nicht, so konnte er die Notwendigkeit, die darzustellende Handlung in noch immer bestimmtere Begrenzung der wichtigsten Momente derselben zusammenzudrängen, auch nicht empfinden. Wir sehen hieran mit ersichtlichsten Deutlichkeit, wie zur vollendetsten Gestaltung des Kunstwerkes einzig die entscheidende Notwendigkeit hindrängt, die dem Wesen der Kunst gemäß den Künstler bestimmt, aus der Phantasie sich an die Sinne zu wenden, die Phantasie aus ihrer unbestimmten Tätigkeit durch die Sinne zu einer festen, verständnisvollen Wirksamkeit zu vermögen. Diese, alle Kunst gestaltende, das Streben des Künstlers einzig befriedigende Notwendigkeit erwächst uns nur aus der Bestimmtheit einer universell sinnlichen Anschauung: sind wir all ihren Anforderungen vollkommen gerecht, so treibt auch sie uns zum vollkommensten Kunstschaffen. Shakespeare, der die eine Notwendigkeit der naturgetreuen Darstellung der umgebenden Szene noch nicht empfand, und daher die Vielstoffigkeit des von ihm dramatisch behandelten Romanes gerade nur so weit sichtete und zusammendrängte, als die von ihm empfundene Notwendigkeit eines verengten Schauplatzes und einer begrenzten Zeitdauer der von wirklichen Menschen dargestellten Handlung es erheischte – Shakespeare, der innerhalb dieser Grenzen Historie und Roman zu so überzeugend charakteristischer Wahrheit belebte, daß er zum ersten Male Menschen von so mannigfaltiger und drastischer Individualität darstellte, wie noch kein Dichter vor ihm es vermocht hatte – dieser Shakespeare ist nichtsdestoweniger in seinen, durch die eine bezeichnete Notwendigkeit noch nicht gestalteten, Dramen der Grund und der Ausgangspunkt einer beispiellosen Verwirrung in der dramatischen Kunst über zwei Jahrhunderte hindurch, bis auf unsere Tage, geworden.

Dem Romane und dem losen Gefüge der Historie war im Shakespeareschen Drama, wie ich mich ausdrückte, eine Türe offengelassen worden, durch die sie nach Belieben aus- und eingehen konnten: diese Türe war die der Phantasie überlassene Darstellung der Szene. Wir werden nun sehen, daß die hieraus entstehende Verwirrung ganz in dem Grade vorwärtsschritt, als diese Türe von anderer Seite her auf das rücksichtsloseste zugeschlagen ward, und die gefühlte Mangelhaftigkeit der Szene wiederum zu willkürlichen Gewaltsamkeiten gegen das lebendige Drama selbst trieb.

 

Bei den sogenannten romanischen Nationen Europas, unter denen die schrankenlose Abenteuerlichkeit des – alle germanischen und romanischen Elemente bunt durcheinanderwerfenden – Romanes am tollsten gewütet hatte, war auch dieser Roman am unfähigsten zur Dramatisierung geworden. Der Drang, aus der konzentrierten Innerlichkeit des menschlichen Wesens heraus die bunten Äußerungen der früheren phantastischen Laune zu bestimmten, deutlichen Erscheinungen zu gestalten, gab sich vorzüglich nur bei den germanischen Nationen kund, die den innerlichen Krieg des Gewissens gegen marternde äußere Satzungen zur protestantischen Tat machten. Die romanischen Nationen, die äußerlich unter dem Joche des Katholizismus verblieben, erhielten sich fortwährend in der Richtung, nach welcher sie vor dem inneren unlösbaren Zwiespalte nach außen hin flohen, um von außen her – wie ich mich zuvor ausdrückte – nach innen sich zu zerstreuen. Die bildende Kunst, und eine Dichtkunst, die – als schildernde – der bildenden dem Wesen, wenn auch nicht der Äußerung nach, gleichkam, sind die eigentümlichen, von außen her zerstreuenden, fesselnden und ergötzenden Künste dieser Nationen.

Von seinem heimischen Volksschauspiele wandte sich der gebildete Italiener und Franzose ab; in seiner rohen Einfalt und Formlosigkeit erinnerte es ihn an den ganzen Wust des Mittelalters, den er eben wie einen schweren, beängstigenden Traum von sich abzuschütteln bemüht war. Dagegen ging er auf die historische Wurzel seiner Sprache zurück und wählte zunächst aus römischen Dichtern, den literarischen Nachahmern der Griechen, sich Muster auch für das Drama, das er zur Unterhaltung der fein erzogenen vornehmen Welt als Ersatz für das, nur noch den Pöbel ergötzende, Volksschauspiel vorführte. Malerei und Architektur, die Hauptkünste der romanischen Renaissance, hatten das Auge dieser vornehmen Welt so geschmackvoll und zu solchen Ansprüchen ausgebildet, daß das rohe, mit Teppichen verhängte Brettgerüst der britischen Schaubühne ihm nicht behagen konnte. Als Schauplatz ward in den Palästen der Fürsten den Schauspielern der prachtvolle Saal angewiesen, in welchem sie mit geringen Modifikationen ihre Szene herzustellen hatten. Stabilität der Szene ward als maßgebendes Haupterfordernis für das ganze Drama festgestellt, und hierin begegnete sich die angenommene Geschmacksrichtung der vornehmen Welt mit dem modernen Ursprunge des ihr vorgeführten Dramas, den Regeln des Aristoteles. Der fürstliche Zuschauer, dessen Auge durch die bildende Kunst zu seinem vornehmsten Organe positiven Genußsinnes gemacht worden war, liebte es nicht, gerade diesen Sinn binden zu sollen, um der Phantasie, der gesichtslosen, ihn unterzuordnen, und zwar um so weniger, als er grundsätzlich der Erregung der unbestimmten, mittelalterlich gestaltenden Phantasie auswich. Es hätte ihm die Möglichkeit geboten werden müssen, die Szene, bei jeder Veranlassung des Dramas zum Wechsel derselben, dem Gegenstande getreu mit malerischer und plastischer Genauigkeit dargestellt zu sehen, um diesen Wechsel selbst gestatten zu können. Was später bei der Mischung der dramatischen Richtungen ermöglicht wurde, war hier aber gar nicht zu verlangen nötig, weil andererseits die Aristotelischen Regeln, nach denen dieses fingierte Drama konstruiert wurde, auch die Einheit der Szene zu einer wichtigen Bedingung desselben machten. Gerade das also, was der Brite bei seinem organischen Schaffen des Dramas aus innen als äußeres Moment noch unbeachtet ließ, ward zur, von außen her gestaltenden, Norm für das französische Drama, das so aus dem Mechanismus heraus sich in das Leben hinein zu konstruieren suchte.

Wichtig ist es nun, genau zu beachten, wie diese äußerliche Einheit der Szene die ganze Haltung des französischen Dramas dahin bedang, daß die Darstellung der Handlung fast ganz von dieser Szene ausgeschlossen und dafür nur der Vortrag der Rede in ihr zugelassen wurde. Somit mußte auch grundsätzlich der von Handlung strotzende Roman, das poetische Grundelement des mittelalterlichen und neueren Lebens, von der Darstellung auf dieser Szene ausgeschlossen bleiben, da die Vorführung seines vielgliederigen Stoffes ohne häufige Verwandelung der Szene geradesweges unmöglich war. Also nicht nur die äußerliche Form, sondern auch der ganze Zuschnitt der Handlung, und mit ihm endlich der Gegenstand der Handlung selbst, mußte den Mustern entnommen werden, die für die Form den französischen Schauspieldichter bestimmt hatten. Er mußte Handlungen wählen, die nicht erst von ihm zu einem gedrängten Maße dramatischer Darstellungsfähigkeit verdichtet zu werden brauchten, sondern solche, die bereits zu einem solchen Maße verdichtet ihm vorlagen.

Aus ihrer heimischen Sage hatten die griechischen Tragiker sich solche Stoffe, als höchste künstlerische Blüte dieser Sage, verdichtet: der moderne Dramatiker, der von den äußerlichen Regeln ausging, die jenen Dichtungen entnommen worden waren, konnte das poetische Lebenselement seiner Zeit, das nur in der geradezu umgekehrten Weise Shakespeares zu bewältigen war, nicht zu der Dichtigkeit zusammendrängen, daß es dem äußerlich aufgelegten Maße entsprochen hätte, und nichts als die – natürlich entstellende – Nachahmung und Wiederholung jener schon fertigen Dramen blieb ihm daher übrig. In Racines »Tragédie« haben wir somit auf der Szene die Rede, hinter der Szene die Handlung; Beweggründe mit davon abgelöster und außerhalb verlegter Bewegung, Wollen ohne Können. Alle Kunst warf sich daher auch nur auf die Äußerlichkeit der Rede, die ganz folgerichtig in Italien (von woher der neue Kunstgenre ausgegangen war) auch alsbald sich in jenen musikalischen Vortrag verlor, den wir bereits umständlicher als den eigentlichen Inhalt des Opernwesens kennengelernt haben. Auch die französische Tragödie ging mit Notwendigkeit in die Oper über: Gluck sprach den wirklichen Inhalt dieses Tragödienwesens aus. Die Oper war somit die vorzeitige Blüte einer unreifen Frucht, auf unnatürlichem, künstlichem Boden gewachsen. Womit das italienische und französische Drama begann, mit der äußeren Form, dazu soll das neuere Drama durch organische Entwickelung aus sich heraus, auf dem Wege des Shakespeareschen Dramas, erst gelangen, und dann auch erst wird die natürliche Frucht des musikalischen Dramas reifen.

Zwischen diesen zwei äußersten Gegensätzen, dem Shakespeareschen und dem Racineschen Drama, erwuchs nun aber zunächst das moderne Drama zu seiner zwitterhaften, unnatürlichen Gestalt und Deutschland war der Boden, von dem sich diese Frucht nährte.

Hier bestand der romanische Katholizismus in gleicher Stärke neben dem germanischen Protestantismus fort: nur wurden beide in einen so heftigen Konflikt miteinander verwickelt, daß, unentschieden wie er trotzdem blieb, eine natürliche Kunstblüte sich nicht aus ihm entfaltete. Der innerliche Drang, der sich bei dem Briten auf die dramatische Darstellung der Historie und des Romanes warf, blieb beim deutschen Protestanten im hartnäckigen Bemühen, den innerlichen Zwiespalt selbst innerlich zu schlichten, haften. Wir haben einen Luther, der sich in der Kunst wohl bis zur religiösen Lyrik erhob, aber keinen Shakespeare. Der römisch-katholische Süden konnte jedoch nie zu dem genial leichtsinnigen Vergessen des innerlichen Zwiespaltes sich aufschwingen, in welchem die romanischen Nationen sich zur bildenden Kunst anließen: mit finsterem Ernste bewachte er seinen religiösen Wahn. Während ganz Europa sich auf die Kunst warf, blieb Deutschland ein sinnender Barbar. Nur was sich draußen bereits überlebt hatte, flüchtete sich nach Deutschland, um in seinem Boden noch zu einem Nachsommer zu erblühen. Englische Komödianten, denen die Darsteller der Shakespeareschen Dramen daheim ihr Brot entzogen hatten, kamen nach Deutschland, um dem Volke ihre grotesk pantomimischen Taschenspielereien vorzumachen: erst lange darauf, als auch es in England verblüht war, folgte das Shakespearesche Drama selbst nach; deutsche Schauspieler, die vor der Zucht ihrer langweiligen dramatischen Schulmeister flohen, bemächtigten sich desselben, um es für ihre Praxis herzurichten.

Vom Süden her war dagegen die Oper, dieser Ausgang des romanischen Dramas, hereingedrungen. Ihr vornehmer Ursprung aus den Palästen der Fürsten empfahl sie wiederum den deutschen Fürsten, so daß diese Fürsten die Oper in Deutschland einführten, während – wohlgemerkt! – das Shakespearesche Schauspiel von dem Volke eingeholt ward. – In der Oper stellte sich der szenischen Mangelhaftigkeit der Shakespeareschen Bühne als vollster Gegensatz die üppigste und gesuchteste Ausstattung dieser Szene entgegen. Das musikalische Drama war recht eigentlich ein Schauspiel geworden, während das Schauspiel ein Hörspiel geblieben war. Wir haben hier nicht mehr nötig, den Grund der szenisch-dekorativen Ausschweifung im Operngenre zu untersuchen: dies lose Drama war von außen konstruiert, und von außen her, durch Luxus und Pracht, konnte es auch nur am Leben erhalten werden. Nur ist es wichtig, zu beobachten, wie dieser szenische Prunk mit dem unerhört buntesten, ausgesucht mannigfaltigsten Wechsel szenischer Vorführungen an das Auge, aus der dramatischen Richtung hervorging, in der ursprünglich die Einheit der Szene als Norm aufgestellt worden war. Nicht der Dichter, der, indem er den Roman zum Drama zusammendrängte, insoweit seine Vielstoffigkeit noch unbeschränkt ließ, als er die Szene zu ihren Gunsten durch den Appell an die Phantasie häufig und schnell zu wechseln vermochte – nicht der Dichter hat, um etwa von diesem Appell an die Phantasie sich an die Bestätigung der Sinne zu wenden, jenen raffinierten Mechanismus zur Verwandlung wirklich dargestellter Szenen erfunden, sondern das Verlangen nach äußerlicher Unterhaltung und deren Wechsel, die bloße Augenbegierde, hat ihn hervorgebracht. Hätte diesen Apparat der Dichter erfunden, so müßten wir auch annehmen, er habe die Notwendigkeit des häufigen Szenenwechsels aus einer Notwendigkeit der Vielstoffigkeit des Dramas selbst als Bedürfnis gefühlt: da der Dichter, wie wir sahen, von innen heraus organisch konstruierte, würde bei jener Annahme somit bewiesen sein, daß die historielle und romanhafte Vielstoffigkeit ein notwendiges Bedingnis des Dramas sei; denn nur die unbeugsame Notwendigkeit dieses Bedingnisses hätte ihn dazu treiben können, dem Bedürfnisse der Vielstoffigkeit durch Erfindung eines szenischen Apparates zu entsprechen, durch welchen die Vielstoffigkeit auch als bunte, zerstreuende Vielszenigkeit sich äußern mußte. Gerade umgekehrt war es aber der Fall. Shakespeare fühlte sich von der Notwendigkeit der dramatischen Darstellung der Historie und des Romanes gedrängt; in dem frischen Eifer, diesem Drange zu entsprechen, kam in ihm das Gefühl von der Notwendigkeit auch einer naturgetreuen Darstellung der Szene noch nicht auf – hätte er noch diese Notwendigkeit für die vollkommen überzeugende Darstellung einer dramatischen Handlung empfunden, so würde er ihr durch ein noch bei weitem genaueres Sichten und dichteres Zusammendrängen der Vielstoffigkeit des Romanes zu entsprechen gesucht haben, und zwar ganz in der Weise, wie er bereits den Schauplatz und die Zeitdauer der Darstellung, und ihretwegen die Vielstoffigkeit selbst, zusammengedrängt hatte. Die Unmöglichkeit, den Roman noch enger zu verdichten, auf die er hierbei unfehlbar gestoßen wäre, müßte dann ihn aber über die Natur des Romanes dahin aufgeklärt haben, daß diese mit der des Dramas in Wahrheit nicht übereinstimme, eine Entdeckung, die wir erst machen konnten, als uns die undramatische Vielstoffigkeit der Historie aus der Verwirklichung der Szene zu Gefühl kam, die durch den Umstand, daß sie nur angedeutet zu werden brauchte, Shakespeare den dramatischen Roman einzig ermöglichte. –


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