Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

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Die Oper und das Wesen der Musik

[ I ]

Jedes Ding lebt und besteht durch die innere Notwendigkeit seines Wesens, durch das Bedürfnis seiner Natur. Es lag in der Natur der Tonkunst, sich zu einer Fähigkeit des mannigfaltigsten und bestimmtesten Ausdruckes zu entwickeln, zu der sie, wiewohl das Bedürfnis dazu in ihr lag, nie gelangt sein würde, wenn sie nicht in eine Stellung zur Dichtkunst gedrängt worden wäre, in der sie Anforderungen an ihr äußerstes Vermögen entsprechen zu wollen sich genötigt sah, selbst wenn diese Anforderungen auf das ihr Unmögliche sich richten mußten.

Nur in seiner Form kann sich ein Wesen aussprechen: ihre Formen verdankte die Tonkunst dem Tanze und dem Liede. Dem bloßen Sprachdichter, der sich zur Erhöhung des ihm zu Gebote stehenden Ausdruckes für das Drama der Musik bedienen wollte, erschien diese nur in jener beschränkten Tanz- und Liedform, in welcher sie ihm unmöglich die Fülle des Ausdruckes zeigen konnte, dessen sie in Wahrheit doch fähig war. Wäre die Tonkunst ein für allemal zu dem Sprachdichter in einer Stellung verblieben, wie dieser in der Oper sie jetzt zu ihr einnimmt, so würde sie von diesem nur nach ihrem beschränktesten Vermögen verwendet worden und nie zu der Fähigkeit gelangt sein, ein so überaus mächtiges Ausdrucksorgan zu werden, als sie es heute ist. Es mußte der Musik somit vorbehalten sein, sich selbst Möglichkeiten zuzutrauen, die in Wahrheit für sie Unmöglichkeiten bleiben sollten; sie mußte sich in den Irrtum stürzen, als reines Ausdrucksorgan für sich auch das Auszudrückende deutlich bestimmen zu wollen; sie mußte sich in das hochmütige Unternehmen wagen, da Anordnungen zu treffen und Absichten aussprechen zu wollen, wo sie in Wahrheit einer, aus ihrem Wesen gar nicht zu fassenden Absicht sich unterzuordnen, in dieser Unterordnung aber auch an der Verwirklichung dieser Absicht einen einzig ermöglichenden Anteil haben kann. –

Nach zwei Seiten hin hat sich nun das Wesen der Musik in dem von ihm aus bestimmten Kunstgenre der Oper entwickelt: nach einer ernsten – durch alle die Tondichter, welche die Last der Verantwortung auf sich fühlten, die der Musik zugeteilt war, als sie die Absicht des Dramas für sich allein übernahm –, nach einer frivolen – durch alle die Musiker, die, wie von dem Instinkt der Unmöglichkeit der Lösung einer unnatürlichen Aufgabe getrieben, dieser den Rücken wandten, und, nur auf den Genuß des Vorteiles bedacht, den die Oper einer ungemein ausgedehnten Öffentlichkeit gegenüber gewonnen hatte, einem ungemischt musikalischen Experimentieren sich hingaben. Es ist notwendig, daß wir die erste, die ernste Seite, zuerst näher in das Auge fassen.

 

Die musikalische Grundlage der Oper war – wie wir wissen – nichts anderes als die Arie, die Arie aber wiederum nur das vom Kunstsänger der vornehmen Welt vorgeführte Volkslied, dessen Wortgedicht ausgelassen und durch das Produkt des dazu bestellten Kunstdichters ersetzt wurde. Die Ausbildung der Volksweise zur Opernarie war zunächst das Werk jenes Kunstsängers, dem es an sich nicht mehr an dem Vortrage der Weise, sondern an der Darlegung seiner Kunstfertigkeit gelegen war: er bestimmte die ihm notwendigen Ruhepunkte, den Wechsel des bewegteren oder gemäßigteren Gesangsausdruckes, die Stellen, an denen er frei von allem rhythmischen und melodischen Zwange seine Geschicklichkeit nach vollstem Belieben allein zu Gehör bringen konnte. Der Komponist legte nur dem Sänger, der Dichter wieder dem Komponisten das Material zu dessen Virtuosität zurecht.

Das natürliche Verhältnis zwischen den künstlerischen Faktoren des Dramas war hierbei im Grunde noch nicht aufgehoben, es war nur entstellt, indem der Darsteller, die notwendigste Bedingung für die Möglichkeit des Dramas, nur der Vertreter einer einzigen besonderen Geschicklichkeit (der absoluten Gesangsfertigkeit), nicht aber aller gemeinsamen Fähigkeiten des künstlerischen Menschen war. Diese eine Entstellung des Charakters des Darstellers war es auch nur, welche die eigentliche Verdrehung im natürlichen Verhältnisse jener Faktoren hervorrief, nämlich die absolute Voranstellung des Musikers vor dem Dichter. Wäre jener Sänger ein wirklicher, ganzer und voller dramatischer Darsteller gewesen, so hätte der Komponist notwendig in seine richtige Stellung zum Dichter kommen müssen, indem dieser es war, welcher bestimmt und für alles übrige maßgebend die dramatische Absicht ausgesprochen und ihre Verwirklichung angeordnet hätte. Der jenem Sänger zunächst stehende Dichter war aber der Komponist – der Komponist, der eben nur dem Sänger half, seine Absicht zu erreichen, diese Absicht, die, von aller dramatischen, ja nur dichterischen Beziehung überhaupt losgelöst, durchaus nichts anderes war, als seine spezifische Gesangskunstfertigkeit glänzen zu lassen.

Dieses ursprüngliche Verhältnis der künstlerischen Faktoren der Oper zueinander haben wir uns fest einzuprägen, um im Verfolge genau zu erkennen, wie dieses entstellte Verhältnis durch alle Bemühungen, es zu berichtigen, nur immer noch mehr verwirrt werden konnte. –

Der dramatischen Kantate wurde, durch das luxuriöse Verlangen der vornehmen Herren nach Abwechselung im Vergnügen, das Ballett hinzugefügt. Der Tanz und die Tanzweise, ganz so willkürlich dem Volkstanze und der Volkstanzweise entnommen und nachgebildet, wie die Opernarie es dem Volksliede war, trat mit der spröden Unvermischungsfähigkeit alles Unnatürlichen zu der Wirksamkeit des Sängers hinzu, und dem Dichter entstand, bei solcher Häufung des innerlich gänzlich Zusammenhangslosen, natürlich die Aufgabe, die Kundgebungen der vor ihm ausgelegten Kunstfertigkeiten zu einem irgendwie gefügten Zusammenhange zu verbinden. Ein immer mehr als notwendig sich herausstellender dramatischer Zusammenhang verband nun unter des Dichters Hülfe das, was an sich eigentlich nach gar keinem Zusammenhange verlangte, so daß die Absicht des Dramas – von äußerlicher Not gedrungen – nur angegeben, keineswegs aber aufgenommen wurde. Gesangs- und Tanzweise standen in vollster, kältester Einsamkeit nebeneinander zur Schaustellung der Geschicklichkeit des Sängers oder des Tänzers, nur in dem, was sie zur Not verbinden sollte, in dem musikalisch rezitierten Dialoge, übte der Dichter seine untergeordnete Wirksamkeit aus, machte das Drama sich irgendwie bemerklich.

Auch das Rezitativ ist keineswegs aus einem wirklichen Drange zum Drama in der Oper, etwa als eine neue Erfindung hervorgegangen: lange bevor man diese redende Gesangsweise in die Oper einführte, hat sich die christliche Kirche zur gottesdienstlichen Rezitation biblischer Stellen ihrer bedient. Der in diesen Rezitationen nach ritualischer Vorschrift bald stehend gewordene, banale, nur noch scheinbar, nicht aber wirklich mehr sprechende, mehr gleichgültig melodische als ausdrucksvoll redende Tonfall ging zunächst, mit wiederum nur musikalischer Willkür gemodelt und variiert, in die Oper über, so daß mit Arie, Tanzweise und Rezitativ der ganze Apparat des musikalischen Dramas – und zwar bis auf die neueste Oper dem Wesen nach unverändert – festgestellt war. Die dramatischen Pläne, die diesem Apparate untergelegt wurden, gewannen ebenfalls bald stereotypen Bestand; meistens der gänzlich mißverstandenen griechischen Mythologie und Heroenwelt entnommen, bildeten sie ein theatralisches Gerüst, dem alle Fähigkeit, Wärme und Teilnahme zu erwecken, vollständig abging, das dagegen die Eigenschaft besaß, sich zur Benutzung von jedem Komponisten nach Belieben herzugeben, wie denn auch die meisten dieser Texte von den verschiedensten Musikern wiederholt komponiert worden sind. –

Die so berühmt gewordene Revolution Glucks, die vielen Unkenntnisvollen als eine gänzliche Verdrehung der bis dahin üblichen Ansicht von dem Wesen der Oper zu Gehör gekommen ist, bestand nun in Wahrheit nur darin, daß der musikalische Komponist sich gegen die Willkür des Sängers empörte. Der Komponist, der nächst dem Sänger die Beachtung des Publikums besonders auf sich gezogen hatte, da er es war, der diesem immer neuen Stoff für seine Geschicklichkeit herbeischaffte, fühlte sich ganz in dem Grade von der Wirksamkeit dieses Sängers beeinträchtigt, als es ihm daran gelegen war, jenen Stoff nach eigener erfinderischer Phantasie zu gestalten, so daß auch sein Werk, und vielleicht endlich nur sein Werk dem Zuhörer sich vorstelle. Es standen dem Komponisten zur Erreichung seines ehrgeizigen Zieles zwei Wege offen: entweder den rein sinnlichen Inhalt der Arie, mit Benutzung aller zu Gebote stehenden und noch zu erfindenden musikalischen Hülfsmittel, bis zur höchsten, üppigsten Fülle zu entfalten oder – und dies ist der ernstere Weg, den wir für jetzt zu verfolgen haben – die Willkür im Vortrage dieser Arie dadurch zu beschränken, daß der Komponist der vorzutragenden Weise einen dem unterliegenden Worttexte entsprechenden Ausdruck zu geben suchte. Wenn diese Texte ihrer Natur nach als gefühlvolle Reden handelnder Personen gelten mußten, so war es von jeher gefühlvollen Sängern und Komponisten ganz von selbst auch schon beigekommen, ihre Virtuosität mit dem Gepräge der nötigen Wärme auszustatten, und Gluck war gewiß nicht der erste, der gefühlvolle Arien schrieb, noch seine Sänger die ersten, die solche mit Ausdruck vortrugen. Daß er aber die schickliche Notwendigkeit eines der Textunterlage entsprechenden Ausdruckes in Arie und Rezitativ mit Bewußtsein und grundsätzlich aussprach, das macht ihn zu dem Ausgangspunkt für eine allerdings vollständige Veränderung in der bisherigen Stellung der künstlerischen Faktoren der Oper zueinander. Von jetzt an geht die Herrschaft in der Anordnung der Oper mit Bestimmtheit auf den Komponisten über: der Sänger wird zum Organ der Absicht des Komponisten, und diese Absicht ist mit Bewußtsein dahin ausgesprochen, daß dem dramatischen Inhalte der Textunterlage durch einen wahren Ausdruck desselben entsprochen werden solle. Der unschicklichen und gefühllosen Gefallsucht des virtuosen Sängers war also im Grunde einzig entgegengetreten worden, im übrigen aber blieb es in bezug auf den ganzen unnatürlichen Organismus der Oper durchaus beim alten. Arie, Rezitativ und Tanzstück stehen, für sich gänzlich abgeschlossen, eben so unvermittelt nebeneinander in der Gluckschen Oper da, als es vor ihr und bis heute fast immer noch der Fall ist.

In der Stellung des Dichters zum Komponisten war nicht das mindeste geändert; eher war die Stellung des Komponisten gegen ihn noch diktatorischer geworden, da er, bei ausgesprochenem Bewußtsein von seiner – dem virtuosen Sänger gegenüber – höheren Aufgabe, mit vorbedachterem Eifer die Anordnungen im Gefüge der Oper traf. Dem Dichter fiel es gar nicht ein, in diese Anordnungen sich irgendwie einzumischen; er konnte die Musik, der nun einmal die Oper ihre Entstehung verdankte, gar nicht anders fassen als in jenen engen, ganz bestimmten Formen, die er – als selbst den Musiker wiederum gänzlich bindend – vorfand. Es wäre ihm undenklich erschienen, durch Anforderungen der dramatischen Notwendigkeit an sie, auf diese Formen in dem Grade zu wirken, daß sie ihrem Wesen nach aufgehört hätten, Schranken für die freie Entwickelung der dramatischen Wahrheit zu sein, da er eben nur in diesen – dem Musiker selbst unantastbaren – Formen das Wesen der Musik begriff. Er mußte daher, gab er sich nun einmal zur Dichtung eines Operntextes her, peinlicher als der Musiker selbst auf die Beobachtung jener Formen bedacht sein und höchstens diesem Musiker es überlassen, auf dem ihm heimischen Felde Erweiterungen und Entwickelungen auszuführen, zu denen er sich nur behilflich erzeigen, nie aber anfordernd sich stellen konnte. Somit wurde vom Dichter selbst, der dem Komponisten mit einer gewissen heiligen Scheu zusah, diesem die Diktatur in der Oper eher noch vollständiger zugeführt als bestritten, als er wahrnahm, welch' ernsten Eifer der Musiker an seine Aufgabe setzte.

Erst Glucks Nachfolger waren aber darauf bedacht, aus dieser ihrer Stellung für wirkliche Erweiterung der vorgefundenen Formen Vorteil zu ziehen. Diese Nachfolger, unter denen wir die Komponisten italienischer und französischer Herkunft zu begreifen haben, welche dicht am Ende des vorigen und im ersten Anfange dieses Jahrhunderts für die Pariser Operntheater schrieben, gaben ihren Gesangstücken, bei immer vollendeterer Wärme und Wahrheit des unmittelbaren Ausdruckes, zugleich eine immer ausgedehntere formelle Grundlage. Die herkömmlichen Einschnitte der Arie, im wesentlichen zwar immer noch beibehalten, wurden mannigfaltiger motiviert, Übergänge und Verbindungsglieder selbst in das Bereich des Ausdruckes gezogen; das Rezitativ schloß sich unwillkürlicher und inniger an die Arie an und trat als notwendiger Ausdruck selbst in die Arie hinein. Eine namentliche Erweiterung erhielt die Arie aber dadurch, daß an ihrem Vortrage – je nach dem dramatischen Bedürfnisse – auch mehr als eine Person teilnahm und so das wesentlich Monologische der früheren Oper sich vorteilhaft verlor. Stücke wie Duette und Terzette waren zwar auch schon früher längst bekannt; daß in einem Stücke zwei oder drei sangen, hatte im wesentlichen aber nicht das mindeste im Charakter der Arie geändert: diese blieb in der melodischen Anlage und in Behauptung des einmal angeschlagenen thematischen Tones – der eben nicht auf individuellen Ausdruck, sondern auf eine allgemeine, spezifisch-musikalische Stimmung sich bezog – vollkommen sich gleich, und nichts Wirkliches änderte sich in ihr, gleichviel ob sie als Monolog oder als Duett vorgetragen wurde, als höchstens ganz Materielles, nämlich daß die musikalischen Phrasen abwechselnd von verschiedenen Stimmen, oder gemeinschaftlich, durch bloß harmonische Vermittelung als zwei- oder dreistimmig usw., gesungen wurden. Dies spezifisch Musikalische eben so weit zu deuten, daß es des lebhaft wechselnden individuellen Ausdruckes fähig wurde, dies war die Aufgabe und das Werk jener Komponisten, wie es sich in ihrer Behandlung des sogenannten dramatisch-musikalischen Ensembles darstellt. Die wesentliche musikalische Essenz dieses Ensembles blieben in Wahrheit immer nur Arie, Rezitativ und Tanzweise: nur mußte, wenn einmal in Arie und Rezitativ ein der Textunterlage entsprechender Gesangsausdruck als schickliches Erfordernis erkannt worden war, folgerichtig die Wahrheit dieses Ausdruckes auch auf alles das ausgedehnt werden, was in dieser Textunterlage sich von dramatischem Zusammenhang vorfand. Dem redlichen Bemühen, dieser notwendigen Konsequenz zu entsprechen, entsprang die Erweiterung der älteren musikalischen Formen in der Oper, wie wir sie in den ernsten Opern Cherubinis, Mehuls und Spontinis antreffen: wir können sagen, in diesen Werken ist das erfüllt, was Gluck wollte oder wollen konnte, ja, es ist in ihnen ein für allemal das erreicht, was auf der ursprünglichen Grundlage der Oper sich Natürliches, d. h. im besten Sinne Folgerichtiges, entwickeln konnte.

Der jüngste jener drei Meister, Spontini, war auch so vollkommen überzeugt, das höchste Erreichbare im Genre der Oper wirklich erreicht zu haben; er hatte einen so festen Glauben an die Unmöglichkeit, seine Leistungen irgendwie überboten zu sehen, daß er in allen seinen späteren Kunstproduktionen, die er den Werken aus seiner großen Pariser Epoche folgen ließ, nie auch nur den mindesten Versuch machte, in Form und Bedeutung über den Standpunkt, den er in diesen Werken einnahm, hinauszugehen. Er sträubte sich hartnäckig, die spätere sogenannte romantische Entwickelung der Oper für irgend etwas anderes als einen offenbaren Verfall der Oper anzuerkennen, so daß er denjenigen, denen er sich seitdem hierüber mitteilte, den Eindruck eines bis zum Wahnsinn für sich und seine Werke Eingenommenen machen mußte, während er eigentlich doch nur eine Überzeugung aussprach, der in Wahrheit eine kerngesunde Ansicht vom Wesen der Oper sehr wohl zugrunde lag. Spontini konnte, beim Überblick des Gebarens der modernen Oper, mit vollstem Rechte fragen: »Habt ihr die wesentliche Form der musikalischen Opernbestandteile irgendwie weiter entwickelt, als ihr sie bei mir vorfindet? Oder habt ihr etwa gar irgend etwas Verständliches oder Gesundes zustande bringen können mit wirklicher Übergehung dieser Form? Ist nicht alles Ungenießbare in euren Arbeiten nur ein Resultat eures Heraustretens aus dieser Form, und habt ihr alles Genießbare nicht nur innerhalb dieser Formen hervorbringen können? Wo besteht diese Form nun großartiger, breiter und umfangreicher als in meinen drei großen Pariser Opern? Wer aber will mir sagen, daß er diese Form mit glühenderem, gefühlvollerem und energischerem Inhalte erfüllt habe als ich?« –

Es dürfte schwer sein, Spontini auf diese Fragen eine Antwort zu geben, die ihn verwirren müßte; jedenfalls noch schwerer, ihm zu beweisen, daß er wahnsinnig sei, wenn er uns für wahnsinnig hält. Aus Spontini spricht die ehrliche, überzeugte Stimme des absoluten Musikers, der da zu erkennen gibt: »Wenn der Musiker für sich, als Anordner der Oper, das Drama zustande bringen will, so kann er, ohne sein gänzliches Unvermögen hierzu darzulegen, nicht einen Schritt weiter gehen, als ich gegangen bin.« Hierin liegt aber unwillkürlich des weiteren die Aufforderung ausgesprochen: »Wollt ihr mehr, so müßt ihr euch nicht an den Musiker, sondern – an den Dichter wenden.« –

 

Wie verhielt sich nun zu Spontini und dessen Genossen dieser Dichter? Bei allem Heranwachsen der musikalischen Opernform, bei aller Entwickelung der in ihr enthaltenen Ausdrucksfähigkeit, veränderte die Stellung des Dichters sich doch nicht im mindesten. Er blieb immer der Bereiter von Unterlagen für die ganz selbständigen Experimente des Komponisten. Fühlte dieser, durch gewonnene Erfolge, sein Vermögen zu freierer Bewegung innerhalb seiner Formen wachsen, so gab er dadurch dem Dichter nur auf, ihn mit weniger Befangenheit und Ängstlichkeit bei Zuführung des Stoffes zu bedienen; er rief ihm gleichsam zu: »Sieh, was ich vermag! Geniere dich nun nicht; vertraue meiner Tätigkeit, auch deine gewagtesten dramatischen Kombinationen mit Haut und Haar in Musik aufzulösen!« – So ward der Dichter vom Musiker nur mit fortgerissen; er durfte sich schämen, seinem Herren hölzerne Steckenpferde vorzuführen, wo dieser imstande war, ein wirkliches Roß zu besteigen, da er wußte, daß der Reiter die Zügel tüchtig zu handhaben verstand – diese musikalischen Zügel, die das Roß in der wohlgeebneten Opernreitbahn schulgerecht hin- und herlenken sollten, und ohne die weder Musiker noch Dichter es zu besteigen sich getrauten, aus Furcht, es setze hoch über die Einhegung hinweg und liefe in seine wilde, herrliche Naturheimat fort.

So gelangte der Dichter neben dem Komponisten allerdings zu steigender Bedeutung, aber doch nur genau in dem Grade, als der Musiker vor ihm her aufwärtsstieg und er diesem nur folgte; die streng musikalischen Möglichkeiten allein, die der Komponist ihm wies, hatte der Dichter einzig als maßgebend für alle Anordnung und Gestaltung, ja selbst Stoffauswahl im Auge; er blieb somit, bei allem Ruhm, den auch er zu ernten begann, immer gerade nur der geschickte Mann, der es vermochte, den »dramatischen« Komponisten so entsprechend und nützlich zu bedienen. Sobald der Komponist selbst keine andere Ansicht von der Stellung des Dichters zu ihm gewann, als er sie der Natur der Oper nach vorfand, konnte er sich selbst auch nur für den eigentlichen verantwortlichen Faktor der Oper ansehen, und so mit Recht und Fug auf dem Standpunkte Spontinis, als dem zweckmäßigsten, stehenbleiben, da er sich die Genugtuung geben durfte, auf ihm alles das zu leisten, was irgend dem Musiker möglich war, wenn er der Oper, als musikalischem Drama, einen Anspruch als gültige Kunstform gewahrt wissen wollte.

Daß im Drama selbst aber Möglichkeiten lagen, die in jener Kunstform – wenn sie nicht zerfallen sollte – gar nicht auch nur berührt werden durften, dies stellt sich uns jetzt wohl deutlich heraus, mußte dem Komponisten und Dichter jener Periode aber vollständig entgehen. Von allen dramatischen Möglichkeiten konnten ihnen nur diejenigen aufstoßen, die in jener ganz bestimmten und ihrem Wesen nach durchaus beschränkten Opernmusikform zu verwirklichen waren. Die breite Ausdehnung, das lange Verweilen bei einem Motiv, dessen der Musiker bedurfte, um in seiner Form sich verständlich auszusprechen – die ganze rein musikalische Zutat, die ihm als Vorbereitung nötig war, um gleichsam seine Glocke in Schwung zu setzen, daß sie ertöne und namentlich so ertöne, daß sie einem bestimmten Charakter ausdrucksvoll entspreche –, machten es von je dem Dichter zur Aufgabe, nur mit einer ganz bestimmten Gattung von dramatischen Entwürfen sich zu befassen, die in sich Raum hatten für die gedehnte, geschraubte Gemächlichkeit, die dem Musiker für sein Experimentieren unerläßlich war. Das bloß Rhetorische, phrasenhaft Stereotype in seinem Ausdrucke war für den Dichter eine Pflicht, denn auf diesem Boden allein konnte der Musiker Raum zu der ihm nötigen, in Wahrheit aber gänzlich undramatischen, Ausbreitung erhalten. Seine Helden kurz, bestimmt und voll gedrängten Inhaltes sprechen zu lassen, hätte dem Dichter nur den Vorwurf der Unpraktikabilität seines Gedichtes für den Komponisten zuziehen müssen. Fühlte der Dichter sich also notgedrungen, seinen Helden diese banalen, nichtssagenden Phrasen in den Mund zu legen, so konnte er auch mit dem besten Willen von der Welt es nicht ermöglichen, den so redenden Personen wirklichen Charakter und dem Zusammenhange ihrer Handlungen das Siegel voller dramatischer Wahrheit aufzudrücken. Sein Drama war immer mehr nur ein Vorgeben des Dramas; alle Konsequenzen der wirklichen Absicht des Dramas zu ziehen, durfte ihm gar nicht beikommen. Er übersetzte daher, strenggenommen, eigentlich auch nur das Drama in die Opernsprache, so daß er meistens sogar nur längst bekannte und auf der Bühne des gesprochenen Schauspieles bis zum Überdruß bereits dargestellte Dramen für die Oper bearbeitete, wie dies in Paris namentlich mit den Tragödien des Théatre français der Fall war. Die Absicht des Dramas, die hiernach innerlich hohl und nichtig war, ging offenkundig somit immer nur in die Intentionen des Komponisten über; von diesem erwartete man das, was der Dichter von vornherein aufgab. Ihm – dem Komponisten – mußte daher auch allein nur zufallen, dieser inneren Hohlheit und Nichtigkeit des ganzen Werkes, sobald er sie wahrnahm, abzuhelfen; er mußte sich also die unnatürliche Aufgabe zugeteilt sehen, von seinem Standpunkte aus, vom Standpunkte desjenigen, der die vollkommen dargelegte dramatische Absicht nur vermöge des ihm zu Gebote stehenden Ausdruckes zu verwirklichen helfen soll, diese Absicht selbst zu fassen und in das Leben zu rufen. Genaugenommen hatte der Musiker demnach bedacht zu sein, das Drama wirklich zu dichten, seine Musik nicht nur zum Ausdrucke, sondern zum Inhalte selbst zu machen, und dieser Inhalt sollte, der Natur der Sache gemäß, kein anderer als das Drama selbst sein.

Von hieran beginnt auf das erkennbarste die wunderliche Verwirrung der Begriffe vom Wesen der Musik durch das Prädikat »dramatisch«. Die Musik, die als eine Kunst des Ausdruckes, bei höchster Fülle in diesem Ausdrucke nur wahr sein kann, hat hierin naturgemäß sich immer nur auf das zu beziehen, was sie ausdrücken soll: in der Oper ist dies ganz entschieden die Empfindung des Redenden und Darstellenden, und eine Musik, die dies mit überzeugendster Wirkung tut, ist gerade das, was sie irgend sein kann. Eine Musik, die aber mehr sein, sich nicht auf einen auszudrückenden Gegenstand beziehen, sondern ihn selbst erfüllen, d. h. dieser Gegenstand zugleich sein will, ist im Grunde gar keine Musik mehr, sondern ein von Musik und Dichtkunst phantastisch abstrahiertes Unding, das sich in Wahrheit nur als Karikatur verwirklichen kann. Bei allen verkehrten Bestrebungen ist die Musik, die irgend wirkungsvolle Musik, wirklich auch nichts anderes geblieben als Ausdruck: jenen Bestrebungen, sie zum Inhalte – und zwar zum Inhalte des Dramas – selbst zu machen, entsprang aber das, was wir als den folgerichtigen Verfall der Oper, und somit als die offenkundige Darlegung der gänzlichen Unnatur dieses Kunstgenres zu erkennen haben.

War die Grundlage und der eigentliche Inhalt der Spontinischen Oper hohl und nichtig und die auf ihnen sich kundgebende musikalische Form borniert und pedantisch, so war sie in dieser Beschränktheit doch ein aufrichtiges, in sich klares Bekenntnis von dem, was in diesem Genre zu ermöglichen sei, ohne die Unnatur in ihm zum Wahnsinn zu treiben. Die moderne Oper ist dagegen die offene Kundgebung dieses wirklich eingetretenen Wahnsinnes. Um ihr Wesen näher zu ergründen, wenden wir uns jetzt jener andern Richtung der Entwickelung der Oper zu, die wir oben als die frivole bezeichneten, und durch deren Vermengung mit der soeben besprochenen ernsten eben jener unbeschreiblich konfuse Wechselbalg zutage gefördert worden ist, den wir, nicht selten selbst von anscheinend vernünftigen Leuten, »moderne dramatische Oper« nennen hören.


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