Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

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[ IV ]

Für die Kunst, um die es bei dieser Untersuchung uns einzig zu tun war, liegt in der Vernichtung des Staates nun folgendes, über alles wichtige Moment.

Die Darstellung des Kampfes, in welchem sich das Individuum vom politischen Staate oder vom religiösen Dogma zu befreien suchte, mußte um so notwendiger die Aufgabe des Dichters werden, als das politische Leben, von dem entfernt der Dichter endlich nur noch ein geträumtes Leben führen konnte, von den Wechselfällen dieses Kampfes selbst, als von seinem wirklichen Inhalte, mit immer vollerem Bewußtsein erfüllt war. Lassen wir den religiösen Staatsdichter beiseite, der auch als Künstler den Menschen mit grausamem Behagen seinem Götzen opferte, so haben wir nur den Dichter vor uns, der, von wahrhaftem schmerzlichem Mitgefühle für die Leiden des Individuums erfüllt, als solches selbst und durch die Darstellung seines Kampfes, sich gegen den Staat, gegen die Politik wendete. Die Individualität, welche der Dichter in den Kampf gegen den Staat führte, war aber der Natur der Sache nach keine rein menschliche, sondern eine durch den Staat selbst bedingte. Sie war von gleicher Gattung wie der Staat und nur der innerhalb des Staates liegende Gegensatz von dessen äußerster Spitze. Bewußte Individualität, d. h. eine Individualität, die uns bestimmt, in diesem einen Falle so und nicht anders zu handeln, gewinnen wir nur in der Gesellschaft, welche uns erst den Fall vorführt, in dem wir uns zu entscheiden haben. Das Individuum ohne Gesellschaft ist uns als Individualität vollkommen undenkbar; denn erst im Verkehr mit anderen Individuen zeigt sich das, worin wir unterschieden von ihnen und an uns besonders sind. War nun die Gesellschaft zum politischen Staate geworden, so bedang dieser die Besonderheit der Individualität aus seinem Wesen ebenso, und als Staat – im Gegensatze zur freien Gesellschaft – natürlich nur bei weitem strenger und kategorischer als die Gesellschaft. Eine Individualität kann niemand schildern ohne ihre Umgebung, die sie als solche bedingt: war die Umgebung eine natürliche, der Entwickelung der Individualität Luft und Raum gebende, frei nach innerer Unwillkür an der Berührung mit dieser Individualität soeben sich elastisch neu gestaltende, so konnte diese Umgebung in den einfachsten Zügen treffend und wahr bezeichnet werden; denn nur durch die Darstellung der Individualität hatte die Umgebung selbst erst zu charakteristischer Eigentümlichkeit zu gelangen. Der Staat ist aber keine solche elastisch biegsame Umgebung, sondern eine dogmatisch starre, fesselnde, gebieterische Macht, die dem Individuum vorausbestimmt – so sollst du denken und handeln! Der Staat hat sich zum Erzieher der Individualität aufgeworfen; er bemächtigt sich ihrer im Mutterleibe durch Vorausbestimmung eines ungleichen Anteiles an den Mitteln zu sozialer Selbständigkeit; er nimmt ihr durch Aufnötigung seiner Moral ihre Unwillkürlichkeit der Anschauung, und weist ihr, als seinem Eigentume, die Stellung an, die sie zu der Umgebung einnehmen soll. Seine Individualität verdankt der Staatsbürger dem Staate; sie heißt aber nichts anderes als seine vorausbestimmte Stellung zu ihm, in welcher seine reinmenschliche Individualität für sein Handeln vernichtet und nur höchstens auf das beschränkt ist, was er ganz still vor sich hin denkt.

Den gefährlichen Winkel des menschlichen Hirnes, in welchen sich die ganze Individualität geflüchtet hatte, suchte der Staat mit Hülfe des religiösen Dogmas wohl ebenfalls auszufegen; hier mußte er aber machtlos bleiben, indem er sich nur Heuchler erziehen konnte, d. h. Staatsbürger, die anders handeln, als sie denken. Aus dem Denken erzeugte sich aber zuerst auch die Kraft des Widerstandes gegen den Staat. Die erste reinmenschliche Freiheitsregung bekundete sich in der Abwehr des religiösen Dogmas, und Denkfreiheit ward notgedrungen endlich vom Staate gestattet. Wie äußert sich aber nun diese bloß denkende Individualität im Handeln? – Solange der Staat vorhanden ist, wird sie nur als Staatsbürger, d. h. als Individualität, deren Handlungsweise nicht die ihrer Denkungsweise entsprechende ist, handeln können. Der Staatsbürger ist nicht vermögend, einen Schritt zu tun, der ihm nicht im voraus als Pflicht oder als Verbrechen vorgezeichnet ist: der Charakter seiner Pflicht und seines Verbrechens ist nicht der seiner Individualität eigene; er mag beginnen, was er will, um aus seinem noch so freien Denken zu handeln, er kann nicht aus dem Staate herausschreiten, dem auch sein Verbrechen angehört. Er kann nur durch den Tod aufhören, Staatsbürger zu sein, also da, wo er auch aufhört, Mensch zu sein.

Der Dichter, der nun den Kampf der Individualität gegen den Staat darzustellen hatte, konnte daher nur den Staat darstellen, die freie Individualität aber bloß dem Gedanken andeuten. Der Staat war das Wirkliche, fest und farbig Vorhandene, die Individualität dagegen das Gedachte, gestalt- und farblos Unvorhandene. Alle die Züge, Umrisse und Farben, die der Individualität ihre feste, bestimmte und erkennbare künstlerische Gestalt verleihen, hatte der Dichter der politisch gesonderten und staatlich zusammengepreßten Gesellschaft zu entnehmen, nicht aber der Individualität selbst, die in der Berührung mit anderen Individualitäten sich selbst zeichnet und färbt. Die somit nur gedachte, nicht dargestellte Individualität konnte daher auch nur an den Gedanken, nicht an das unmittelbar erfassende Gefühl dargestellt werden. Unser Drama war daher ein Appell an den Verstand, nicht an das Gefühl. Es nahm somit die Stelle des Lehrgedichtes ein, welches einen dem Leben entnommenen Stoff nur so weit darstellt, als es der Absicht entspricht, einen Gedanken dem Verstande zur Mitteilung zu bringen. Zur Mitteilung eines Gedankens an den Verstand hat der Dichter aber ebenso umständlich zu verfahren, als er gerade höchst einfach und schlicht zu Werke gehen muß, wenn er sich an das unmittelbar empfangende Gefühl wendet. Das Gefühl erfaßt nur das Wirkliche, sinnlich Betätigte und Wahrnehmbare: an das Gefühl teilt sich nur das Vollendete, Abgeschlossene, das, was so eben ganz das ist, was es jetzt sein kann, mit. Nur das mit sich Einige ist ihm verständlich; das mit sich Uneinige, noch nicht wirklich und bestimmt sich Kundgebende, verwirrt das Gefühl und nötigt es zum Denken, also zu einem kombinierenden Akte, der das Gefühl aufhebt.

Der Dichter, der sich an das Gefühl wendet, muß, um sich ihm überzeugend kundzugeben, im Denken bereits so einig mit sich sein, daß er aller Hülfe des logischen Mechanismus sich begeben und mit vollem Bewußtsein sich an das untrügliche Empfängnis des unbewußten, reinmenschlichen Gefühles mitteilen kann. Er hat bei dieser Mitteilung daher so schlicht und (vor der sinnlichen Wahrnehmung) unbedingt zu verfahren, wie dem Gefühle gegenüber die wirkliche Erscheinung – wie Luft, Wärme, Blume, Tier, Mensch – sich kundgibt. Um das höchste Mitteilbare und zugleich überzeugend Verständlichste – die rein menschliche Individualität – durch seine Darstellung mitzuteilen, hat aber der moderne dramatische Dichter, wie ich zeigte, gerade entgegengesetzt zu verfahren. Aus der ungeheuren Masse ihrer wirklichen Umgebung, im ersichtlich Maß, Form und Farbe gebenden Staate und der zum Staate erstarrten Geschichte, hat er diese Individualität erst unendlich mühsam herauszukonstruieren, um sie endlich, wie wir sahen, immer nur dem Gedanken darzustellen.Goethe suchte im Egmont diese, im Verlaufe des ganzen Stückes aus der historisch-staatlich bedingenden Umgebung mit mühsamer Umständlichkeit losgelöste, in der Kerkereinsamkeit und unmittelbar vor dem Tode sich einigende reinmenschliche Individualität dem Gefühle darzustellen und mußte deshalb zum Wunder und zur Musik greifen. Wie bezeichnend ist es, daß gerade der idealisierende Schiller diesen ungemein bedeutungsvollen Zug von Goethes höchster künstlerischer Wahrhaftigkeit nicht verstehen konnte! Wie irrtümlich war es aber auch von Beethoven, daß er nicht erst zu dieser Wundererscheinung, sondern von vornherein, mitten in die politisch-prosaische Exposition – zur Unzeit – Musik setzte! Das, was unser Gefühl von vornherein unwillkürlich erfaßt, ist einzig die Form und Farbe des Staates. Von unseren ersten Jugendeindrücken an sehen wir den Menschen nur in der Gestalt und dem Charakter, die ihm der Staat gibt; die durch den Staat ihm anerzogene Individualität gilt unserem unwillkürlichen Gefühle als sein wirkliches Wesen; wir können ihn nicht anders fassen als nach den unterscheidenden Qualitäten, die in Wahrheit nicht seine eigenen, sondern die durch den Staat ihm verliehenen sind. Das Volk kann heutzutage den Menschen nicht anders fassen als in der Standesuniform, in der es ihn sinnlich und leibhaftig von Jugend auf vor sich sieht, und dem Volke teilt sich der »Volksschauspieldichter« auch nur verständlich mit, wenn er es nicht einen Augenblick aus dieser staatsbürgerlichen Illusion reißt, die sein unbewußtes Gefühl dermaßen befangen hält, daß es in die höchste Verwirrung gesetzt werden müßte, wenn man ihm unter dieser sinnlichen Erscheinung den wirklichen Menschen hervorkonstruieren wollte.Es müßte dem Volke gehen wie den beiden Kindern, die vor einem Gemälde standen, das Adam und Eva darstellte, und die nicht unterscheiden konnten, wer der Mann und wer die Frau sei, weil sie unbekleidet waren. Wie bestimmend für alle unsere Anschauung ist es wiederum, daß unser Auge gemeiniglich durch den Anblick einer unverhüllten menschlichen Gestalt in die peinlichste Verlegenheit gesetzt wird und wir sie sogar gewöhnlich garstig finden: unser eigener Leib wird uns erst durch Nachdenken verständlich! Um die reinmenschliche Individualität darzustellen, hat der moderne Dichter sich daher nicht an das Gefühl, sondern an den Verstand zu wenden, wie sie für ihn selbst ja auch nur eine gedachte ist. Hierzu muß sein Verfahren ein ungeheuer umständliches sein: er muß alles das, was das moderne Gefühl als das Begreiflichste faßt, sozusagen vor den Augen dieses Gefühles langsam und höchst vorsichtig seiner Hülle, seiner Form und Farbe entkleiden, um während dieser Entkleidung, nach systematischer Berechnung, das Gefühl nach und nach zum Denken zu bringen, da die von ihm gewollte Individualität endlich nur eine gedachte sein kann. So muß der Dichter aus dem Gefühle sich an den Verstand wenden: das Gefühl ist für ihn das Hinderliche; erst wenn er es mit höchster Behutsamkeit überwunden hat, kommt er zu seinem eigentlichen Vorhaben, der Darlegung eines Gedankens an den Verstand. –

Der Verstand ist somit von vornherein die menschliche Fähigkeit, an die der moderne Dichter sich mitteilen will, und zu ihm kann er einzig durch das Organ des kombinierenden, zersetzenden, teilenden und trennenden Verstandes die von dem Gefühle abstrahierte, die Eindrücke und Empfängnisse des Gefühles nur noch schildernde, vermittelnde und bedingte Wortsprache reden. Wäre unser Staat selbst ein würdiger Gegenstand des Gefühles, so würde der Dichter, um sein Vorhaben zu erreichen, im Drama gewissermaßen von der Musik zur Wortsprache überzugehen haben: in der griechischen Tragödie war es fast ähnlich der Fall, aber aus umgekehrten Gründen. Ihre Grundlage war die Lyrik, aus der sie so zur Wortsprache vorschritt, wie die Gesellschaft aus dem natürlichen, sittlich religiösen Gefühlsverbande zum politischen Staate vorschritt. Die Rückkehr aus dem Verstande zum Gefühle wird insoweit der Gang des Dramas der Zukunft sein, als wir aus der gedachten Individualität zur wirklichen vorschreiten werden. Der moderne Dichter hat aber auch vom Beginn herein eine Umgebung, den Staat, darzustellen, die jedes reinmenschlichen Gefühlsmomentes bar und im höchsten Gefühlsausdruck unmittelbar ist. Sein ganzes Vorhaben kann er daher nur durch das Mitteilungsorgan des kombinierenden Verstandes, durch die ungefühlvolle moderne Sprache erreichen; und mit Recht dünkt es dem heutigen Schauspieldichter ungeeignet, verwirrend und störend, wenn er die Musik für einen Zweck mit verwenden sollte, der irgend verständlich nur als Gedanke an den Verstand, nicht aber an das Gefühl als Affekt auszusprechen ist.

 

Welche Gestaltung des Dramas würde in dem bezeichneten Sinne nun aber den Untergang des Staates, die gesunde organische Gesellschaft hervorrufen?

Der Untergang des Staates kann vernünftigerweise nichts anderes heißen, als das sich verwirklichende religiöse Bewußtsein der Gesellschaft vor ihrem rein menschlichen Wesen. Dieses Bewußtsein kann seiner Natur nach kein von außen eingeprägtes Dogma sein, d. h. nicht auf geschichtlicher Tradition beruhen, und nicht durch den Staat anerzogen werden. So lange irgendeine Lebenshandlung als äußere Pflicht von uns gefordert wird, so lange ist der Gegenstand dieser Handlung kein Gegenstand eines religiösen Bewußtseins; denn aus religiösem Bewußtsein handeln wir aus uns selbst, und zwar so, wie wir nicht anders handeln können. Religiöses Bewußtsein heißt aber allgemeinsames Bewußtsein, und allgemeinsam kann ein Bewußtsein nur sein, wenn es das Unbewußte, Unwillkürliche, Reinmenschliche als das einzig Wahre und Notwendige weiß, und aus seinem Wissen rechtfertigt. So lange das Reinmenschliche uns in irgendwelcher Trübung vorschwebt, wie es im gegenwärtigen Zustande unserer Gesellschaft uns gar nicht anders vorschweben kann, so lange werden wir auch in millionenfach verschiedener Ansicht darüber befangen sein müssen, wie der Mensch sein solle: so lange wir, im Irrtume über sein wahres Wesen, uns Vorstellungen davon bilden, wie dieses Wesen sich kundgeben möchte, werden wir auch nach willkürlichen Formen streben und suchen müssen, in welchen dieses eingebildete Wesen sich kundgeben solle. So lange werden wir aber auch Staaten und Religionen haben, bis wir nur eine Religion und gar keinen Staat mehr haben. Wenn diese Religion aber notwendig eine allgemeinsame sein muß, so kann sie nichts anderes sein als die durch das Bewußtsein gerechtfertigte wirkliche Natur des Menschen, und jeder Mensch muß fähig sein, diese unbewußt zu empfinden und unwillkürlich zu betätigen. Diese gemeinsame menschliche Natur wird am stärksten von dem Individuum als seine eigene und individuelle Natur empfunden, wie sie sich in ihm als Lebens- und Liebestrieb kundgibt: die Befriedigung dieses Triebes ist es, was den einzelnen zur Gesellschaft drängt, in welcher er eben dadurch, daß er ihn nur in der Gesellschaft befriedigen kann, ganz von selbst zu dem Bewußtsein gelangt, das als ein religiöses, d. h. gemeinsames, seine Natur rechtfertigt. In der freien Selbstbestimmung der Individualität liegt daher der Grund der gesellschaftlichen Religion der Zukunft, die nicht eher in das Leben getreten sein wird, als bis diese Individualität durch die Gesellschaft ihre förderndste Rechtfertigung erhält. –

Die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Beziehungen lebendiger Individualitäten zueinander, die unendliche Fülle stets neuer und in ihrem Wechsel immer genau der Eigentümlichkeit dieser lebenvollen Beziehungen entsprechender Formen, sind wir gar nicht imstande auch nur andeutungsweise uns vorzustellen, da wir bis jetzt alle menschlichen Beziehungen nur in der Gestalt geschichtlich überlieferter Berechtigungen und nach ihrer Vorausbestimmung durch die staatlich ständische Norm wahrnehmen können.Die Individualität, die uns der Staat läßt, wird uns heute durch das Signalement eines polizeilichen Reisepasses bescheinigt – wenn wir staatsgetreu, oder durch das eines Steckbriefes – wenn wir staatsungetreu sind. Der Staat übernimmt hiermit durch die Polizei die Mühe des Dichters und Charakteristikers. Den unübersehbaren Reichtum lebendiger individueller Beziehungen vermögen wir aber zu ahnen, wenn wir sie als reinmenschliche, immer voll und ganz gegenwärtige fassen, d. h., wenn wir alles Außermenschliche oder Ungegenwärtige, was als Eigentum und geschichtliches Recht im Staate zwischen jene Beziehungen sich gestellt, das Band der Liebe zwischen ihnen zerrissen, sie entindividualisiert, ständisch uniformiert und staatlich stabilisiert hat, aus ihnen weit entfernt denken.

In höchster Einfachheit können wir uns jene Beziehungen aber wiederum vorstellen, wenn wir die unterscheidendsten Hauptmomente des individuellen menschlichen Lebens, welches aus sich auch das gemeinsame Leben bedingen muß, als charakteristische Unterscheidungen der Gesellschaft selbst zusammenfassen, und zwar als Jugend und Alter, Wachstum und Reife, Eifer und Ruhe, Tätigkeit und Beschaulichkeit, Unwillkür und Bewußtsein.

Das Moment der Gewohnheit, welches wir am naivsten im Festhalten sozial-sittlicher Begriffe, in seiner Verhärtung zur staatspolitischen Moral aber als vollständig der Entwickelung der Individualität feindselig und endlich als entsittlichend und das Reinmenschliche verneinend erkannten, ist als ein unwillkürlich menschliches dennoch wohlbegründet. Untersuchen wir aber näher, so fassen wir in ihm nur ein Moment der Vielseitigkeit der menschlichen Natur, die sich im Individuum nach seinem Lebensalter bestimmt. Ein Mensch ist nicht derselbe in der Jugend wie im Alter: in der Jugend sehnen wir uns nach Taten, im Alter nach Ruhe. Die Störung unserer Ruhe wird uns im Alter ebenso empfindlich als die Hemmung unserer Tätigkeit in der Jugend. Das Verlangen des Alters rechtfertigt sich von selbst aus der allmählichen Aufzehrung des Tätigkeitstriebes, deren Gewinn Erfahrung ist. Die Erfahrung ist an sich aber wohl genuß- und lehrreich für den Erfahrenen selbst; für den belehrten Unerfahrenen kann sie aber dann nur von bestimmendem Erfolge sein, wenn entweder dieser von leicht zu bewältigendem, schwachem Tätigkeitstriebe ist oder die Punkte der Erfahrung ihm als verpflichtende Richtschnur für sein Handeln zwangsweise auferlegt würden – nur durch diesen Zwang ist aber der natürliche Tätigkeitstrieb des Menschen überhaupt zu schwächen; diese Schwächung, die uns beim oberflächlichen Hinblick als eine absolute, in der menschlichen Natur an sich begründete erscheint, und aus der wir somit unsere zur Tätigkeit wiederum anhaltenden Gesetze zu rechtfertigen suchen, ist daher nur eine bedingte. –

Wie die menschliche Gesellschaft ihre ersten sittlichen Begriffe aus der Familie empfangen hat, trug sich in sie auch die Ehrfurcht vor dem Alter über: diese Ehrfurcht war in der Familie aber eine durch die Liebe hervorgerufene, vermittelte, bedingte und motivierte; der Vater liebte vor allem seinen Sohn, riet ihm aus Liebe, ließ ihn aus Liebe aber auch gewähren. In der Gesellschaft verlor sich diese motivierende Liebe aber ganz in dem Grade, als die Ehrfurcht von der Person ab sich auf Vorstellungen und außermenschliche Dinge bezog, die – an sich unwirklich – zu uns nicht in der lebendigen Wechselwirkung standen, in der die Liebe die Ehrfurcht zu erwidern, d. h. die Furcht von ihr zu nehmen, vermag. Der zum Gott gewordene Vater konnte uns nicht mehr lieben; der zum Gesetz gewordene Rat der Eltern konnte uns nicht mehr frei gewähren lassen; die zum Staat gewordene Familie konnte uns nicht mehr nach der Unwillkür der Billigung der Liebe, sondern nach den Satzungen kalter Sittlichkeitsverträge beurteilen. Der Staat dringt uns – nach seiner verständigsten Auffassung – die Erfahrungen der Geschichte als Richtschnur für unser Handeln auf: wahrhaftig handeln wir aber nur, wenn wir aus unwillkürlichem Handeln selbst zur Erfahrung gelangen; eine durch Mitteilung uns gelehrte Erfahrung wird für uns zu einer erfolgreichen erst, wenn wir durch unwillkürliches Handeln sie wiederum selbst machen. Die wahre vernünftige Liebe des Alters zur Jugend bestätigt sich also dadurch, daß es seine Erfahrungen nicht zu dem Maße für das Handeln der Jugend macht, sondern sie selbst auf Erfahrung anweist, und dadurch seine eigenen Erfahrungen bereichert; denn das Charakteristische und Überzeugende einer Erfahrung ist eben das Individuelle an ihr, das Besondere, Kenntliche, was sie dadurch erhält, daß sie aus dem unwillkürlichen Handeln dieses einen, besonderen Individuums in diesem einen und besonderen Falle gewonnen ward.

Der Untergang des Staates heißt daher so viel als der Hinwegfall der Schranke, welche durch die egoistische Eitelkeit der Erfahrung als Vorurteil gegen die Unwillkür des individuellen Handelns sich errichtet hat. Diese Schranke nimmt gegenwärtig die Stellung ein, die naturgemäß der Liebe gebührt, und sie ist nach ihrem Wesen die Lieblosigkeit, d. h. das Eingenommensein der Erfahrung von sich, und der endlich gewaltsam durchgesetzte Wille, nichts Weiteres mehr zu erfahren, die eigensüchtige Borniertheit der Gewöhnung, die grausame Trägheit der Ruhe. – Durch die Liebe weiß aber der Vater, daß er noch nicht genug erfahren hat, sondern daß er an den Erfahrungen seines Kindes, die er in der Liebe zu ihm zu seinen eigenen macht, sich unendlich zu bereichern vermag. In der Fähigkeit des Genusses der Taten anderer, deren Gehalt es durch die Liebe für sich zu einem genießenswürdigen und genußgebenden Gegenstand zu machen weiß, besteht die Schönheit der Ruhe des Alters. Diese Ruhe ist da, wo sie durch die Liebe naturgemäß vorhanden ist, keinesweges eine Hemmung des Tätigkeitstriebes der Jugend, sondern seine Förderung. Sie ist das Raumgeben an die Tätigkeit der Jugend in einem Elemente der Liebe, das an der Beschauung dieser Tätigkeit zu einer höchsten künstlerischen Beteiligung an ihr selbst, zum künstlerischen Lebenselemente überhaupt wird.

Das bereits erfahrene Alter ist vermögend, die Taten der Jugend, in welchen diese nach unwillkürlichem Drange und mit Unbewußtsein sich kundgibt, nach ihrem charakteristischen Gehalte zu fassen und in ihrem Zusammenhange zu überblicken: es vermag diese Taten also vollkommener zu rechtfertigen als die handelnde Jugend selbst, weil es sie sich zu erklären und mit Bewußtsein darzustellen weiß. In der Ruhe des Alters gewinnen wir somit das Moment höchster dichterischer Fähigkeit, und nur der jüngere Mann vermag sich diese schon anzueignen, der jene Ruhe gewinnt, d. h. jene Gerechtigkeit gegen die Erscheinungen des Lebens. –

Die Liebesermahnung des Erfahrenen an den Unerfahrenen, des Ruhigen an den Leidenschaftlichen, des Beschauenden an den Handelnden, gibt sich am überzeugendsten und erfolgereichsten durch getreue Vorführung des eigenen Wesens des unwillkürlich Tätigen an diesen mit. Der in unbewußtem Lebenseifer Befangene wird nicht durch allgemeine sittliche Ermahnung zur urteilfähigen Erkenntnis seines Wesens gebracht, sondern vollständig kann dies nur gelingen, wenn er in einem vorgeführten treuen Bilde sich selbst zu erblicken vermag; denn die richtige Erkenntnis ist Wiedererkennung, wie das richtige Bewußtsein Wissen von unserem Unbewußtsein. Der Ermahnende ist der Verstand, das bewußte Anschauungsvermögen des Erfahrenen: das zu Ermahnende ist das Gefühl, der unbewußte Tätigkeitstrieb des Erfahrenden. Der Verstand kann nichts anderes wissen als die Rechtfertigung des Gefühles, denn er selbst ist nur die Ruhe, welche der zeugenden Erregung des Gefühles folgt: er selbst rechtfertigt sich nur, wenn er aus dem unwillkürlichen Gefühle sich bedingt weiß, und der aus dem Gefühle gerechtfertigte, nicht mehr im Gefühle dieses einzelnen befangene, sondern gegen das Gefühl überhaupt gerechte Verstand ist die Vernunft. Der Verstand ist als Vernunft insofern dem Gefühle überlegen, als er die Tätigkeit des individuellen Gefühles in der Berührung mit seinem ebenfalls aus individuellem Gefühle tätigen Gegenstande und Gegensatze allgerecht zu beurteilen vermag: er ist die höchste soziale, durch die Gesellschaft einzig selbst bedingte Kraft, welche die Spezialität des Gefühles nach seiner Gattung zu erkennen, in ihr wiederzufinden und aus ihr sie wiederum zu rechtfertigen weiß. Er ist somit auch fähig, zur Äußerung durch das Gefühl sich anzulassen, wenn es ihm darum zu tun ist, dem nur Gefühlvollen sich mitzuteilen – und die Liebe leiht ihm dazu die Organe. Er weiß durch das Gefühl der Liebe, welches ihn zur Mitteilung drängt, daß dem leidenschaftlichen, im unwillkürlichen Handeln Begriffenen nur das verständlich ist, was sich an sein Gefühl wendet: wollte er sich an seinen Verstand wenden, so setzte er das bei ihm voraus, was er durch seine Mitteilung sich eben selbst erst gewinnen soll, und müßte unverständlich bleiben. Das Gefühl faßt aber nur das ihm Gleiche, wie der nackte Verstand – als solcher – sich auch nur dem Verstande mitteilen kann. Das Gefühl bleibt bei der Reflexion des Verstandes kalt: nur die Wirklichkeit der ihm verwandten Erscheinung kann es zur Teilnahme fesseln. Diese Erscheinung muß das sympathetisch wirkende Bild des eigenen Wesens des unwillkürlich Handelnden sein, und sympathetische Wirkung bringt es nur hervor, wenn es sich in einer Handlung ihm darstellt, die sich aus demselben Gefühle rechtfertigt, welches er aus dieser Handlung und Rechtfertigung als sein eigenes mitfühlt. Aus diesem Mitgefühle gelangt er ebenso unwillkürlich zum Verständnisse seines eigenen individuellen Wesens, wie er an den Gegenständen und Gegensätzen seines Fühlens und Handelns, an denen im Bilde sein eigenes Fühlen und Handeln sich entwickelte, auch das Wesen dieser Gegensätze erkennen lernte, und zwar dadurch, daß er, durch lebhafte Sympathie für sein eigenes Bild aus sich herausversetzt, zur unwillkürlichen Teilnahme an dem Fühlen und Handeln auch seiner Gegensätze hingerissen, zur Anerkennung und Gerechtigkeit gegen sie, die nicht mehr seiner Befangenheit im wirklichen Handeln gegenüberstehen, bestimmt wird.

 

Nur im vollendetsten Kunstwerke, im Drama, vermag sich daher die Anschauung des Erfahrenen vollkommen erfolgreich mitzuteilen, und zwar gerade deswegen, weil in ihm durch Verwendung aller künstlerischen Ausdrucksfähigkeiten des Menschen die Absicht des Dichters am vollständigsten aus dem Verstande an das Gefühl, nämlich künstlerisch an die unmittelbarsten Empfängnisorgane des Gefühles, die Sinne, mitgeteilt wird. Das Drama unterscheidet sich als vollendetstes Kunstwerk von allen übrigen Dichtungsarten eben dadurch, daß die Absicht in ihm durch ihre vollständigste Verwirklichung zur vollsten Unmerklichkeit aufgehoben wird. wo im Drama die Absicht, d. h. der Wille des Verstandes, noch merklich bleibt, da ist auch der Eindruck ein erkältender; denn wo wir den Dichter noch wollen sehen, fühlen wir, daß er noch nicht kann. Das Können des Dichters ist aber das vollkommene Aufgehen der Absicht in das Kunstwerk, die Gefühlswerdung des Verstandes. Nur dadurch erreicht er seine Absicht, daß er die Erscheinungen des Lebens nach ihrer vollsten Unwillkür vor unseren Augen versinnlicht, also das Leben selbst aus seiner Notwendigkeit rechtfertigt; denn nur diese Notwendigkeit vermag das Gefühl zu verstehen, an das er sich mitteilt.

Vor dem dargestellten dramatischen Kunstwerke darf nichts mehr dem kombinierenden Verstande aufzusuchen übrigbleiben: jede Erscheinung muß in ihm zu dem Abschlusse kommen, der unser Gefühl über sie beruhigt; denn in der Beruhigung des Gefühles, nach seiner höchsten Erregtheit im Mitgefühl, liegt die Ruhe selbst, die uns unwillkürlich das Verständnis des Lebens zuführt. Im Drama müssen wir Wissende werden durch das Gefühl. Der Verstand sagt uns: So ist es, erst wenn uns das Gefühl gesagt hat. So muß es sein. Dies Gefühl wird sich aber nur durch sich selbst verständlich: es versteht keine andere Sprache als seine eigene. Erscheinungen, die uns nur durch den unendlich vermittelnden Verstand erklärt werden können, bleiben dem Gefühle unbegreiflich und störend. Eine Handlung kann daher nur dann im Drama erklärt werden, wenn sie dem Gefühle vollkommen gerechtfertigt wird, und die Aufgabe des dramatischen Dichters ist es somit, nicht Handlungen zu erfinden, sondern eine Handlung aus der Notwendigkeit des Gefühles der Art zu verständlichen, daß wir der Hülfe des Verstandes zu ihrer Rechtfertigung gänzlich entbehren dürfen. Sein Hauptaugenmerk hat der Dichter daher auf die Wahl der Handlung zu richten, die er so wählen muß, daß sie, sowohl ihrem Charakter wie ihrem Umfange nach, ihre vollständige Rechtfertigung aus dem Gefühle ihm ermöglicht; denn in dieser Rechtfertigung beruht einzig die Erreichung seiner Absicht.

Eine Handlung, die nur aus historischen, ihrem Grunde nach ungegenwärtigen Beziehungen erklärt, vom Standpunkte des Staates aus gerechtfertigt oder durch Berücksichtigung religiöser, von außen eingeprägter, nicht gemeinsam innerlicher, Dogmen begriffen werden kann, ist – wie wir sahen – nur dem Verstande, nicht dem Gefühle darzustellen: am genügendsten konnte dies durch Erzählung und Schilderung, durch Appell an die Einbildungskraft des Verstandes, nicht durch unmittelbare Vorführung an das Gefühl und seine bestimmt erfassenden Organe, die Sinne, gelingen, weil eine solche Handlung für diese Sinne recht eigentlich unüberschaubar war und eine Masse von Beziehungen in ihr außerhalb aller Möglichkeit, sie zur sinnlichen Anschauung zu bringen, liegen und nur dem kombinierenden Denkorgane zum Verständnis überlassen bleiben mußten. In einem historisch politischen Drama kam es daher dem Dichter darauf an, seine Absicht – als solche – schließlich ganz nackt zu geben: das ganze Drama blieb unverständlich und eindruckslos, wenn nicht endlich diese Absicht, in Form einer menschlichen Moral, aus einem ungeheuern Wuste, zur bloßen Schilderung verwendeten, pragmatischer Motive, recht ersichtlich zum Vorschein kam. Man frug sich im Verlaufe eines solchen Stückes unwillkürlich: »Was will der Dichter damit sagen?«

Die Handlung nun, die vor dem Gefühle und durch das Gefühl gerechtfertigt werden soll, befaßt sich mit keiner Moral, sondern alle Moral beruht eben nur in der Rechtfertigung dieser Handlung aus dem unwillkürlichen menschlichen Gefühle. Sie ist sich selbst Zweck, insofern sie eben nur aus dem Gefühle, dem sie entwächst, gerechtfertigt werden soll. Diese Handlung kann daher nur eine solche sein, die aus den wahrsten, d. h. dem Gefühle begreiflichsten, den menschlichen Empfindungen naheliegendsten, somit einfachsten Beziehungen hervorgeht – aus Beziehungen, wie sie nur einer, dem Wesen nach mit sich einigen, von unwesenhaften Vorstellungen und ungegenwärtigen Berechtigungsgründen unbeeinflußten, nur sich selbst und keiner Vergangenheit angehörigen, menschlichen Gesellschaft entspringen können.

Keine Handlung des Lebens steht aber vereinzelt da: sie hat einen Zusammenhang mit den Handlungen anderer Menschen, durch die sie, gleichwie aus dem individuellen Gefühle des Handelnden selbst, bedingt wird. Den schwächsten Zusammenhang haben nur kleine, unbedeutende Handlungen, die weniger der Stärke eines notwendigen Gefühles als der Willkür der Laune zur Erklärung bedürfen. Je größer und entscheidender jedoch eine Handlung ist, je mehr sie nur aus der Stärke eines notwendigen Gefühles erklärt werden kann, in einem desto bestimmteren und weiteren Zusammenhange steht sie auch mit den Handlungen anderer. Eine große, das Wesen des Menschen nach einer Richtung hin am ersichtlichsten und erschöpfendsten darstellende Handlung geht nur aus der Reibung mannigfaltiger und starker Gegensätze hervor. Um diese Gegensätze selbst gerecht beurteilen und die in ihnen sich kundgebenden Handlungen aus den individuellen Gefühlen der Handelnden begreifen zu können, muß eine große Handlung aber in einem weiten Kreise von Beziehungen dargestellt werden, denn erst in diesem Kreise ist sie zu verstehen. Die erste und eigentümlichste Aufgabe des Dichters besteht demnach darin, daß er einen solchen Kreis von vornherein in das Auge faßt, seinen Umfang vollkommen ermißt, jede Einzelheit der in ihm liegenden Beziehungen genau nach ihrem Maße und ihrem Verhältnisse zur Haupthandlung erforscht, und nun das Maß seines Verständnisses von ihnen zu dem Maße ihrer Verständlichkeit als künstlerische Erscheinung macht, indem er ihren weiten Kreis nach seinem Mittelpunkte zu zusammendrängt und ihn so zur verständnisgebenden Peripherie des Helden verdichtet. Diese Verdichtung ist das eigentliche Werk des dichtenden Verstandes, und dieser Verstand ist der Mittel- und Höhepunkt des ganzen Menschen, der von ihm aus sich in den empfangenden und mitteilenden scheidet.

Wie die Erscheinung zunächst von dem nach außen gewendeten unwillkürlichen Gefühle erfaßt und der Einbildungskraft als erster Tätigkeit des Gehirnes zugeführt wird, so hat der Verstand, der nichts anderes als die nach dem wirklichen Maße der Erscheinung geordnete Einbildungskraft ist, für die Mitteilung des von ihm Erkannten durch die Einbildungskraft wiederum an das unwillkürliche Gefühl vorzuschreiten. Im Verstande spiegeln sich die Erscheinungen als das, was sie wirklich sind; diese abgespiegelte Wirklichkeit ist aber eben nur eine gedachte: um diese gedachte Wirklichkeit mitzuteilen, muß er sie dem Gefühle in einem ähnlichen Bilde darstellen, als wie das Gefühl sie ihm ursprünglich zugeführt hat, und dies Bild ist das Werk der Phantasie. Nur durch die Phantasie vermag der Verstand mit dem Gefühle zu verkehren. Der Verstand kann die volle Wirklichkeit der Erscheinung nur erfassen, wenn er das Bild, in welchem sie von der Phantasie ihm vorgeführt wird, zerbricht und sie in ihre einzelnsten Teile zerlegt; so wie er diese Teile sich wieder im Zusammenhange vorführen will, hat er sogleich wieder sich ein Bild von ihr zu entwerfen, das der Wirklichkeit der Erscheinung nicht mehr mit realer Genauigkeit, sondern nur in dem Maße entspricht, in welchem der Mensch sie zu erkennen vermag. So setzt auch die einfachste Handlung den Verstand, der sie unter dem anatomischen Mikroskope betrachten will, durch die ungeheure Vielgliedrigkeit ihres Zusammenhanges in Staunen und Verwirrung; und will er sie begreifen, so kann er nur durch Entfernung des Mikroskopes und durch Vorführung des Bildes von ihr, das sein menschliches Auge einzig zu erfassen vermag, zu einem Verständnisse gelangen, das schließlich nur durch das – vom Verstande gerechtfertigte – unwillkürliche Gefühl ermöglicht wird. Dieses Bild der Erscheinungen, in welchem das Gefühl einzig diese zu begreifen vermag, und welches der Verstand, um sich dem Gefühle verständlich zu machen, demjenigen nachbilden muß, welches ihm ursprünglich durch die Phantasie vom Gefühle zugeführt war, ist für die Absicht des Dichters, der auch die Erscheinungen des Lebens aus ihrer unübersehbaren Vielgliedrigkeit zu dichter, leicht überschaubarer Gestaltung zusammendrängen muß, nichts anderes als das Wunder.


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