Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

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Oper und Drama

Dritter Teil

Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft

[ I ]

Der Dichter hat bisher nach zwei Seiten hin versucht, das Organ des Verstandes, die absolute Wortsprache, zu dem Gefühlsausdrucke zu stimmen, in welchem es ihm zur Mitteilung an das Gefühl behilflich sein sollte: durch das Versmaß – nach der Seite der Rhythmik, durch den Endreim – nach der Seite der Melodik hin. –

Im Versmaße bezogen sich die Dichter des Mittelalters mit Bestimmtheit noch auf die Melodie, sowohl was die Zahl der Silben als namentlich die Betonung betraf. Nachdem die Abhängigkeit des Verses von einer stereotypen Melodie, mit der er nur noch durch ein rein äußerliches Band zusammenhing, zu knechtischer Pedanterie ausgeartet war – wie in den Schulen der Meistersinger –, wurde in neueren Zeiten aus der Prosa heraus ein von irgendwelchen wirklicher Melodie gänzlich unabhängiges Versmaß dadurch zustande gebracht, daß man den rhythmischen Versbau der Lateiner und Griechen – so wie wir ihn jetzt in der Literatur vor Augen haben – zum Muster nahm. Die Versuche zur Nachahmung und Aneignung dieses Musters knüpften sich zunächst an das Verwandteste an und steigerten sich nur so allmählich, daß wir des hier zugrundeliegenden Irrtumes erst dann vollständig gewahr werden konnten, als wir auf der einen Seite zu immer innigerem Verständnis der antiken Rhythmik, auf der anderen Seite, durch unsere Versuche sie nachzuahmen, zu der Einsicht der Unmöglichkeit und Fruchtlosigkeit dieser Nachahmung gelangen mußten. Wir wissen jetzt, daß das, was die unendliche Mannigfaltigkeit der griechischen Metrik erzeugte, die unzertrennliche lebendige Zusammenwirkung der Tanzgebärde mit der Ton-Wortsprache war und alle hieraus hervorgegangenen Versformen nur durch eine Sprache sich bedangen, welche unter dieser Zusammenwirkung sich gerade so gebildet hatte, daß wir aus unserer Sprache heraus, deren Bildungsmotiv ein ganz anderes war, sie in ihrer rhythmischen Eigentümlichkeit fast gar nicht begreifen können.

Das Besondere der griechischen Bildung ist, daß sie der rein leiblichen Erscheinung des Menschen eine so bevorzugende Aufmerksamkeit zuwandte, daß wir diese als die Basis aller griechischen Kunst anzusehen haben. Das lyrische und das dramatische Kunstwerk war die durch die Sprache ermöglichte Vergeistigung der Bewegung dieser leiblichen Erscheinung, und die monumentale bildende Kunst endlich ihre unverhohlene Vergötterung. Zur Ausbildung der Tonkunst fühlten sich die Griechen nur so weit gedrungen, als sie zur Unterstützung der Gebärde zu dienen hatte, deren Inhalt die Sprache an sich schon melodisch ausdrückte. In der Begleitung der Tanzbewegung durch die tönende Wortsprache gewann diese ein so festes prosodisches Maß, d. h. ein so bestimmt abgewogenes, rein sinnliches Gewicht für die Schwere und Leichtheit der Silben, nach dem sich ihr Verhältnis zueinander in der Zeitdauer ordnete, daß gegen diese reinsinnliche Bestimmung (die nicht willkürlich war, sondern auch für die Sprache von der natürlichen Eigenschaft der tönenden Laute in den Wurzelsilben, oder der Stellung dieser Laute zu verstärkten Mitlautern sich herleitete) der unwillkürliche Sprachakzent, durch welchen auch Silben hervorgehoben werden, denen das sinnliche Gewicht keine Schwere zuteilt, sogar zurückzustehen hatte – eine Zurückstellung im Rhythmos, die jedoch die Melodie durch Hebung des Sprachakzentes wieder ausglich. Ohne diese versöhnende Melodie sind nun aber die Metren des griechischen Versbaues auf uns gekommen (wie die Architektur ohne ihren einstigen farbigen Schmuck), und den unendlich mannigfaltigen Wechsel dieser Metren selbst können wir uns wiederum noch weniger aus dem Wechsel der Tanzbewegung erklären, weil wir diese eben nicht mehr vor Augen, wie jene Melodie nicht mehr vor Ohren haben. – Ein unter solchen Umständen von der griechischen Metrik abstrahiertes Versmaß mußte daher alle denkbaren Widersprüche in sich vereinigen. Zu seiner Nachahmung erforderte es vor allem einer Bestimmung unserer Sprachsilben zu Längen und Kürzen, die ihrer natürlichen Beschaffenheit durchaus zuwider war. In einer Sprache, die sich bereits zu vollster Prosa aufgelöst hat, gebietet Hebungen und Senkungen des Sprachtones nur noch der Akzent, den wir zum Zweck der Verständlichung auf Worte oder Silben legen. Dieser Akzent ist aber durchaus nicht ein für ein- und allemal gültiger, wie das Gewicht der griechischen Prosodie ein für alle Fälle gültiges war; sondern er wechselt ganz in dem Maße, als dieses Wort oder diese Silbe in der Phrase, zum Zwecke der Verständlichung, von stärkerer oder schwächerer Bedeutung ist. Ein griechisches Metron in unserer Sprache nachbilden können wir nur, wenn wir einerseits den Akzent willkürlich zum prosodischen Gewichte umstempeln oder andererseits den Akzent einem eingebildeten prosodischen Gewichte aufopfern. Bei den bisherigen Versuchen ist abwechselnd beides geschehen, so daß die Verwirrung, den solche rhythmisch sein sollende Verse auf das Gefühl hervorbrachten, nur durch willkürliche Anordnung des Verstandes geschlichtet werden konnte, der sich das griechische Schema zur Verständlichung über den Wortvers setzte und durch dieses Schema sich ungefähr das sagte, was jener Maler dem Beschauer seines Bildes sagte, unter das er die Worte geschrieben hatte »dies ist eine Kuh«.

Wie unfähig unsere Sprache zu jeder rhythmisch genau bestimmten Kundgebung im Verse ist, zeigt sich am ersichtlichsten in dem einfachsten Versmaße, in das sie sich zu kleiden gewöhnt hat, um – so bescheiden wie möglich – sich doch in irgendwelchem rhythmischen Gewande zu zeigen. Wir meinen den sogenannten Jamben, auf welchem sie als fünffüßiges Ungeheuer unseren Augen und – leider auch – unserem Gehöre am häufigsten sich vorzuführen pflegt. Die Unschönheit dieses Metrons, sobald es – wie in unsern Schauspielen – ununterbrochen vorgeführt wird, ist an und für sich beleidigend für das Gefühl; wird nun aber – wie es gar nicht anders möglich ist – seinem eintönigen Rhythmos zuliebe dem lebendigen Sprachakzente noch der empfindlichste Zwang angetan, so wird das Anhören solcher Verse zur vollständigen Marter; denn, durch den verstümmelten Sprachakzent vom richtigen und schnellen Verständnisse des Auszudrückenden abgelenkt, wird dann der Hörer mit Gewalt angehalten, sein Gefühl einzig dem schmerzlich ermüdenden Ritte auf dem hinkenden Jamben hinzugeben, dessen klappernder Trott ihm endlich Sinn und Verstand rauben muß. – Eine verständige Schauspielerin ward von den Jamben, als sie von unseren Dichtern auf der Bühne eingeführt wurden, so beängstigt, daß sie für ihre Rollen diese Verse sich in Prosa ausschreiben ließ, um durch ihren Anblick nicht verführt zu werden, den natürlichen Sprachakzent gegen ein dem Verständnisse schädliches Skandieren des Verses aufzugeben. Bei diesem gesunden Verfahren entdeckte die Künstlerin gewiß sogleich, daß der vermeintliche Jambe eine Illusion des Dichters war, die sofort verschwand, wenn der Vers in Prosa ausgeschrieben und diese Prosa mit verständlichem Ausdrucke vorgetragen wurde; sie fand gewiß, daß jede Verszeile, wenn sie von ihr nach unwillkürlichem Gefühle ausgesprochen und nur mit Rücksicht auf überzeugend verständliche Kundgebung des Sinnes betont wurde, nur eine oder höchstens zwei Silben enthielt, auf denen ein bevorzugendes Weilen mit verschärfter Betonung zugleich notwendig war –, daß die übrigen Silben zu dieser einen oder zwei akzentuierten sich nur im gleichmäßigen, durch Zwischenverweilungen ununterbrochenen, Heben und Senken, Steigen und Fallen sich verhielten – prosodische Längen und Kürzen unter ihnen nur dadurch aber zum Vorschein kommen konnten, wenn den Wurzelsilben ein unserer modernen Sprachgewohnheit gänzlich fremder, das Verständnis einer Phrase durchaus störender – ja vernichtender, Akzent aufgedrückt würde –, ein Akzent nämlich, der sich zugunsten des Verses als ein rhythmisches Verweilen kundgeben müßte.

Ich gebe zu, daß gute Versmacher von schlechten sich eben dadurch unterschieden, daß sie die Längen des Jamben nur auf Wurzelsilben verlegten und die Kürzen dagegen auf Ein- oder Ausgangssilben: werden die so bestimmten Längen aber, wie es doch in der Absicht des Jambos liegt, mit rhythmischer Genauigkeit vorgetragen – ungefähr im Werte von ganzen Taktnoten zu halben Taktnoten –, so stellt sich gerade hieran ein Verstoß gegen unseren Sprachgebrauch heraus, der einen unserem Gefühle entsprechenden, wahren und verständlichen Ausdruck vollständig verhindert. Wäre unserem Gefühle eine prosodisch gesteigerte Quantität der Wurzelsilben gegenwärtig, so müßte es dem Musiker ganz unmöglich gewesen sein, jene jambischen Verse nach jedem beliebigen Rhythmos aussprechen zu lassen, namentlich aber auch die unterscheidende Quantität ihnen der Art zu benehmen, daß er zu gleich langen und kurzen Noten die im Vers als lang und kurz gedachten Silben zum Vortrag bringt. Nur an den Akzent war aber der Musiker gebunden, und erst in der Musik gewinnt dieser Akzent von Silben, die in der gewöhnlichen Sprache – als eine Kette rhythmisch ganz gleicher Momente – zum Hauptakzente sich wie ein steigender Auftakt verhalten, eine Bedeutung, weil er hier dem rhythmischen Gewichte der guten und schlechten Taktteile zu entsprechen und durch Steigen oder Sinken des Tones eine bezeichnende Unterscheidung zu gewinnen hat. – Gemeinhin sah sich im Jamben der Dichter aber auch genötigt, von der Bestimmung der Wurzelsilbe zur prosodischen Länge abzusehen und aus einer Reihe gleichakzentuierter Silben nach Belieben oder zufälliger Fügung diese oder jene auszuwählen, der er die Ehre einer prosodischen Länge zuteilte, während er dicht dabei durch eine für das Verständnis notwendige Wortstellung veranlaßt wurde, eine Wurzelsilbe zur prosodischen Kürze herabzusetzen. – Das Geheimnis dieses Jamben ist auf unsern Schauspieltheatern offen geworden. Verständige Schauspieler, denen daran lag, sich dem Verstande des Zuhörers mitzuteilen, haben ihn als nackte Prosa gesprochen; unverständige, die vor dem Takte des Verses dessen Inhalt nicht zu fassen vermochten, haben ihn als sinn- und tonlose, gleich unverständliche wie unmelodische, Melodie deklamiert.

 

Da, wo eine auf prosodische Längen und Kürzen zu begründende Rhythmik im Sprachverse nie versucht wurde, wie bei den romanischen Völkern, und wo die Verszeile daher nur nach der Zahl der Silben bestimmt ward, hat sich der Endreim als unerläßliche Bedingung für den Vers überhaupt festgesetzt.

In ihm charakterisiert sich das Wesen der christlichen Melodie, als deren sprachlicher Überrest er anzusehen ist. Seine Bedeutung vergegenwärtigen wir uns sogleich, wenn wir den kirchlichen Choralgesang uns vorführen. Die Melodie dieses Gesanges bleibt rhythmisch gänzlich unentschieden; sie bewegt sich Schritt für Schritt in vollkommen gleichen Taktlängen vor sich, um nur am Ende des Atems und zum neuen Atemholen zu verweilen. Die Einteilung in gute und schlechte Taktteile ist eine Unterlegung späterer Zeit; die ursprüngliche Kirchenmelodie wußte von solcher Einteilung nichts: für sie galten Wurzel und Bindesilben ganz gleich; die Sprache hatte für sie keine Berechtigung, sondern nur die Fähigkeit, sich in einen Gefühlsausdruck aufzulösen, dessen Inhalt Furcht vor dem Herren und Sehnsucht nach dem Tode war. Nur wo der Atem ausging, am Schlusse des Melodieabschnittes, nahm die Wortsprache Anteil an der Melodie durch den Reim der Endsilbe, und dieser Reim galt so bestimmt nur dem letzten ausgehaltenen Tone der Melodie, daß bei sogenannten weiblichen Wortendungen gerade nur die kurze Nachschlagsilbe sich zu reimen brauchte und der Reim einer solchen Silbe einem vorangehenden oder folgenden männlichen Endreime gültig entsprach: ein deutlicher Beweis für die Abwesenheit aller Rhythmik in dieser Melodie und in diesem Verse.

Der von dieser Melodie durch den weltlichen Dichter endlich losgetrennte Wortvers wäre ohne Endreim als Vers völlig unkenntlich gewesen. Die Zahl der Silben, auf denen ohne alle Unterscheidung gleichmäßig verweilt und nach denen einzig die Verszeile bestimmt wurde, konnte, da der Atemabschnitt des Gesanges sie nicht so merklich wie in der gesungenen Melodie unterschied, die Verszeilen nicht voneinander als kenntlich absondern, wenn nicht der Endreim den hörbaren Moment dieser Absonderung so bezeichnete, daß er den fehlenden Moment der Melodie, den Wechsel des Gesangatems, ersetzte. Der Endreim erhielt somit, da auf ihm zugleich als auf dem scheidenden Versabsatze verweilt wurde, eine so wichtige Bedeutung für den Sprachvers, daß alle Silben der Verszeile nur wie ein vorbereitender Angriff auf die Schlußsilbe, wie ein verlängerter Auftakt des Niederschlages im Reime, zu gelten hatten.

Diese Bewegung auf die Schlußsilbe hin entsprach ganz dem Charakter der Sprache der romanischen Völker, die, nach der mannigfaltigsten Mischung fremder und abgelebter Sprachbestandteile, sich in einer Weise herausgebildet hatte, daß in ihr das Verständnis der ursprünglichen Wurzeln dem Gefühle vollständig verwehrt blieb. Am deutlichsten erkennen wir dies an der französischen Sprache, in welcher der Sprachakzent zum vollkommenen Gegensatze der Betonung der Wurzelsilben, wie sie dem Gefühle bei irgend noch vorhandenem Zusammenhange mit der Sprachwurzel natürlich sein müßte, geworden ist. Der Franzose betont nie anders als die Schlußsilbe eines Wortes, liege bei zusammengesetzten oder verlängerten Worten die Wurzel auch noch so weit vorn und sei die Schlußsilbe auch nur eine unwesentliche Anhangssilbe. In der Phrase aber drängt er alle Worte zu einem gleichtönenden, wachsend beschleunigten Angriffe des Schlußwortes, oder besser – der Schlußsilbe, zusammen, worauf er mit einem stark erhobenen Akzente verweilt, selbst wenn dieses Schlußwort – wie gewöhnlich – durchaus nicht das wichtigste der Phrase ist – denn, ganz diesem Sprachakzente zuwider, konstruiert der Franzose die Phrase durchgehende so, daß er ihre bedingenden Momente nach vorn zusammendrängt, während z. B. der Deutsche diese an den Schluß der Phrase verlegt. Diesen Widerstreit zwischen dem Inhalte der Phrase und ihrem Ausdrucke durch den Sprachakzent können wir uns leicht aus dem Einflusse des endgereimten Verses auf die gewöhnliche Sprache erklären. Sobald sich diese in besonderer Erregtheit zum Ausdrucke anläßt, äußert sie sich unwillkürlich nach dem Charakter jenes Verses, dem Überbleibsel der älteren Melodie, wie dagegen der Deutsche im gleichen Falle in Stabreimen spricht – z. B. »Zittern und Zagen«, »Schimpf und Schande«. –

Das Bezeichnendste des Endreimes ist somit aber, daß er, ohne beziehungsvollen Zusammenhang mit der Phrase, als eine Nothülfe zur Herstellung des Verses erscheint, zu deren Gebrauch der gewöhnliche Sprachausdruck sich gedrängt fühlt, wenn er sich in erhöhter Erregtheit kundgeben will. Der endgereimte Vers ist dem gewöhnlichen Sprachausdrucke gegenüber der Versuch, einen erhöhten Gegenstand auf eine Weise mitzuteilen, daß er auf das Gefühl einen entsprechenden Eindruck hervorbringe, und zwar dadurch, daß der Sprachausdruck sich auf eine andere, von dem Alltagsausdruck sich unterscheidende Art mitteile. – Dieser Alltagsausdruck war aber das Mitteilungsorgan des Verstandes an den Verstand; durch einen von diesem unterschiedenen, erhöhten Ausdruck wollte der Mitteilende dem Verstande gewissermaßen ausweichen, d. h. eben an das vom Verstande Unterschiedene, an das Gefühl, sich wenden. Dies suchte er dadurch zu erreichen, daß er das sinnliche Organ des Sprachempfängnisses, welches die Mitteilung des Verstandes in ganz gleichgültiger Unbewußtheit aufnahm, zum Bewußtsein seiner Tätigkeit erweckt, indem er in ihm ein reinsinnliches Gefallen an dem Ausdrucke selbst hervorzubringen sucht. Der im Endreim sich abschließende Wortvers vermag nun wohl das sinnliche Gehörorgan soweit zur Aufmerksamkeit zu bestimmen, daß es sich durch Lauschen auf die Wiederkehr des gereimten Wortabschnittes gefesselt fühlen mag: hierdurch wird es aber eben erst nur zur Aufmerksamkeit gestimmt, d. h., es gerät in eine gespannte Erwartung, die dem Vermögen des Gehörorganes genügend erfüllt werden muß, wenn es sich zu so reger Teilnahme anlassen und endlich so vollständig befriedigt werden soll, daß es das entzückende Empfängnis dem ganzen Empfindungsvermögen des Menschen mitteilen kann. Nur wenn das ganze Gefühlsvermögen des Menschen zur Teilnahme an einem, ihm durch einen empfangenden Sinn mitgeteilten, Gegenstande vollständig erregt ist, gewinnt dieses die Kraft, sich aus voller Zusammengedrängtheit nach innen wiederum in der Weise auszudehnen, daß es dem Verstande eine unendlich bereicherte und gewürzte Nahrung zuführt. Da es bei jeder Mitteilung doch nur auf Verständnis abgesehen ist, so geht auch die dichterische Absicht endlich nur auf eine Mitteilung an den Verstand hinaus: um aber zu diesem ganz sichern Verständnisse zu gelangen, setzt sie ihn da, wohin sie sich mitteilt, nicht von vornherein voraus, sondern sie will ihn an ihrem Verständnisse sich gewissermaßen erst erzeugen lassen, und das Gebärungsorgan dieser Zeugung ist, sozusagen, das Gefühlsvermögen des Menschen. Dieses Gefühlsvermögen ist aber zu dieser Gebärung nicht eher willig, als bis es durch ein Empfängnis in die allerhöchste Erregung versetzt ist, in welcher es die Kraft des Gebärens gewinnt. Diese Kraft kommt ihm aber erst durch die Not, und die Not durch die Überfülle, zu der das Empfangene in ihm angewachsen ist: erst das, was einen gebärenden Organismus übermächtig erfüllt, nötigt ihn zum Akte des Gebärens, und der Akt des Gebärens des Verständnisses der dichterischen Absicht ist die Mitteilung dieser Absicht von seiten des empfangenden Gefühles an den inneren Verstand, den wir als die Beendigung der Not des gebärenden Gefühles ansehen müssen.

Der Wortdichter nun, der seine Absicht dem nächstempfangenden Gehörorgane nicht in der Fülle mitteilen kann, daß dieses durch die Mitteilung in jene höchste Erregtheit versetzt werde, in welcher es das Empfangene wiederum dem ganzen Empfindungsvermögen mitzuteilen gedrängt wäre – kann entweder dieses Organ, will er es andauernd fesseln, nur erniedrigen und abstumpfen, indem er es seines unendlichen Empfängnisvermögens gewissermaßen vergessen macht – oder er entsagt seiner unendlich vermögenden Mittätigkeit vollständig, er läßt die Fesseln seiner sinnlichen Teilnahme fahren und benutzt es wieder nur als sklavisch unselbständigen Zwischenträger der unmittelbaren Mitteilung des Gedankens an den Gedanken, des Verstandes an den Verstand, d. h. aber soviel als: der Dichter gibt seine Absicht auf, er hört auf zu dichten, er regt in dem empfangenden Verstande nur das bereits ihm Bekannte, früher schon durch sinnliche Wahrnehmung ihm Zugeführte, Alte, zu neuer Kombination an, teilt ihm aber selbst keinen neuen Gegenstand mit. – Durch bloße Steigerung der Wortsprache zum Reimverse kann der Dichter nichts anderes erreichen, als das empfangende Gehör zu einer teilnahmlosen, kindisch oberflächlichen Aufmerksamkeit zu nötigen, die für ihren Gegenstand, eben den ausdruckslosen Wortreim, sich nicht nach innen zu erstrecken vermag. Der Dichter, dessen Absicht nun nicht bloß die Erregung einer so unteilnehmenden Aufmerksamkeit war, muß endlich von der Mitwirkung des Gefühles ganz absehen und seine fruchtlose Erregung ganz wieder zu zerstreuen suchen, um sich ungestört wieder nur dem Verstande mitteilen zu können.

Wie jene höchste, gebärungskräftige Gefühlserregung einzig zu ermöglichen ist, werden wir nun näher erkennen lernen, wenn wir zuvor noch geprüft haben, in welcher Beziehung unsere moderne Musik zu diesem rhythmischen oder endgereimten Verse der heutigen Dichtkunst steht, und welchen Einfluß dieser Vers auf sie zu äußern vermochte.

Getrennt von dem Wortverse, der sich von ihr losgelöst hatte, war die Melodie einen besondern Entwickelungsgang gegangen. Wir haben diesen früher bereits genauer verfolgt und erkannt, daß die Melodie als Oberfläche einer unendlich ausgebildeten Harmonie und auf den Schwingen einer mannigfaltigsten, dem leiblichen Tanze entnommenen und zu üppigster Fülle entfalteten Rhythmik als selbständige Kunsterscheinung zu den Ansprüchen erwuchs, von sich aus die Dichtkunst zu bestimmen und das Drama anzuordnen. Der wiederum selbständig für sich ausgebildete Wortvers konnte, in seiner Gebrechlichkeit und Unfähigkeit für den Gefühlsausdruck, auf diese Melodie überall da, wo er in Berührung mit ihr geriet, keine gestaltende Kraft ausüben; im Gegenteil mußte bei seiner Berührung mit der Melodie seine ganze Unwahrheit und Nichtigkeit offenbar werden. Der rhythmische Vers ward von der Melodie in seine in Wahrheit ganz unrhythmischen Bestandteile aufgelöst und nach dem absoluten Ermessen der rhythmischen Melodie ganz neu gefügt: der Endreim ging aber in ihren mächtig an das Gehör antönenden Wogen klang- und spurlos unter. Die Melodie, wenn sie sich genau an den Wortvers hielt und sein für die sinnliche Wahrnehmung konstruiertes Gerüst durch ihren Schmuck erst recht kenntlich machen wollte, deckte von diesem Verse gerade das auf, was der verständige Deklamator, dem es um das Verständnis des Inhaltes zu tun war, an ihm eben verbergen zu müssen glaubte, nämlich seine ärmliche, den richtigen Sprachausdruck entstellende, seinen sinnvollen Inhalt verwirrende, äußere Fassung – eine Fassung, die, solange sie eine nur eingebildete, den Sinnen nicht merklich aufgedrungene blieb, am mindesten zu stören vermochte, die aber dem Inhalte alle Möglichkeit des Verständnisses abschnitt, sobald sie dem Gehörsinne mit bestimmender Prägnanz sich kundtat und diesen dadurch veranlaßte, sich zwischen die Mitteilung und die innere Empfängnis als schroffe Schranke aufzustellen. Ordnete sich die Melodie so dem Wortverse unter, begnügte sie sich, seinen Rhythmen und Reimen eben nur die Fülle des gesungenen Tones beizugeben, so bewirkte sie jedoch nicht nur die Darstellung der Lüge und Unschönheit der sinnlichen Fassung des Verses zugleich mit der Unverständlichung seines Inhaltes, sondern sie selbst beraubte sich aller Fähigkeit, sich in sinnlicher Schönheit darzustellen und den Inhalt des Wortverses zu einem ergreifenden Gefühlsmomente zu erheben.

Die Melodie, die sich ihrer auf dem eigenen Felde der Musik erworbenen Fähigkeit für unendlichen Gefühlsausdruck bewußt blieb, beachtete daher die sinnliche Fassung des Wortverses, der sie für ihre Gestaltung aus eigenem Vermögen empfindlich beeinträchtigen mußte, durchaus gar nicht, sondern setzte ihre Aufgabe darein, ganz für sich, als selbständige Gesangsmelodie, in einem Ausdrucke sich kundzugeben, der den Gefühlsinhalt des Wortverses nach seiner weitesten Allgemeinheit aussprach, und zwar in einer besonderen, reinmusikalischen Fassung, zu der sich der Wortvers nur wie die erklärende Unterschrift zu einem Gemälde verhielt. Das Band des Zusammenhanges zwischen Melodie und Vers blieb da, wo die Melodie nicht auch den Inhalt des Verses von sich wies und die Vokale und Konsonanten seiner Wortsilben nicht zu einem bloßen sinnlichen Stoffe zum Zerkäuen im Munde des Sängers verwendete, der Sprachakzent. – Glucks Bemühen ging, wie ich früher bereits erwähnte, nur auf die Rechtfertigung des – bis zu ihm in bezug auf den Vers meist willkürlichen – melodischen Akzentes durch den Sprachakzent. Hielt sich nun der Musiker, dem es nur um melodisch verstärkte, aber an sich treue Wiedergebung des natürlichen Sprachausdruckes zu tun war, an den Akzent der Rede, als an das einzige, was ein natürliches und Verständnis gebendes Band zwischen der Rede und der Melodie knüpfen konnte, so hatte er hiermit den Vers vollständig aufzuheben, weil er aus ihm den Akzent als das einzig zu Betonende herausheben und alle übrigen Betonungen, seien es nun die eines eingebildeten prosodischen Gewichtes oder die des Endreimes, fallen lassen mußte. Er überging den Vers somit aus demselben Grunde, der den verständigen Schauspieler bestimmte, den Vers als natürlich akzentuierte Prosa zu sprechen: hiermit löste der Musiker aber nicht nur den Vers, sondern auch seine Melodie in Prosa auf, denn nichts anderes als eine musikalische Prosa blieb von der Melodie übrig, die nur den rhetorischen Akzent eines zur Prosa aufgelösten Verses durch den Ausdruck des Tones verstärkte. – In der Tat hat sich der ganze Streit in der verschiedenen Auffassung der Melodie nur darum gedreht, ob und wie die Melodie durch den Wortvers zu bestimmen sei. Die im voraus fertige, ihrem Wesen nach aus dem Tanze gewonnene Melodie, unter welcher unser modernes Gehör das Wesen der Melodie überhaupt einzig zu begreifen vermag, will sich nun und nimmermehr dem Sprachakzente des Wortverses fügen. Dieser Akzent zeigt sich bald in diesem, bald in jenem Gliede des Wortverses, und nie kehrt er an der gleichen Stelle der Verszeile wieder, weil unsere Dichter ihrer Phantasie mit dem Gaukelbilde eines prosodisch rhythmischen oder durch den Endreim melodisch gestimmten Verses schmeichelten und über diesem Phantasiebilde den wirklichen lebendigen Sprachakzent, als einzig rhythmisch maßgebendes Moment auch für den Vers, vergaßen. Ja, diese Dichter waren im unprosodischen Verse nicht einmal darauf bedacht, den Sprachakzent mit Bestimmtheit auf das einzig kenntliche Merkmal dieses Verses, den Endreim, zu legen; sondern jedes unbedeutende Nebenwort, ja – jede gänzlich unzubetonende Endsilbe, ward von ihnen um so häufiger in den Endreim gestellt, als die Eigenschaft des Reimes ihnen gewöhnlicher ist. – Eine Melodie prägt sich aber nur dadurch dem Gehöre faßlich ein, daß sie eine Wiederkehr bestimmter melodischer Momente in einem bestimmten Rhythmos enthält; kehren solche Momente entweder gar nicht wieder, oder machen sie sich dadurch unkenntlich, daß sie auf Taktteilen, die sich rhythmisch nicht entsprechen, wiederkehren, so fehlt der Melodie eben das bindende Band, welches sie erst zur Melodie macht – wie der Wortvers ebenfalls erst durch ein ganz ähnliches Band zum wirklichen Verse wird. Die so gebundene Melodie will nun auf den Wortvers, der dieses bindende Band aber nur in der Einbildung, nicht in der Wirklichkeit besitzt, nicht passen: der dem Sinne des Verses nach einzig hervorzuhebende Sprachakzent entspricht den notwendigen melismischen und rhythmischen Akzenten der Melodie in ihrer Wiederkehr nicht, und der Musiker, der die Melodie nicht aufopfern, sondern sie vor allem geben will – weil er nur in ihr dem Gefühle verständlich sich mitteilen kann –, sieht sich daher genötigt, den Sprachakzent nur da zu beachten, wo er sich zufällig der Melodie anschließt. Dies heißt aber soviel, als allen Zusammenhang der Melodie mit dem Verse aufgeben; denn, sieht sich der Musiker einmal gedrängt, den Sprachakzent außer acht zu lassen, so kann er sich noch viel weniger gegen die eingebildete prosodische Rhythmik des Verses verpflichtet fühlen, und er verfährt mit diesem Verse – als ursprünglich veranlassendem Sprachmomente – endlich allein nur nach absolut melodischem Belieben, das er solange für vollkommen gerechtfertigt erachten kann, als es ihm daran gelegen bleibt, in der Melodie den allgemeinen Gefühlsinhalt des Verses so wirksam wie möglich auszusprechen.

Wäre je einem Dichter das wirkliche Verlangen angekommen, den ihm zu Gebote stehenden Sprachausdruck zur überzeugenden Fülle der Melodie zu steigern, so müßte er zunächst sich bemüht haben, den Sprachakzent als einzig maßgebendes Moment für den Vers so zu verwenden, daß er in seiner entsprechenden Wiederkehr einen gesunden, dem Verse selbst wie der Melodie notwendigen Rhythmos genau bestimmt hätte. Nirgends sehen wir davon aber eine Spur, oder wenn wir diese Spur erkennen, ist es da, wo der Versmacher von vornherein auf eine dichterische Absicht Verzicht leistet, nicht dichten, sondern als untertäniger Diener und Worthandlanger des absoluten Musikers abgezählte und zu verreimende Silben zusammenstellen will, mit denen der Musiker in tiefster Verachtung für die Worte dann macht, was er Lust hat.

Wie bezeichnend ist es dagegen, daß gewisse schöne Verse Goethes, d. h. Verse, in denen der Dichter sich bemühte, soweit es ihm möglich war, zu einem gewissen melodischen Schwunge zu gelangen – von den Musikern gemeinhin als zu schön, zu vollendet für die musikalische Komposition bezeichnet werden? Das Wahre an der Sache ist, daß eine vollkommen dem Sinne entsprechende musikalische Komposition auch dieser Verse sie in Prosa auflösen und aus dieser Prosa sie als selbständige Melodie erst wiedergebären müßte, weil unserem musikalischen Gefühle es sich unwillkürlich darstellt, daß jene Versmelodie ebenfalls nur eine gedachte, ihre Erscheinung ein Schmeichelbild der Phantasie, somit eine ganz andere als die musikalische Melodie ist, die in ganz bestimmter sinnlicher Wirklichkeit sich kundzugeben hat. Halten wir daher jene Verse für zu schön zur Komposition, so sagen wir damit nur, daß es uns leid tut, sie als Verse vernichten zu sollen, was wir mit weniger Herzbeklemmung uns erlauben, sobald uns eine weniger respektable Bemühung des Dichters gegenübersteht – somit gestehen wir aber ein, daß wir ein richtiges Verhältnis zwischen Vers und Melodie uns gar nicht vorstellen können. –

Der Melodiker der neuesten Zeit, der all die fruchtlosen Versuche zu einer entsprechenden, gegenseitig sich erlösenden und schöpferisch bestimmenden Verbindung des Wortverses mit der Tonmelodie überschaute, und namentlich auch den übeln Einfluß gewahrte, den eine treue Wiedergebung des Sprachakzentes auf die Melodie bis zu ihrer Entstellung zur musikalischen Prosa ausübte – sah sich, sobald er auf der andern Seite wieder die Entstellung oder gänzliche Verleugnung des Verses durch die frivole Melodie von sich wies, veranlaßt, Melodien zu komponieren, in welchen er aller verdrießlichen Berührung mit dem Verse, den er an sich respektierte, der ihm für die Melodie aber lästig war, gänzlich auswich. Er nannte dies »Lieder ohne Worte« und sehr richtig mußten Lieder ohne Worte auch der Ausgang von Streitigkeiten sein, in denen zu einem Entscheid nur dadurch zu kommen war, daß man sie ungelöst auf sich beruhen ließ. – Dieses jetzt so beliebte »Lied ohne Worte« ist die getreue Übersetzung unserer ganzen Musik in das Klavier zum bequemen Handgebrauche für unsere Kunst-Commis-Voyageurs; in ihm sagt der Musiker dem Dichter: »Mach, was du Lust hast, ich mache auch, was ich Lust habe! Wir vertragen uns am besten, wenn wir nichts miteinander zu schaffen haben.« –

Sehen wir nun, wie wir diesem »Musiker ohne Worte« durch die drängende Kraft der höchsten dichterischen Absicht auf eine Weise beikommen, daß wir ihn vom sanften Klaviersessel herunterheben und in eine Welt höchsten künstlerischen Vermögens versetzen, die ihm die zeugende Macht des Wortes erschließen soll – des Wortes, dessen er sich so weibisch bequem entledigte – des Wortes, das Beethoven aus den ungeheuren Mutterwehen der Musik heraus gebären ließ!


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