Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

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[ VII ]

Wir sind zu Ende – denn wir haben das Vermögen der Musik in der Oper bis zur Kundgebung ihres gänzlichen Unvermögens verfolgt.

Wenn wir heutzutage von Opernmusik im eigentlichen Sinne reden, sprechen wir nicht mehr von einer Kunst, sondern von einer bloßen Modeerscheinung. Nur der Kritiker, der nichts von drängender künstlerischer Notwendigkeit in sich fühlt, vermag noch Hoffnungen oder Zweifel über die Zukunft der Oper auszusprechen; der Künstler selbst, sobald er sich nicht zum Spekulanten auf das Publikum herabwürdigt, bezeugt dadurch, daß er neben der Oper hin sich Auswege sucht und hierbei namentlich auf die nachzusuchende energische Teilnahme des Dichters verfällt, daß er die Oper selbst bereits für tot hält.

Hier aber, in dieser nachzusuchenden Teilnahme des Dichters, treffen wir auf den Punkt, über den wir zu voller, tagesheller, bewußter Klarheit gelangen müssen, wenn wir das Verhältnis zwischen Musiker und Dichter in seiner wirklichen gesunden Natürlichkeit erfassen und feststellen wollen. Dieses Verhältnis muß ein dem bisher gewohnten vollkommen entgegengesetztes sein, so gänzlich verändert, daß der Musiker zu seinem eigenen Gedeihen nur dann in ihm sich zurechtfinden wird, wenn er alle Erinnerung an die alte unnatürliche Verbindung aufgibt, deren letztes Band ihn immer wieder in den alten unfruchtbaren Wahnsinn zurückziehen müßte.

Um uns dies einzugehende gesunde und einzig gedeihliche Verhältnis vollkommen deutlich zu machen, müssen wir vor allem das Wesen unserer heutigen Musik uns nochmals, gedrängt aber bestimmt, vorführen. –

 

Wir werden am schnellsten zu einem klaren Überblicke gelangen, wenn wir das Wesen der Musik kurz und bündig in den Begriff der Melodie zusammenfassen.

Wie das Innere wohl der Grund und die Bedingung für das Äußere ist, in dem Äußeren sich aber erst das Innere deutlich und bestimmt kundgibt, so sind Harmonie und Rhythmos wohl die gestaltenden Organe, die Melodie aber ist erst die wirkliche Gestalt der Musik selbst. Harmonie und Rhythmos sind Blut, Fleisch, Nerven und Knochen mit all dem Eingeweide, das gleich jenen beim Anblicke des fertigen, lebendigen Menschen dem beschauenden Auge verschlossen bleibt; die Melodie dagegen ist dieser fertige Mensch selbst, wie er sich unserem Auge darstellt. Beim Anblicke dieses Menschen betrachten wir einzig die schlanke Gestalt, wie sie in der formgebenden Abgrenzung der äußeren Hauthülle sich uns ausdrückt; wir versenken uns in den Anblick der ausdrucksvollsten Äußerung dieser Gestalt in den Gesichtszügen, und haften endlich beim Auge, der lebenvollsten und mitteilungsfähigsten Äußerung des ganzen Menschen, der durch dieses Organ, das sein Mitteilungsvermögen wiederum nur aus der universellsten Fähigkeit, die Äußerungen der umgebenden Welt aufzunehmen, gewinnt, zugleich sein Innerstes am überzeugendsten uns kundgibt. So ist die Melodie der vollendetste Ausdruck des inneren Wesens der Musik, und jede wahre, durch dieses innerste Wesen bedingte Melodie spricht auch durch jenes Auge zu uns, das am ausdrucksvollsten dieses Innere uns mitteilt, aber immer so, daß wir eben nur den Strahl des Augsternes, nicht jenen inneren, an sich noch formlosen Organismus in seiner Nacktheit erblicken.

Wo das Volk Melodien erfand, verfuhr es, wie der leiblich natürliche Mensch, der durch den unwillkürlichen Akt geschlechtlicher Begattung den Menschen erzeugt und gebiert, und zwar den Menschen, der, wenn er an das Licht des Tages gelangt, fertig ist, sogleich durch seine äußere Gestalt, nicht aber etwa erst durch seinen aufgedeckten inneren Organismus sich kundgibt. Die griechische Kunst faßte diesen Menschen noch vollkommen nur nach seiner äußeren Gestalt auf, und bemühte sich, sie auf das getreueste und lebendigste – endlich in Stein und Erz – nachzubilden. Das Christentum dagegen verfuhr anatomisch: es wollte die Seele des Menschen auffinden, öffnete und zerschnitt den Leib und deckte all den formlosen inneren Organismus auf, der unsern Blick anwiderte, eben weil er nicht für das Auge da ist oder da sein soll. Im Aufsuchen der Seele hatten wir aber den Leib getötet; als wir auf den Quell des Lebens treffen wollten, vernichteten wir die Äußerung dieses Lebens, und gelangten so nur auf tote Innerlichkeiten, die eben nur bei vollkommen ununterbrochener Äußerungsmöglichkeit Bedingungen des Lebens sein konnten. Die aufgesuchte Seele ist aber in Wahrheit nichts anderes als das Leben: was der christlichen Anatomie zu betrachten übrig blieb, war daher nur – der Tod.

Das Christentum hatte die organische künstlerische Lebensregung des Volkes, seine natürliche Zeugungskraft erstickt: es hatte in sein Fleisch geschnitten, und mit dem dualistischen Seziermesser auch seinen künstlerischen Lebensorganismus zerstört. Die Gemeinsamkeit, in der sich allein die künstlerische Zeugungskraft des Volkes bis zum Vermögen vollendeter Kunstschöpfung erheben kann, gehörte dem Katholizismus: nur in der Einsamkeit, da, wo Volksbruchteile – abgelegen von der großen Heerstraße des gemeinsamen Lebens – mit sich und der Natur sich allein fanden, erhielt sich in kindlicher Einfalt und dürftiger Beschränktheit das mit der Dichtung untrennbar verwachsene Volkslied.

Sehen wir zunächst von diesem ab, so gewahren wir dagegen auf dem Gebiete der Kulturkunst die Musik einen unerhört neuen Entwickelungsgang nehmen: nämlich den aus ihrem anatomisch zerlegten, innerlich getöteten Organismus heraus zu neuer Lebensentfaltung durch Zusammenfügung und neues Verwachsenlassen der getrennten Organe. – Im christlichen Kirchengesange hatte sich die Harmonie selbständig ausgebildet. Ihr natürliches Lebensbedürfnis drängte sie mit Notwendigkeit zur Äußerung als Melodie; sie bedurfte zu dieser Äußerung aber unerläßlich des Anhaltes an das Form und Bewegung gebende Organ des Rhythmos, das sie als ein willkürliches, fast mehr eingebildetes als wirkliches Maß dem Tanze entnahm. Die neue Vereinigung konnte nur eine künstliche sein. Wie die Dichtkunst nach den Regeln, die Aristoteles von den Tragikern abstrahiert hatte, konstruiert wurde, so mußte die Musik nach wissenschaftlichen Annahmen und Normen hergerichtet werden. Es war dies in der Zeit, wo nach gelehrten Rezepten und aus chemischen Dekokten sogar Menschen gemacht werden sollten. Einen solchen Menschen suchte auch die gelehrte Musik zu konstruieren: der Mechanismus sollte den Organismus herstellen, oder doch ersetzen. Der rastlose Trieb all dieser mechanischen Erfindsamkeit ging in Wahrheit aber doch immer nur auf den wirklichen Menschen hinaus, auf den Menschen, der aus dem Begriffe wiederhergestellt, somit endlich zum wirklich organischen Leben wieder erwachen sollte. – Wir berühren hier den ganzen ungeheuren Entwickelungsgang der modernen Menschheit! –

Der Mensch, den die Musik herstellen wollte, war in Wirklichkeit aber nichts anderes als die Melodie, d. h. das Moment bestimmtester, überzeugendster Lebensäußerung des wirklich lebendigen, inneren Organismus der Musik. Je weiter sich die Musik in diesem notwendigen Verlangen nach Menschwerdung entwickelt, sehen wir mit immer größerer Entschiedenheit das Streben nach deutlicher melodischer Kundgebung sich bis zur schmerzlichsten Sehnsucht steigern und in den Werken keines Musikers sehen wir diese Sehnsucht zu solcher Macht und Gewalt erwachsen wie in den großen Instrumentalwerken Beethovens. In ihnen bewundern wir die ungeheuersten Anstrengungen des nach Menschwerdung verlangenden Mechanismus, die dahin gingen, alle seine Bestandteile in Blut und Nerven wirklich lebendigen Organismusses aufzulösen, um durch ihn zur unfehlbaren Äußerung als Melodie zu gelangen.

Hierin zeigt sich bei Beethoven der eigentümliche und entscheidende Gang unserer ganzen Kunstentwickelung bei weitem wahrhaftiger als bei unsern Opernkomponisten. Diese erfaßten die Melodie als etwas außerhalb ihres Kunstschaffens Liegendes, Fertiges; sie lösten die Melodie, an deren organischer Erzeugung sie gar keinen Teil genommen hatten, vom Munde des Volkes los, rissen sie somit aus ihrem Organismus heraus, und verwandten sie eben nur nach willkürlichem Gefallen, ohne diese Verwendung irgendwie anders als durch luxuriöses Belieben zu rechtfertigen. War jene Volksmelodie die äußere Gestalt des Menschen, so zogen die Opernkomponisten diesem Menschen gewissermaßen seine Haut ab, und bedeckten mit ihr einen Gliedermann, wie um ihm menschliches Ansehen zu geben: sie konnten hiermit höchstens nur die zivilisierten Wilden unseres halbhinschauenden Opernpublikums täuschen.

Bei Beethoven dagegen erkennen wir den natürlichen Lebensdrang, die Melodie aus dem inneren Organismus der Musik heraus zu gebären. In seinen wichtigsten Werken stellt er die Melodie keinesweges als etwas von vornherein Fertiges hin, sondern er läßt sie aus ihren Organen heraus gewissermaßen vor unseren Augen gebären; er weiht uns in diesen Gebärungsakt ein, indem er ihn uns nach seiner organischen Notwendigkeit vorführt. Das Entscheidendste, was der Meister in seinem Hauptwerke uns endlich aber kundtut, ist die von ihm als Musiker gefühlte Notwendigkeit, sich in die Arme des Dichters zu werfen, um den Akt der Zeugung der wahren, unfehlbar wirklichen und erlösenden Melodie zu vollbringen. Um Mensch zu werden, mußte Beethoven ein ganzer, d. h. gemeinsamer, den geschlechtlichen Bedingungen des Männlichen und Weiblichen unterworfener Mensch werden. – Welch ernstes, tiefes und sehnsüchtiges Sinnen entdeckte dem unendlich reichen Musiker endlich erst die schlichte Melodie, mit der er in die Worte des Dichters ausbrach: »Freude, schöner Götterfunken!« – Mit dieser Melodie ist uns aber auch das Geheimnis der Musik gelöst: wir wissen nun, und haben die Fähigkeit gewonnen, mit Bewußtsein organisch schaffende Künstler zu sein. –

Verweilen wir jetzt bei dem wichtigsten Punkte unserer Untersuchung, und lassen wir uns dabei von der »Freudemelodie« Beethovens leiten. –

Die Volksmelodie bot uns bei ihrer Wiederauffindung von seiten der Kulturmusiker ein zweifaches Interesse; das der Freude an ihrer natürlichen Schönheit, wo wir sie unentstellt im Volke selbst antrafen, und das der Forschung nach ihrem inneren Organismus. Die Freude an ihr mußte, genaugenommen, für unser Kunstschaffen unfruchtbar bleiben: wir hätten uns, dem Gehalt und der Form nach, streng nur in einer dem Volksliede selbst ähnlichen Kunstgattung bewegen müssen, um mit einigem Erfolge auch diese Melodie nachahmen zu können; ja, wir hätten selbst im genauesten Sinne Volkskünstler sein müssen, um die Fähigkeit dieser Nachahmung zu gewinnen; wir hätten sie eigentlich also gar nicht nachzuahmen, sondern als Volk selbst wieder zu erfinden haben müssen.

Wir konnten dagegen, in einem ganz anderen – von dem des Volkes himmelweit verschiedenen Kunstschaffen befangen, diese Melodie im gröbsten Sinne eben nur verwenden, und zwar in einer Umgebung und unter Bedingungen, die sie notwendig entstellen mußten. Die Geschichte der Opernmusik führt sich im Grunde einzig auf die Geschichte dieser Melodie zurück, in welcher nach gewissen, denen der Ebbe und Flut ähnlichen Gesetzen, die Perioden der Aufnahme und Wiederaufnahme der Volksmelodie mit denen ihrer eintretenden und immer wieder überhandnehmenden Entstellung und Entartung wechseln. – Diejenigen Musiker, die dieser üblen Eigenschaft der zur Opernarie gewordenen Volksmelodie am schmerzlichsten inne wurden, sahen sich daher auf die mehr oder weniger deutlich empfundene Notwendigkeit hingedrängt, auf die organische Zeugung der Melodie selbst bedacht zu sein. Der Opernkomponist stand der Auffindung des dazu nötigen Verfahrens am nächsten, und gerade ihm mußte sie doch nie glücken, weil er zu dem einzig der Befruchtung fähigen Elemente der Dichtkunst in einem grundfalschen Verhältnisse stand, weil er in seiner unnatürlichen und usurpatorischen Stellung dieses Element gewissermaßen der Zeugungsorgane beraubt hatte. In seiner verkehrten Stellung zum Dichter mochte der Komponist es anfangen, wie er wollte, überall da, wo das Gefühl sich auf die Höhe des melodischen Ergusses aufschwang, mußte er auch seine fertige Melodie mitbringen, weil der Dichter sich von vornherein der ganzen Form zu fügen hatte, in welcher jene Melodie sich kundgeben sollte: diese Form war aber von so gebieterischer Einwirkung auf die Gestaltung der Opernmelodie, daß sie in Wahrheit auch ihren wesenhaften Inhalt bestimmte.

Diese Form war von der Volksliedweise entnommen; ihre äußerlichste Gestaltung, der Wechsel und die Wiederkehr der Bewegung im rhythmischen Zeitmaße sogar der Tanzweise entlehnt – die allerdings mit der Liedweise ursprünglich eins war. In dieser Form war nur variiert worden, sie selbst aber blieb das unantastbare Gerüst der Opernarie bis auf die neuesten Zeiten. Nur in ihr blieb einzig ein melodischer Aufbau denkbar – natürlich blieb dies aber auch immer nur ein Aufbau, der durch dies Gerüst von vornherein bestimmt war. Der Musiker, der, sowie er in diese Form eintrat, nicht mehr erfinden, sondern nur noch variieren konnte, war somit von vornherein jedes Vermögens zur organischen Erzeugung der Melodie beraubt; denn die wahre Melodie ist, wie wir sahen, selbst Äußerung eines inneren Organismus; sie muß daher, wenn sie organisch entstanden sein soll, gerade eben auch ihre Form sich selbst gestalten, und zwar eine Form, wie sie ihrem inneren Wesen zur bestimmtesten Mitteilung entsprach. Die Melodie, die hingegen aus der Form konstruiert wurde, konnte nie etwas anderes als Nachahmung derjenigen Melodie sein, die sich eben in jener Form ursprünglich aussprach.Der Opernkomponist, der in der Arienform sich zu ewiger Unfruchtbarkeit verdammt sah, suchte sich ein Feld für freiere Bewegung des musikalischen Ausdruckes im Rezitativ. Allein auch dieses war eine bestimmte Form; verließ der Musiker den bloß rhetorischen Ausdruck, der dem Rezitativ eigen ist, um die Blume des erregteren Gefühles erblühen zu lassen, so sah er sich beim Eintritt der Melodie immer wieder in die Arienform hineingedrängt. Vermied er daher grundsätzlich die Arienform, so konnte er eben nur wieder in der bloßen Rhetorik des Rezitatives haften bleiben, ohne je zur Melodie sich aufzuschwingen; außer – wohlgemerkt! – da, wo er mit schönem Selbstvergessen den zeugenden Keim des Dichters in sich aufnahm. Das Streben, diese Form zu brechen, wird uns daher auch bei vielen Opernkomponisten ersichtlich: mit künstlerischem Erfolge wäre sie doch aber nur dann überwunden worden, wenn entsprechende neue Formen gewonnen worden wären; die neue Form wäre eine wirkliche Kunstform doch aber nur dann gewesen, wenn sie als bestimmteste Äußerung eines besonderen musikalischen Organismus sich kundgegeben hätte: aller musikalische Organismus ist seiner Natur nach aber – ein weiblicher, er ist ein nur gebärender, nicht aber zeugender; die zeugende Kraft liegt außer ihm, und ohne Befruchtung von dieser Kraft vermag sie eben nicht zu gebären. – Hier liegt das ganze Geheimnis der Unfruchtbarkeit der modernen Musik! –

Wir bezeichneten Beethovens künstlerisches Verfahren in seinen wichtigsten Instrumentalsätzen als »Vorführung des Aktes der Gebärung der Melodie«. Beachten wir hierbei das Charakteristische, daß, wenn der Meister uns wohl erst im Verlaufe des Tonstückes die volle Melodie als fertig hinstellt, diese Melodie dennoch beim Künstler von Anfang herein schon als fertig vorauszusetzen ist: er zerbrach nur von vornherein die enge Form – eben die Form, gegen die der Opernkomponist vergebens ankämpfte –, er zersprengte sie in ihre Bestandteile, um diese durch organische Schöpfung zu einem neuen Ganzen zu verbinden, und zwar dadurch, daß er die Bestandteile verschiedener Melodien sich in wechselnde Berührung setzen ließ, wie um die organische Verwandtschaft der scheinbar unterschiedensten solcher Bestandteile, somit die Urverwandtschaft jener verschiedenen Melodien selbst darzutun. Beethoven deckt uns hierbei nur den inneren Organismus der absoluten Musik auf: es lag ihm gewissermaßen daran, diesen Organismus aus der Mechanik herzustellen, ihm sein inneres Leben zu vindizieren, und ihn uns am lebendigsten eben im Akte der Gebärung zu zeigen. Das, womit er diesen Organismus befruchtete, war aber immer nur noch die absolute Melodie; er belebte somit diesen Organismus nur dadurch, daß er ihn – sozusagen – im Gebären übte, und zwar indem er ihn die bereits fertige Melodie wiedergebären ließ. Gerade durch dieses Verfahren fand er sich aber dazu hingedrängt, dem nun bis zur gebärenden Kraft neu belebten Organismus der Musik auch den befruchtenden Samen zuzuführen, und diesen entnahm er der zeugenden Kraft des Dichters. Fern von allem ästhetischen Experimentieren, konnte Beethoven, der hier unbewußt den Geist unsres künstlerischen Entwickelungsganges in sich aufnahm, doch nicht anders, als in gewissem Sinne spekulativ zu Werke gehen. Er selbst war keinesweges durch den zeugenden Gedanken eines Dichters zum unwillkürlichen Schaffen angeregt, sondern er sah sich in musikalischer Gebärungslust nach dem Dichter um. So erscheint selbst seine Freude-Melodie noch nicht auf oder durch die Verse des Dichters erfunden, sondern nur im Hinblick auf Schillers Gedicht, in der Anregung durch seinen allgemeinen Inhalt, verfaßt. Erst wo Beethoven von dem Inhalte dieses Gedichtes im Verlaufe bis zur dramatischen Unmittelbarkeit gesteigert wird,Ich weise namentlich auf das »Seid umschlungen, Millionen!« und die Verbindung dieses Themas mit dem »Freude, schöner Götterfunken!« hin, um mich ganz deutlich zu machen. sehen wir seine melodischen Kombinationen immer bestimmter auch aus dem Wortverse des Gedichtes hervorwachsen, so daß der unerhört mannigfaltigste Ausdruck seiner Musik gerade nur dem, allerdings höchsten Sinne des Gedichtes und Wortlautes in solcher Unmittelbarkeit entspricht, daß die Musik von dem Gedichte getrennt uns plötzlich gar nicht mehr denkbar und begreiflich erscheinen kann. Und hier ist der Punkt, wo wir das Resultat der ästhetischen Forschung über den Organismus des Volksliedes mit erhellendster Deutlichkeit durch einen künstlerischen Akt selbst bestätigt sehen. Wie die lebendige Volksmelodie untrennbar vom lebendigen Volksgedichte ist, abgetrennt von diesem aber organisch getötet wird, so vermag der Organismus der Musik die wahre, lebendige Melodie nur zu gebären, wenn er vom Gedanken des Dichters befruchtet wird. Die Musik ist die Gebärerin, der Dichter der Erzeuger; und auf dem Gipfel des Wahnsinnes war die Musik daher angelangt, als sie nicht nur gebären, sondern auch zeugen wollte.

 

Die Musik ist ein Weib.

Die Natur des Weibes ist die Liebe: aber diese Liebe ist die empfangende und in der Empfängnis rückhaltlos sich hingebende.

Das Weib erhält volle Individualität erst im Momente der Hingebung. Es ist das Wellenmädchen, das seelenlos durch die Wogen seines Elementes dahinrauscht, bis es durch die Liebe eines Mannes erst die Seele empfängt. Der Blick der Unschuld im Auge des Weibes ist der endlos klare Spiegel, in welchem der Mann so lange eben nur die allgemeine Fähigkeit zur Liebe erkennt, bis er sein eigenes Bild in ihm zu erblicken vermag: hat er sich darin erkannt, so ist auch die Allfähigkeit des Weibes zu der einen drängenden Notwendigkeit verdichtet, ihn mit der Allgewalt vollsten Hingebungseifers zu lieben.

Das wahre Weib liebt unbedingt, weil es lieben muß. Es hat keine Wahl, außer da, wo es nicht liebt. Wo es aber lieben muß, da empfindet es einen ungeheuren Zwang, der zum erstenmal auch seinen Willen entwickelt. Dieser Wille, der sich gegen den Zwang auflehnt, ist die erste und mächtigste Regung der Individualität des geliebten Gegenstandes, die durch das Empfängnis in das Weib gedrungen, es selbst mit Individualität und Willen begabt hat. Dies ist der Stolz des Weibes, der ihm nur aus der Kraft der Individualität erwächst, die es eingenommen hat und mit der Not der Liebe zwingt. So kämpft es um des geliebten Empfängnisses willen gegen den Zwang der Liebe selbst, bis es unter der Allgewalt dieses Zwanges inne wird, daß er, wie sein Stolz, nur die Kraftausübung der empfangenen Individualität selbst ist, daß die Liebe und der geliebte Gegenstand eins sind, daß es ohne diese weder Kraft noch Willen hat, daß es von dem Augenblicke an, wo es Stolz empfand, bereits vernichtet war. Das offene Bekenntnis dieser Vernichtung ist dann das tätige Opfer der letzten Hingebung des Weibes: sein Stolz geht so mit Bewußtsein in das einzige auf, was es zu empfinden vermag, was es fühlen und denken kann, ja, was es selbst ist – in die Liebe zu diesem Manne. –

Ein Weib, das nicht mit diesem Stolze der Hingebung liebt, liebt in Wahrheit gar nicht. Ein Weib, das gar nicht liebt, ist aber die unwürdigste und widerlichste Erscheinung der Welt. Führen wir uns die charakteristischen Typen solcher Frauen vor!

Man hat die italienische Opernmusik sehr treffend eine Lustdirne genannt. Eine Buhlerin kann sich rühmen, immer sie selbst zu bleiben; sie gerät nie außer sich, sie opfert sich nie, außer wenn sie selbst Lust empfinden oder einen Vorteil gewinnen will, und für diesen Fall bietet sie nur den Teil ihres Wesens fremdem Genusse dar, über den sie mit Leichtigkeit verfügen kann, weil er ihr ein Gegenstand ihrer Willkür geworden ist. Bei der Liebesumarmung der Buhlerin ist nicht das Weib gegenwärtig, sondern nur ein Teil seines sinnlichen Organismus: sie empfängt in der Liebe nicht Individualität, sondern sie gibt sich ganz generell wiederum an das Generelle hin. So ist die Buhlerin ein unentwickeltes, verwahrlostes Weib – aber sie übt doch wenigstens sinnliche Funktionen des weiblichen Geschlechtes aus, an denen wir das Weib noch – wenn auch mit Bedauern – zu erkennen vermögen.

Die französische Opernmusik gilt mit Recht als Kokette. Die Kokette reizt es, bewundert, ja gar geliebt zu werden: die ihr eigentümliche Freude am Bewundert- und Geliebtsein kann sie aber nur genießen, wenn sie selbst weder in Bewunderung noch gar in Liebe für den Gegenstand, dem sie beides einflößt, befangen ist. Der Gewinn, den sie sucht, ist die Freude über sich selbst, die Befriedigung der Eitelkeit: daß sie bewundert und geliebt wird, ist der Genuß ihres Lebens, der augenblicklich ihr getrübt wäre, sobald sie selbst Bewunderung oder Liebe empfände. Liebte sie selbst, so wäre sie ihres Selbstgenusses beraubt, denn in der Liebe muß sie notwendig sich selbst vergessen, und dem schmerzlichen, oft selbstmörderischen Genusse des anderen sich hingeben. Vor nichts hütet sich daher die Kokette so sehr als vor der Liebe, um das einzige, was sie liebt, unberührt zu erhalten, nämlich sich selbst, d. h. das Wesen, das seine verführerische Kraft, seine angeübte Individualität, doch erst der Liebesannäherung des Mannes entnimmt, dem sie – die Kokette – sein Eigentum somit zurückhält. Die Kokette lebt daher vom diebischen Egoismus, und ihre Lebenskraft ist frostige Kälte. In ihr ist die Natur des Weibes zu ihrem widerlichen Gegenteile verkehrt und von ihrem kalten Lächeln, das uns nur unser verzerrtes Bild zurückspiegelt, wenden wir uns wohl in Verzweiflung zur italienischen Lustdirne hin.

Aber noch einen Typus entarteter Frauen gibt es, der uns gar mit widerwärtigem Grauen erfüllt: das ist die Prüde, als welche uns die sogenannte »deutsche«Unter »deutscher« Oper verstehe ich hier natürlich nicht die Webersche Oper, sondern diejenige moderne Erscheinung, von der man um so mehr spricht, je weniger sie in Wahrheit eigentlich vorhanden ist – wie das »deutsche Reich«. Das Besondere dieser Oper besteht darin, daß sie ein Gedachtes und Gemachtes derjenigen modernen deutschen Komponisten ist, die nicht dazu kommen, französische oder italienische Operntexte zu komponieren, was sie einzig verhindert, italienische oder französische Opern zu schreiben, und ihnen zum nachträglichen Troste die stolze Einbildung erweckt, etwas ganz Besonderes, Auserwähltes zustande bringen zu können, da sie doch viel mehr Musik verstünden als die Italiener und Franzosen. Opernmusik gelten muß. – Der Buhlerin mag es begegnen, daß in ihr für den umarmenden Jüngling plötzlich die Opferglut der Liebe aufschlägt – gedenken wir des Gottes und der Bajadere! –; der Kokette mag es sich ereignen, daß sie, die immer mit der Liebe spielt, in diesem Spiele sich eng verstrickt und trotz aller Gegenwehr der Eitelkeit sich von dem Netze gefangen sieht, in dem sie nun weinend den Verlust ihres Willens beklagt. Nie aber wird dem Weibe dieses schöne Menschliche begegnen, das ihre Unbeflecktheit mit orthodoxem Glaubensfanatismus bewacht – dem Weibe, dessen Tugend grundsätzlich in der Lieblosigkeit besteht. Die Prüde ist nach den Regeln des Anstandes erzogen, und hat das Wort »Liebe« von Jugend auf nur mit scheuer Verlegenheit aussprechen gehört. Sie tritt, das Herz voll Dogma, in die Welt, blickt scheu um sich, gewahrt die Buhlerin und die Kokette, schlägt an die fromme Brust und ruft: »ich danke dir, Herr, daß ich nicht bin wie diese!« – Ihre Lebenskraft ist der Anstand, ihr einziger Wille die Verneinung der Liebe, die sie nicht anders kennt als in dem Wesen der Buhlerin und Kokette. Ihre Tugend ist die Vermeidung des Lasters, ihr Wirken die Unfruchtbarkeit, ihre Seele impertinenter Hochmut. – Und wie nahe ist gerade dieses Weib dem allerekelhaftesten Falle! In ihrem bigotten Herzen regt sich nie die Liebe, in ihrem sorgsam versteckten Fleische wohl aber gemeine Sinnenlust. Wir kennen die Konventikel der Frommen und die ehrenwerten Städte, in denen die Blume der Muckerei erblühte! Wir haben die Prüde in jedes Laster der französischen und italienischen Schwester verfallen sehen, nur noch mit dem Laster der Heuchelei befleckt und leider ohne alle Originalität! –

Wenden wir uns ab von diesem abscheulichen Anblicke und fragen wir nun, was für ein Weib soll die wahre Musik sein?

Ein Weib, das wirklich liebt, seine Tugend in seinen Stolz, seinen Stolz aber in sein Opfer setzt, in das Opfer, mit dem es nicht einen Teil seines Wesens, sondern sein ganzes Wesen in der reichsten Fülle seiner Fähigkeit hingibt, wenn es empfängt. Das Empfangene aber froh und freudig zu gebären, das ist die Tat des Weibes – und um Taten zu wirken, braucht daher das Weib nur ganz das zu sein, was es ist, durchaus aber nicht etwas zu wollen: denn es kann nur Eines wollen – Weib sein! Das Weib ist dem Manne daher das ewig klare und erkenntliche Maß der natürlichen Untrüglichkeit, denn es ist das Vollkommenste, wenn es nie aus dem Kreise der schönen Unwillkürlichkeit heraustritt, in den es durch das, was sein Wesen einzig zu beseligen vermag, durch die Notwendigkeit der Liebe, gebannt ist.

Und hier zeige ich euch nochmals den herrlichen Musiker, in welchem die Musik ganz das war, was sie im Menschen zu sein vermag, wenn sie eben ganz nach der Fülle ihrer Wesenheit Musik und nichts anderes als Musik ist. Blickt auf Mozart! – War er etwa ein geringerer Musiker, weil er nur ganz und gar Musiker war, weil er nichts anderes sein konnte und wollte als Musiker? Seht seinen »Don Juan«! Wo hat je die Musik so unendlich reiche Individualität gewonnen, so sicher und bestimmt in reichster, überschwenglichster Fülle zu charakterisieren vermocht als hier, wo der Musiker der Natur seiner Kunst nach nicht im mindesten etwas anderes war als unbedingt liebendes Weib? –

 

– Doch, halten wir an, und zwar gerade hier, um uns gründlich zu befragen, wer denn der Mann sein müsse, den dieses Weib so unbedingt lieben soll? Erwägen wir wohl, ehe wir die Liebe dieses Weibes preisgeben, ob die Gegenliebe des Mannes etwa eine zu erbettelnde, oder eine auch ihm notwendige und erlösende sein müsse?

Betrachten wir genau den Dichter!

 
Ende des ersten Teiles


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