Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

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[ III ]

Der charakteristische Unterschied zwischen Wort- und Tondichter besteht darin, daß der Wortdichter unendlich zerstreute, nur dem Verstande wahrnehmbare Handlungs-, Empfindungs- und Ausdrucksmomente auf einen, dem Gefühle möglichst erkennbaren Punkt zusammendrängte; wogegen nun der Tondichter den zusammengedrängten dichten Punkt nach seinem vollen Gefühlsinhalte zur höchsten Fülle auszudehnen hat. Das Verfahren des dichtenden Verstandes ging im Drange nach Mitteilung an das Gefühl dahin, aus den weitesten Fernen sich zu dichtester Wahrnehmbarkeit durch das sinnliche Empfängnisvermögen zu sammeln; von hier aus, vom Punkte der unmittelbaren Berührung mit dem sinnlichen Empfängnisvermögen, hat sich das Gedicht ganz so auszubreiten, wie das empfangende sinnliche Organ, das zur Wahrnehmung des Gedichtes sich ebenfalls auf einen dichten, nach außen gewandten Punkt zusammendrängte, unmittelbar durch die Empfängnis sich in weitere und immer weitere Kreise, bis zur Erregung alles innerlichen Empfindungsvermögens ausbreitet.

Das Verkehrte in dem notgedrungenen Verfahren des einsamen Dichters und des einsamen Musikers lag bisher eben darin, daß der Dichter, um dem Gefühle sich faßlich mitzuteilen, sich in jene vage Breite ausdehnte, in der er zum Schilderer tausender von Einzelnheiten wurde, die eine bestimmte Gestalt der Phantasie so kenntlich wie möglich vorführen sollten: die von vielfachen bunten Einzelnheiten bedrängte Phantasie konnte sich des vorgeführten Gegenstandes endlich immer wieder nur dadurch bemächtigen, daß sie diese verwirrenden Einzelnheiten genau zu fassen suchte und hierdurch in die Wirksamkeit des reinen Verstandes sich verlor, an den der Dichter sich einzig nur wieder wenden konnte, wenn er von der massenhaften Breite seiner Schilderungen betäubt sich schließlich nach einem ihm vertrauten Anhaltspunkte umsah. Der absolute Musiker sah sich dagegen bei seinem Gestalten gedrängt, ein unendlich weites Gefühlselement zu bestimmten, dem Verstande möglichst wahrnehmbaren Punkten zusammenzudrängen; er mußte hierzu der Fülle seines Elementes immer mehr entsagen, das Gefühl zu einem – an sich aber unmöglichen – Gedanken zu verdichten sich mühen und endlich diese Verdichtung nur durch vollständige Entkleidung von allem Gefühlsausdrucke als eine gedachte, einem beliebigen äußeren Gegenstande nachgeahmte Erscheinung der willkürlichen Phantasie empfehlen. – Die Musik glich so dem lieben Gotte unserer Legenden, der vom Himmel auf die Erde herabstieg, um sich dort aber ersichtlich zu machen, Gestalt und Gewand gemeiner Alltagsmenschen annehmen mußte: keiner merkte in dem oft zerlumpten Bettler mehr den lieben Gott. Der wahre Dichter soll nun aber kommen, der mit dem hellsehenden Auge der höchsten erlösungsbedürftigsten Dichternot in dem schmutzigen Bettler den erlösenden Gott erkennt, Krücken und Lumpen von ihm nimmt und auf dem Hauche seines sehnsüchtigen Verlangens mit ihm sich in die unendlichen Räume aufschwingt, in die der befreite Gott mit seinem Atem undenkliche Wonnen des seligsten Gefühles auszugießen weiß. So wollen wir die kärgliche Sprache des Alltagslebens, in dem wir noch nicht das sind, was wir sein können, und deshalb auch noch nicht kundgeben, was wir kundgeben können, hinter uns werfen, um im Kunstwerke eine Sprache zu reden, in der wir einzig das auszusprechen vermögen, was wir kundgeben müssen, wenn wir ganz das sind, was wir sein können.

 

Der Tondichter hat nun die Töne des Verses nach ihrem verwandtschaftlichen Ausdrucksvermögen so zu bestimmen, daß sie nicht nur den Gefühlsinhalt dieses oder jenes Vokales als besonderen Vokales kundgeben, sondern diesen Inhalt zugleich als einen allen Tönen des Verses verwandten, und diesen verwandten Inhalt als ein besonderes Glied der Urverwandtschaft aller Töne dem Gefühle darstellen.

Dem Wortdichter war die Aufdeckung einer dem Gefühle und durch dieses dem Verstande endlich selbst einleuchtenden Verwandtschaft der von ihm hervorgehobenen Akzente nur durch den konsonierenden Stabreim der Sprachwurzeln möglich; was diese Verwandtschaft bestimmte, war aber gerade nur die Besonderheit des gleichen Konsonanten; kein anderer Konsonant konnte sich mit diesem reimen, und die Verwandtschaft war daher nur auf eine besondere Familie beschränkt, die gerade nur dadurch dem Gefühle kenntlich war, daß sie als eine durchaus getrennte Familie sich kundgab. Der Tondichter dagegen hat über einen verwandtschaftlichen Zusammenhang zu verfügen, der bis in das Unendliche reicht; und mußte sich der Wortdichter damit begnügen, durch die volle Gleichheit ihrer anlaufenden Konsonanten gerade nur die besonders hervorgehobenen Wurzelworte seiner Phrase dem Gefühle als sinnlich wie sinnig verwandt vorzuführen, so hat der Musiker dagegen die Verwandtschaft seiner Töne zunächst in der Ausdehnung darzustellen, daß er sie von den Akzenten aus über alle, auch unbetonteren Vokale der Phrase ausgießt, so daß nicht die Vokale der Akzente allein, sondern alle Vokale überhaupt als unter sich verwandt dem Gefühle sich darstellen.

Wie die Akzente in der Phrase ihr besonderes Licht nicht nur zuerst durch den Sinn, sondern in ihrer sinnlichen Kundgebung durch die in der Senkung befindlichen, unbetonteren Worte und Silben erhalten, so haben auch die Haupttöne ihr besonderes Licht von den Nebentönen zu gewinnen, welche zu ihnen sich ganz so zu verhalten haben wie die Auf- und Abtakte zu den Hebungen. Die Wahl und Bedeutung jener Nebenworte und »Silben«, sowie ihre Beziehung zu den akzentuierten Worten, ward zunächst von dem Verstandesinhalte der Phrase bestimmt; nur in dem Grade, als dieser Verstandesinhalt durch Verdichtung umfangreicher Momente zu einem gedrängten, dem Gehörsinne auffallend wahrnehmbaren Ausdrucke gesteigert wurde, verwandelte er sich in einen Gefühlsinhalt. Die Wahl und Bedeutung der Nebentöne, sowie ihre Beziehung zu den Haupttönen, ist nun vom Verstandsinhalte der Phrase insofern nicht mehr abhängig, als dieser im rhythmischen Verse und im Stabreime bereits zu einem Gefühlsinhalte sich verdichtet hat und die volle Verwirklichung dieses Gefühlsinhaltes durch seine unmittelbarste Mitteilung an die Sinne von da an einzig nur noch bewerkstelligt werden soll, wo durch die Auflösung des Vokales in den Gesangston die reine Sprache des Gefühles als die einzig noch vermögende anerkannt worden ist. Von dem musikalischen Ertönen des Vokales in der Wortsprache an ist das Gefühl zum bestimmten Anordner aller weiteren Kundgebung an die Sinne erhoben worden, und das musikalische Gefühl bestimmt nun allein noch die Wahl und Bedeutung der Neben- wie Haupttöne, und zwar nach der Natur der Tonverwandtschaft, deren besonderes Glied durch den notwendigen Gefühlsausdruck der Phrase zur Wahl entschieden wird.

Die Verwandtschaft der Töne ist aber die musikalische Harmonie, die wir hier zunächst nach ihrer Ausdehnung in der Fläche aufzufassen haben, in welcher sich die Gliedfamilien der weitverzweigten Verwandtschaft als Tonarten darstellen. Behalten wir jetzt die hier gemeinte horizontale Ausdehnung der Harmonie im Auge, so behalten wir uns ausdrücklich die allbestimmende Eigenschaft der Harmonie in ihrer vertikalen Ausdehnung zu ihrem Urgrunde für den entscheidenden Moment unserer Darstellung vor. Jene horizontale Ausdehnung, als Oberfläche der Harmonie, ist aber die Physiognomie derselben, die dem Auge des Dichters noch erkennbar ist: sie ist der Wasserspiegel, der dem Dichter noch sein eigenes Bild zurückspiegelt, wie er dies Bild zugleich auch dem beschauenden Auge desjenigen, an den der Dichter sich mitteilen wollte, zuführt. Dieses Bild aber ist in Wahrheit die verwirklichte Absicht des Dichters – eine Verwirklichung, die dem Musiker wiederum nur möglich ist, wenn er aus der Tiefe des Meeres der Harmonie zu dessen Oberfläche auftaucht, auf der eben die entzückende Vermählung des zeugenden dichterischen Gedankens mit dem unendlichen Gebärungsvermögen der Musik gefeiert wird.

Jenes wogende Spiegelbild ist die Melodie. In ihr wird der dichterische Gedanke zum unwillkürlich ergreifenden Gefühlsmomente, wie das musikalische Gefühlsvermögen in ihr die Fähigkeit gewinnt, sich bestimmt und überzeugend, als scharf begrenzte, zu plastischer Individualität gestaltete, menschliche Erscheinung kundzugeben. Die Melodie ist die Erlösung des unendlich bedingten dichterischen Gedankens zum tiefempfundenen Unbewußtsein höchster Gefühlsfreiheit: sie ist das gewollte und dargetane Unwillkürliche, das bewußte und deutlich verkündete Unbewußte, die gerechtfertigte Notwendigkeit eines aus weitester Verzweigung zur bestimmtesten Gefühlsäußerung verdichteten, unendlich umfangreichen Inhaltes. –

 

Halten wir nun diese auf der horizontalen Oberfläche der Harmonie als Spiegelbild des dichterischen Gedankens erscheinende und der Urverwandtschaft der Töne durch Aufnahme in eine Familie dieser Verwandtschaft – die Tonart – eingereihte Melodie gegen jene mütterliche Urmelodie, aus der einst die Wortsprache geboren wurde, so zeigt sich uns folgender überaus wichtige und hier mit Bestimmtheit ins Auge zu fassende Unterschied.

Aus einem unendlich verfließenden Gefühlsvermögen drängten sich zuerst menschliche Empfindungen zu einem allmählich immer bestimmteren Inhalte zusammen, um sich in jener Urmelodie der Art zu äußern, daß der naturnotwendige Fortschritt in ihr sich endlich bis zur Ausbildung der reinen Wortsprache steigerte. Das Bezeichnendste der ältesten Lyrik ist das, daß in ihr die Worte und der Vers aus dem Tone und der Melodie hervorgingen, wie sich die Leibesgebärde aus der allgemein hindeutenden und nur in öfterster Wiederholung verständlichen Tanzbewegung zur gemesseneren, bestimmteren mimischen Gebärde verkürzte. Je mehr sich in der Entwickelung des menschlichen Geschlechtes das unwillkürliche Gefühlsvermögen zum willkürlichen Verstandesvermögen verdichtete; je mehr demnach auch der Inhalt der Lyrik aus einem Gefühlsinhalte zu einem Verstandesinhalte ward – desto erkennbarer entfernt sich auch das Wortgedicht von seinem ursprünglichen Zusammenhange mit jener Urmelodie, deren es sich gewissermaßen für seinen Vortrag nur noch bediente, um einen kälteren didaktischen Inhalt dem altgewohnten Gefühle so schmackhaft wie möglich zuzuführen. Die Melodie selbst, wie sie einst dem Urempfindungsvermögen der Menschen als notwendiger Gefühlsausdruck entblüht war und im ihr entsprechenden Vereine mit Wort und Gebärde sich zu der Fülle entwickelt hatte, die wir noch heute in der echten Volksmelodie wahrnehmen, vermochten jene reflektierenden Verstandesdichter nicht zu modeln und dem Inhalte ihrer Ausdrucksweise entsprechend zu variieren; noch weniger aber war es ihnen möglich, aus dieser Ausdrucksweise selbst zur Bildung neuer Melodien sich anzulassen, weil eben der Fortschritt der allgemeinen Entwickelung in dieser großen Bildungsperiode ein Fortschreiten aus dem Gefühle zum Verstande war und der wachsende Verstand in seinem Experimentieren sich nur gehindert fühlen konnte, wenn er zur Erfindung neuer Gefühlsausdrücke, die ihm fern lagen, irgendwie gedrängt worden wäre.

Solange die lyrische Form eine von der Öffentlichkeit anerkannte und geforderte blieb, variierten daher die Dichter, die dem Inhalte ihrer Dichtungen nach zum Erfinden von Melodien unfähig geworden waren, vielmehr das Gedicht, nicht aber die Melodie, die sie unverrückt stehenließen und der zulieb sie nur dem Ausdrucke ihrer dichterischen Gedanken eine äußerliche Form verliehen, welche sie als Textvariation der unveränderten Melodie unterlegten. Die so überreiche Form der auf uns gekommenen griechischen Sprachlyrik, und namentlich auch die Chorgesänge der Tragiker, können wir uns als aus dem Inhalte dieser Dichtungen notwendig bedingt gar nicht erklären. Der meist didaktische und philosophische Inhalt dieser Gesänge steht gemeinhin in einem so lebhaften Widerspruche mit dem sinnlichen Ausdrucke in der überreich wechselnden Rhythmik der Verse, daß wir diese so mannigfaltige sinnliche Kundgebung nicht als aus dem Inhalte der dichterischen Absicht an sich hervorgegangen, sondern als aus der Melodie bedingt, und ihren unwandelbaren Anforderungen mit Gehorsam zurechtgelegt, begreifen können. – Noch heute kennen wir die echtesten Volksmelodien nur mit späteren Texten, die zu ihnen, den einmal bestehenden und beliebten Melodien, auf diese oder jene äußere Veranlassung hin nachgedichtet worden sind, und – wenn auch auf einer bei weitem niedrigeren Stufe – verfahren noch heute, zumal französische, Vaudevilledichter, indem sie ihre Verse zu bekannten Melodien dichten und diese Melodien kurzweg dem Darsteller bezeichnen, nicht unähnlich den griechischen Lyrikern und Tragödiendichtern, die jedenfalls zu fertigen, der ältesten Lyrik ureigenen und im Munde des Volkes – namentlich bei heiligen Gebräuchen – fortlebenden Melodien die Verse dichteten, deren wunderbar reiche Rhythmik uns jetzt, da wir jene Melodien nicht mehr kennen, in Erstaunen setzt. –

Die eigentliche Darlegung der Absicht des griechischen Tragödiendichters enthüllt aber, nach Inhalt und Form, der ganze Verlauf ihrer Dramen, der sich unbestreitbar aus dem Schoße der Lyrik zur Verstandesreflexion hin bewegt, wie der Gesang des Chores in die nur noch gesprochene jambische Rede der Handelnden ausmündet. Was diese Dramen in ihrer Wirkung uns aber noch als so ergreifend hinstellt, das ist eben das in ihnen beibehaltene und in den Hauptmomenten stärker wiederkehrende lyrische Element, in dessen Verwendung der Dichter mit vollem Bewußtsein verfuhr, gerade wie der Didaktiker, der seine Lehrgedichte der Jugend in den Schulen im gefühlbestimmenden lyrischen Gesange vorführte. Nur zeigt uns ein tieferer Blick, daß der tragische Dichter seiner Absicht nach minder unverhohlen und redlich war, wenn er sie in das lyrische Gewand einkleidete, als da, wo er sie unumwunden nur noch in der gesprochenen Rede ausdrückte, und in dieser didaktischen Rechtschaffenheit, aber künstlerischen Unredlichkeit liegt der schnelle Verfall der griechischen Tragödie begründet, der das Volk bald anmerkte, daß sie nicht sein Gefühl unwillkürlich, sondern seinen Verstand willkürlich bestimmen wollte. Euripides hatte unter der Geißel des aristophanischen Spottes blutig für diese plump von ihm aufgedeckte Lüge zu büßen. Daß endlich die immer didaktisch absichtlichere Dichtkunst zur staatspraktischen Rhetorik und endlich gar zur Literaturprosa werden mußte, war die äußerste, aber ganz natürliche Konsequenz der Entwickelung des Verstandes aus dem Gefühle, und – für den künstlerischen Ausdruck – der Wortsprache aus der Melodie. –

Die Melodie, deren Gebärung wir jetzt lauschen, verhält sich aber zu jener mütterlichen Urmelodie als ein vollkommener Gegensatz, den wir nun, nach den vorangegangenen umständlicheren Betrachtungen, als ein Fortschreiten aus dem Verstande zum Gefühl, aus der Wortphrase zur Melodie, gegenüber dem Fortschreiten aus dem Gefühle zum Verstande, aus der Melodie zur Wortphrase, kurz zu bezeichnen haben. Auf dem Wege des Fortschreitens von der Wortsprache zur Tonsprache gelangten wir bis auf die horizontale Oberfläche der Harmonie, auf der sich die Wortphrase des Dichters als musikalische Melodie abspiegelte. Wie wir nun von dieser Oberfläche aus uns des ganzen Gehaltes der unermeßlichen Tiefe der Harmonie, dieses urverwandtschaftlichen Schoßes aller Töne, zur immer ausgedehnteren Verwirklichung der dichterischen Absicht bemächtigen und so die dichterische Absicht als zeugendes Moment in die volle Tiefe jenes Urmutterelementes in der Weise versenken wollen, daß wir jedes Atom dieses ungeheuern Gefühlschaos' zu bewußter, individueller Kundgebung in einem dennoch nie sich verengenden, sondern stets sich erweiternden Umfange bestimmen; der künstlerische Fortschritt also, der sich in der Ausbreitung einer bestimmten, bewußten Absicht in ein unendliches und bei aller Unermeßlichkeit dennoch wiederum genau und bestimmt sich kundgebendes Gefühlsvermögen herausstellt – soll nun der Gegenstand unserer weiteren schließlichen Darstellung sein. –

 

Bestimmen wir zunächst aber noch eines, um unseren heutigen Erfahrungen gegenüber uns verständlich zu machen.

Wenn wir die Melodie, wie wir sie bis jetzt nur bezeichneten, als äußerste, vom Dichter notwendig zu ersteigende Höhe des Gefühlsausdruckes der Wortsprache faßten und auf dieser Höhe den Wortvers bereits auf der Oberfläche der musikalischen Harmonie widergespiegelt anblickten, so erkennen wir bei näherer Prüfung zu unserer Überraschung, daß diese Melodie der Erscheinung nach vollkommen dieselbe ist, die aus der unermeßlichen Tiefe der Beethovenschen Musik an deren Oberfläche sich heraufdrängte, um in der »neunten Symphonie« das helle Sonnenlicht des Tages zu grüßen. Die Erscheinung dieser Melodie auf der Oberfläche des harmonischen Meeres ermöglichte sich, wie wir sahen, nur aus dem Drange des Musikers, dem Dichter Aug' in Auge zu sehen; nur der Wortvers des Dichters war vermögend, sie auf jener Oberfläche festzuhalten, auf der sie sonst sich nur als flüchtige Erscheinung kundgegeben hätte, um ohne diesen Anhalt schnell wieder in die Tiefe des Meeres unterzusinken. Diese Melodie war der Liebesgruß des Weibes an den Mann; das umfassende »ewig Weibliche« bewährte sich hier liebevoller als das egoistische Männliche, denn es ist die Liebe selbst, und nur als höchstes Liebesverlangen ist das Weibliche zu fassen, offenbare es sich nun im Manne oder im Weibe. Der geliebte Mann wich bei jener wundervollen Begegnung dem Weibe noch aus: was für dieses Weib der höchste, opferduftigste Genuß eines ganzen Lebens war, war für den Mann nur ein flüchtiger Liebesrausch. Erst der Dichter, dessen Absicht wir uns hier darstellten, fühlt sich zur herzinnigsten Vermählung mit dem »ewig Weiblichen« der Tonkunst so unwiderstehlich stark gedrängt, daß er in dieser Vermählung zugleich seine Erlösung feiert.

Durch den erlösenden Liebeskuß jener Melodie wird der Dichter nun in die tiefen, unendlichen Geheimnisse der weiblichen Natur eingeweiht: er sieht mit anderen Augen und fühlt mit anderen Sinnen. Das bodenlose Meer der Harmonie, aus dem ihm jene beseligende Erscheinung entgegentauchte, ist ihm kein Gegenstand der Scheu, der Furcht, des Grausens mehr, wie als ein unbekanntes, fremdes Element es seiner Vorstellung zuvor erschien; nicht nur auf den Wogen dieses Meeres vermag er nun zu schwimmen, sondern – mit neuen Sinnen begabt – taucht er jetzt bis auf den tiefsten Grund hinab. Aus seinem einsamen, furchtbar weiten Mutterhause hatte es das Weib hinausgetrieben, um des Nahens des Geliebten zu harren; jetzt senkt dieser mit der Vermählten sich hinab und macht sich mit allen Wundern der Tiefe traulich bekannt. Sein verständiger Sinn durchdringt alles klar und besonnen bis auf den Urquell, von dem aus er die Wogensäulen ordnet, die zum Sonnenlichte emporsteigen sollen, um an seinem Scheine in wonnigen Wellen dahinzuwallen, nach dem Säuseln des Westes sanft zu plätschern, oder nach den Stürmen des Nordes sich männlich zu bäumen; denn auch dem Atem des Windes gebietet nun der Dichter – denn dieser Atem ist nichts anderes als der Hauch unendlicher Liebe, der Liebe, in deren Wonne der Dichter erlöst ist, in deren Macht er zum Walter der Natur wird.

 

Prüfen wir das Walten des tonvermählten Dichters nun mit nüchternem Auge. –

 

Das verwandtschaftliche Band der Töne, deren rhythmisch bewegte und in Hebungen und Senkungen gegliederte Reihe die Versmelodie ausmachen, verdeutlicht sich dem Gefühle zunächst in der Tonart, die aus sich die besondere Tonleiter bestimmt, in welcher die Töne jener melodischen Reihe als besondere Stufen enthalten sind. – Wir sahen bis dahin den Dichter in dem notwendigen Streben begriffen, die Mitteilung seines Gedichtes an das Gefühl dadurch zu ermöglichen, daß er den aus weiten Kreisen gesammelten und zusammengedrängten Einzelheiten seiner sprachorganischen Ausdrucksmittel das unter sich Fremdartige benahm, indem er sie, namentlich auch durch den Reim, in möglichst darstellbarer Verwandtschaft dem Gefühle vorführte. Diesem Drange lag das unwillkürliche Wissen von der Natur des Gefühles zugrunde, das nur das Einheitliche, in seiner Einheit das Bedingte und Bedingende zugleich Enthaltende, das mitgeteilte Gefühl also nach seinem Gattungswesen in der Art erfaßt, daß es sich von den in ihm enthaltenen Gegensätzen nicht nach eben diesem Gegensatze, sondern nach dem Wesen der Gattung, in welchem die Gegensätze versöhnt sind, bestimmen läßt. Der Verstand löst, das Gefühl bindet; d. h., der Verstand löst die Gattung in die ihr inliegenden Gegensätze auf, das Gefühl bindet die Gegensätze wieder zur einheitlichen Gattung zusammen. Diesen einheitlichen Ausdruck gewann der Dichter am vollständigsten endlich im Aufgehen des nach Einheit nur ringenden Wortverses in die Gesangsmelodie, die ihren einheitlichen, das Gefühl unfehlbar bestimmenden Ausdruck aus der den Sinnen unwillkürlich sich darstellenden Verwandtschaft der Töne gewinnt.

Die Tonart ist die gebundenste, unter sich eng verwandteste Familie der ganzen Tongattung; als wahrhaft verwandt mit der ganzen Tongattung zeigt sie sich uns aber da, wo sie aus der Neigung ihrer einzelnen Tonfamilienglieder zur unwillkürlichen Verbindung mit anderen Tonarten fortschreitet. Wir können die Tonart hier sehr entsprechend mit den alten patriarchalischen Stammfamilien der menschlichen Geschlechter vergleichen: in diesen Familien begriffen sich nach unwillkürlichem Irrtume die ihnen Angehörigen als Besondere, nicht als Glieder der ganzen menschlichen Gattung; die Geschlechtsliebe des Individuums, die sich nicht an einer gewöhnten, sondern nur an einer ungewohnten Erscheinung entzündete, war es aber, was die Schranken der patriarchalischen Familie überstieg und die Verbindung mit anderen Familien knüpfte. Das Christentum hat die Einheit der menschlichen Gattung in ahnungsvoller Verzückung verkündet: die Kunst, die dem Christentume ihre eigentümlichste Entwickelung verdankte, die Musik, hat jenes Evangelium in sich aufgenommen und zu schwelgerisch entzückender Kundgebung an das sinnliche Gefühl als moderne Tonsprache gestaltet. Vergleichen wir jene urpatriarchalischen Nationalmelodien, die eigentlichen Familienüberlieferungen besonderer Stämme, mit der Melodie, die aus dem Fortschritte der Musik durch die christliche Entwickelung uns heute ermöglicht ist, so finden wir dort als charakteristisches Merkmal, daß sich die Melodie fast nie aus einer bestimmten Tonart herausbewegt und mit ihr bis zur Unbeweglichkeit verwachsen erscheint: dagegen hat die uns mögliche Melodie die unerhört mannigfaltigste Fähigkeit erhalten, vermöge der harmonischen Modulation die in ihr angeschlagene Haupttonart mit den entferntesten Tonfamilien in Verbindung zu setzen, so daß uns in einem größeren Tonsatze die Urverwandtschaft aller Tonarten gleichsam im Lichte einer besonderen Haupttonart vorgeführt wird.

Dies unermeßliche Ausdehnungs- und Verbindungsvermögen hat den modernen Musiker so berauscht, daß er, aus diesem Rausche wiederum ernüchtert, sogar absichtlich nach jener beschränkteren Familienmelodie sich umsah, um durch eine ihr nachgeahmte Einfachheit sich verständlich zu machen. Dieses Umsehen nach jener patriarchalischen Beschränktheit zeigt uns die eigentliche schwache Seite unserer ganzen Musik, in der wir bisher – sozusagen – die Rechnung ohne den Wirt gemacht hatten. Von dem Grundtone der Harmonie aus war die Musik zu einer ungeheuer mannigfaltigen Breite aufgeschossen, in der dem zweck- und ruhelos daherschwimmenden absoluten Musiker endlich bang zumute wurde: er sah vor sich nichts wie eine unendliche Wogenmasse von Möglichkeiten, in sich selbst aber ward er sich keines diese Möglichkeiten bestimmenden Zweckes bewußt – wie die christliche Allmenschlichkeit auch nur ein verschwimmendes Gefühl ohne den Anhalt war, der es einzig als ein deutliches Gefühl rechtfertigen konnte, und dieser Anhalt ist der wirkliche Mensch. Somit mußte der Musiker sein ungeheures Schwimmvermögen fast bereuen; er sehnte sich nach den urheimatlichen stillen Buchten zurück, wo zwischen engen Ufern das Wasser ruhig und nach einer bestimmten Stromrichtung floß. Was ihn zu dieser Rückkehr bewog, war nichts anderes als die empfundene Zwecklosigkeit seines Umherschweifens auf hoher See, genaugenommen also das Bekenntnis, eine Fähigkeit zu besitzen, die er nicht zu nutzen vermöge – die Sehnsucht nach dem Dichter. Beethoven, der kühnste Schwimmer, sprach diese Sehnsucht deutlich aus; nicht aber nur jene patriarchalische Melodie stimmte er wieder an, sondern er sprach auch den Dichtervers zu ihr aus. Schon an einer andern Stelle machte ich in diesem letzteren Bezuge auf ein ungemein wichtiges Moment aufmerksam, auf das ich hier zurückkommen muß, weil es uns jetzt zu einem neuen Anhaltspunkte aus dem Gebiete der Erfahrung zu dienen hat. Jene – wie ich sie zur Charakteristik ihrer historischen Stellung fortfahre zu nennen – patriarchalische Melodie, die Beethoven in der »neunten Symphonie« als zur Bestimmung des Gefühles endlich gefundene anstimmt, und von der ich früher behauptete, daß sie nicht aus dem Gedichte Schillers entstanden, sondern daß sie vielmehr außerhalb des Wortverses erfunden, diesem nur übergebreitet worden sei, zeigt sich uns als gänzlich in dem Tonfamilienverhältnisse beschränkt, in welchem sich das alte Nationalvolkslied bewegt. Sie enthält so gut wie gar keine Modulation und erscheint in einer solchen tonleitereigenen Einfachheit, daß sich in ihr die Absicht des Musikers, als eine auf den historischen Quell der Musik rückgängige, unverhohlen deutlich ausspricht. Diese Absicht war eine notwendige für die absolute Musik, die nicht auf der Basis der Dichtkunst steht: der Musiker, der sich nur in Tönen klar verständlich dem Gefühle mitteilen will, kann dieses nur durch Herabstimmung seines unendlichen Vermögens zu einem sehr beschränkten Maße. Als Beethoven jene Melodie aufzeichnete, sagte er: So können wir absoluten Musiker uns einzig verständlich kundgeben. Nicht aber eine Rückkehr zu dem Alten ist der Gang der Entwickelung alles Menschlichen, sondern der Fortschritt: alle Rückkehr zeigt sich uns überall als keine natürliche, sondern als eine künstliche. Auch die Rückkehr Beethovens zu der patriarchalischen Melodie war, wie diese Melodie selbst, eine künstliche. Aber die bloße Konstruktion dieser Melodie war auch nicht der künstlerische Zweck Beethovens; vielmehr sehen wir, wie er sein melodisches Erfindungsvermögen absichtlich nur für einen Augenblick so weit herabstimmt, um auf der natürlichen Grundlage der Musik anzukommen, auf der er dem Dichter seine Hand zuzustrecken oder auch die des Dichters zu ergreifen vermochte. Als er mit dieser einfachen, beschränkten Melodie die Hand des Dichters in der seinigen fühlt, schreitet er nun auf dem Gedichte selbst und aus diesem Gedichte, seinem Geiste und seiner Form nach gestaltend, zu immer kühnerem und mannigfaltigerem Tonbau vorwärts, um uns endlich Wunder, wie wir sie bisher noch nie geahnt, Wunder wie das »Seid umschlungen, Millionen!« »Ahnest du den Schöpfer, Welt?« und endlich das sicher verständliche Zusammenertönen des »Seid umschlungen« mit dem »Freude, schöner Götterfunken!« – aus dem Vermögen der dichtenden Tonsprache entstehen zu lassen. Wenn wir nun den breiten melodischen Bau in der musikalischen Ausführung des ganzen Verses »Seid umschlungen« mit der Melodie vergleichen, die der Meister aus absolutem musikalischen Vermögen über den Vers »Freude, schöner Götterfunken« gleichsam nur ausbreitete, so gewinnen wir ein genaues Verständnis des Unterschiedes zwischen der – wie ich sie nannte – patriarchalischen Melodie und der aus der dichterischen Absicht auf dem Wortverse emporwachsenden Melodie. Wie jene nur im beschränktesten Tonfamilienverhältnisse sich deutlich kundgab, so vermag diese – und zwar nicht nur ohne unverständlich zu werden, sondern gerade erst um dem Gefühle recht verständlich zu sein – die engere Verwandtschaft der Tonart, durch die Verbindung mit wiederum verwandten Tonarten, bis zur Urverwandtschaft der Töne überhaupt auszudehnen, indem sie so das sicher geleitete Gefühl zum unendlichen, rein menschlichen Gefühle erweitert. –

Die Tonart einer Melodie ist das, was die in ihr enthaltenen verschiedenen Töne dem Gefühle zunächst in einem verwandtschaftlichen Bande vorführt. Die Veranlassung zur Erweiterung dieses engeren Bandes zu einem ausgedehnteren, reicheren leitet sich noch aus der dichterischen Absicht, insofern sie sich im Sprachverse bereits zu einem Gefühlsmoment verdichtet hat, und zwar nach dem Charakter des besonderen Ausdruckes einzelner Haupttöne her, die eben vom Verse aus bestimmt worden sind. Diese Haupttöne sind gewissermaßen die jugendlich erwachsenden Glieder der Familie, die sich aus der gewohnten Umgebung der Familie heraus nach umgeleiteter Selbständigkeit sehnen: diese Selbständigkeit gewinnen sie aber nicht als Egoisten, sondern durch Berührung mit einem anderen, eben außerhalb der Familie Liegenden. Die Jungfrau gelangt zu selbständigem Heraustreten aus der Familie nur durch die Liebe des Jünglings, der als der Sprößling einer anderen Familie die Jungfrau zu sich hinüberzieht. So ist der Ton, der aus dem Kreise der Tonart hinaustritt, ein bereits von einer andern Tonart angezogener und von ihr bestimmter, und in diese Tonart muß er sich daher nach dem notwendigen Gesetze der Liebe ergießen. Der aus einer Tonart in eine andere drängende Leitton, der durch dieses Drängen allein schon die Verwandtschaft mit dieser Tonart aufdeckt, kann nur als von dem Motive der Liebe bestimmt gedacht werden. Das Motiv der Liebe ist das aus dem Subjekte heraustreibende und dieses Subjekt zur Verbindung mit einem andern nötigende. Dem einzelnen Tone kann dieses Motiv nur aus einem Zusammenhange entstehen, der ihn als besonderen bestimmt; der bestimmende Zusammenhang der Melodie liegt aber in dem sinnlichen Ausdrucke der Wortphrase, der wiederum aus dem Sinne dieser Phrase zuerst bestimmt wurde. Betrachten wir genauer, so werden wir ersehen, daß hier dieselbe Bestimmung maßgebend ist, die bereits im Stabreime entfernter liegende Empfindungen unter sich verband.

Der Stabreim verband, wie wir sahen, dem sinnlichen Gehöre bereits Sprachwurzeln von entgegengesetzem Empfindungsausdruck (wie »Lust und Leid«, »Wohl und Weh«) und führte sie so dem Gefühle als gattungsverwandt vor. In bei weitem erhöhtem Maße des Ausdruckes vermag nun die musikalische Modulation solch eine Verbindung dem Gefühle anschaulich zu machen. Nehmen wir z. B. einen stabgereimten Vers von vollkommen gleichem Empfindungsgehalte an, wie: »Liebe gibt Lust zum Leben«, so würde hier der Musiker, wie in den stabgereimten Wurzeln der Akzente eine gleiche Empfindung sinnlich sich offenbart, auch keine natürliche Veranlassung zum Hinaustreten aus der einmal gewählten Tonart erhalten, sondern er würde die Hebung und Senkung des musikalischen Tones, dem Gefühle vollkommen genügend, in derselben Tonart bestimmen. Setzen wir dagegen einen Vers von gemischter Empfindung, wie: »die Liebe bringt Lust und Leid«, so würde hier, wie der Stabreim zwei entgegengesetzte Empfindungen verbindet, der Musiker auch aus der angeschlagenen, der ersten Empfindung entsprechenden Tonart in eine andere, der zweiten Empfindung, nach ihrem Verhältnisse zu der in der ersten Tonart bestimmten, entsprechende überzugehen sich veranlaßt fühlen. Das Wort »Lust«, welches als äußerste Steigerung der ersten Empfindung zu der zweiten hinzudrängen scheint, würde in dieser Phrase eine ganz andere Betonung zu erhalten haben als in jener: »die Liebe gibt Lust zum Leben«; der auf ihm gesungene Ton würde unwillkürlich zu dem bestimmenden Leitton werden, welcher mit Notwendigkeit zu der andern Tonart, in der das »Leid« auszusprechen wäre, hindrängte. In dieser Stellung zueinander würde »Lust und Leid« zu einer Kundgebung einer besonderen Empfindung werden, deren Eigentümlichkeit gerade in dem Punkte läge, wo zwei entgegengesetzte Empfindungen als sich bedingend, und somit als notwendig sich zugehörend, als wirklich verwandt, sich darstellten; und diese Kundgebung ist nur in der Musik nach ihrer Fähigkeit der harmonischen Modulation zu ermöglichen, weil sie vermöge dieser einen bindenden Zwang auf das sinnliche Gefühl ausübt, zu dem keine andere Kunst die Kraft besitzt. – Sehen wir aber zunächst noch, wie die musikalische Modulation mit dem Versinhalte gemeinsam wieder auf die erste Empfindung zurückzuleiten vermag. – Lassen wir dem Verse »die Liebe bringt Lust und Leid« als zweiten folgen: »doch in ihr Weh auch webt sie Wonnen«, so würde »webt« wieder zum Leitton in die erste Tonart werden, wie von hier die zweite Empfindung zur ersten, nun bereicherten, wieder zurückkehrt – eine Rückkehr, die der Dichter vermöge des Stabreimes an die sinnliche Gefühlswahrnehmung nur als einen Fortschritt der Empfindung des »Weh« in die der »Wonnen«, nicht aber als einen Abschluß der Gattung der Empfindung »Liebe« darstellen konnte, während der Musiker gerade dadurch vollkommen verständlich wird, daß er in die erste Tonart ganz merklich zurückgeht und die Gattungsempfindung daher mit Bestimmtheit als eine einheitliche bezeichnet, was dem Dichter, der den Wurzelanlaut für den Stabreim wechseln mußte, nicht möglich war. – Allein der Dichter deutete durch den Sinn beider Verse die Gattungsempfindung an; er verlangte somit ihre Verwirklichung vor dem Gefühle und bestimmte den verwirklichenden Musiker für sein Verfahren. Die Rechtfertigung für sein Verfahren, das als ein unbedingtes uns willkürlich und unverständlich erscheinen würde, erhält der Musiker daher aus der Absicht des Dichters – aus einer Absicht, die dieser eben nur andeuten oder höchstens nur für die Bruchteile seiner Kundgebung (eben im Stabreime) annähernd verwirklichen konnte, deren volle Verwirklichung aber eben nur dem Musiker möglich ist, und zwar durch das Vermögen, die Urverwandtschaft der Töne für eine vollkommen einheitliche Kundgebung ureinheitlicher Empfindungen an das Gefühl zu verwenden.

Wie unermeßlich groß dieses Vermögen ist, davon machen wir uns am leichtesten einen Begriff, wenn wir uns den Sinn der beiden oben angeführten Verse in der Art bestimmter noch dargelegt denken, daß zwischen dem Fortschritte aus der einen Empfindung und der im zweiten Verse schon ausgeführten Rückkehr zu ihr eine längere Folge von Versen die mannigfaltigste Steigerung und Mischung zwischenliegender, teils verstärkender, teils versöhnender Empfindungen, bis zur endlichen Rückkehr zur Hauptempfindung ausdrückte. Hier würde die musikalische Modulation, um die dichterische Absicht zu verwirklichen, in die verschiedensten Tonarten hinüber- und zurückzuleiten haben; alle die berührten Tonarten würden aber in einem genauen verwandtschaftlichen Verhältnisse zu der ursprünglichen Tonart erscheinen, von der aus das besondere Licht, welches sie auf den Ausdruck werfen, wohl bedingt und die Fähigkeit zu dieser Lichtgebung gewissermaßen selbst erst verliehen wird. Die Haupttonart würde, als Grundton der angeschlagenen Empfindung, in sich die Urverwandtschaft mit allen Tonarten offenbaren, die bestimmte Empfindung somit, vermöge des Ausdruckes, während ihrer Äußerung in einer Höhe und Ausdehnung kundtun, daß nur das ihr Verwandte für die Dauer ihrer Äußerung unser Gefühl bestimmen könnte, unser allgemeines Gefühlsvermögen von dieser Empfindung, vermöge ihrer gesteigerten Ausdehnung, einzig erfüllt würde, und somit diese eine Empfindung zur allumfassenden, allmenschlichen, unfehlbar verständlichen erhoben worden wäre.

Ist hiermit die dichterisch-musikalische Periode bezeichnet worden, wie sie sich nach einer Haupttonart bestimmt, so können wir vorläufig das Kunstwerk als das für den Ausdruck vollendetste bezeichnen, in welchem viele solche Perioden nach höchster Fülle sich so darstellen, daß sie, zur Verwirklichung einer höchsten dichterischen Absicht, eine aus der andern sich bedingen und zu einer reichen Gesamtkundgebung sich entwickeln, in welcher das Wesen des Menschen nach einer entscheidenden Hauptrichtung hin, d. h. nach einer Richtung hin, die das menschliche Wesen vollkommen in sich zu fassen imstande ist (wie eine Haupttonart alle übrigen Tonarten in sich zu fassen vermag), auf das sicherste und begreiflichste dem Gefühle dargestellt wird. Dieses Kunstwerk ist das vollendete Drama, in welchem jene umfassende Richtung des menschlichen Wesens in einer folgerichtigen, sich wohl bedingenden Reihe von Gefühlsmomenten mit solcher Stärke und Überzeugungskraft an das Gefühl sich kundgibt, daß, als notwendige bestimmteste Äußerung des Gefühlsinhaltes der zum umfassenden Gesamtmotiv gesteigerten Momente, die Handlung aus diesem Reichtume von Bedingungen als letzter, unwillkürlich geforderter und somit vollkommen verstandener Moment hervorgeht. –

Ehe wir vom Charakter der dichterisch-musikalisch melodischen Periode aus auf das Drama, wie es aus der gegenseitig sich bedingenden Entwickelung vieler nötiger solcher Perioden zu erwachsen hat, weiter schließen, müssen wir zuvor jedoch genau noch das Moment bestimmen, welches auch die einzelne melodische Periode nach ihrem Gefühlsausdrucke aus dem Vermögen der reinen Musik heraus bedingt, und uns das unermeßlich bindende Organ zur Verfügung stellen soll, durch dessen eigentümlichste Hülfe wir das vollendete Drama erst ermöglichen können. Dies Organ wird uns aus der – wie ich sie bereits nannte – vertikalen Ausdehnung der Harmonie, da, wo sie sich aus ihrem Grunde heraufbewegt, erwachsen, wenn wir der Harmonie selbst die Möglichkeit teilnehmendster Mittätigkeit am ganzen Kunstwerke zuwenden.


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