Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

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[ II ]

Schon lange vor Gluck – wir erwähnten dessen bereits – ist es glücklich begabten, gefühlvollen Komponisten und Sängern ganz von selbst angekommen, den Vortrag der Opernarie mit innigem Ausdrucke auszustatten, bei Gesangsfertigkeit und trotz der Virtuosenbravour überall da, wo es die Textunterlage gestattete, und selbst, wo sie diesem Ausdrucke nirgends entgegenkam, durch Mitteilung wirklichen Gefühles und wahrer Leidenschaft auf ihre Zuhörer zu wirken. Es hing diese Erscheinung ganz von der individuellen Aufgelegtheit der musikalischen Faktoren der Oper ab, und in ihr zeigte sich das wahre Wesen der Musik insoweit siegreich über allen Formalismus, als diese Kunst, ihrer Natur nach, sich als unmittelbare Sprache des Herzens kundgibt.

Wenn wir in der Entwickelung der Oper diejenige Richtung, in welcher durch Gluck und seine Nachfolger diese edelste Eigenschaft der Musik grundsätzlich zur Anordnerin des Dramas erhoben wurde, als die reflektierte bezeichnen wollen, so haben wir dagegen jene andere Richtung, in welcher – namentlich auf italienischen Operntheatern – diese Eigenschaft bei glücklich begabten Musikern sich bewußtlos und ganz von selbst geltend machte, die naive zu nennen. Von jener ist es charakteristisch, daß sie in Paris, als übersiedeltes Produkt, vor einem Publikum sich ausbildete, das, an sich durchaus unmusikalisch, mehr der wohlgeordneten, blendenden Redeweise als einem gefühlvollen Inhalte der Rede selbst mit Anerkennung sich zuwendet; wogegen diese, die naive Richtung, den Söhnen des Heimatlandes der modernen Musik, Italiens, vorzüglich zu eigen blieb.

War es auch ein Deutscher, der diese Richtung in ihrem höchsten Glanze zeigte, so ward sein hoher Beruf ihm doch gerade nur dadurch zugeteilt, daß seine künstlerische Natur von der ungetrübten, fleckenlosen Klarheit eines hellen Wasserspiegels war, zu welchem die eigentümliche schönste Blüte italienischer Musik sich neigte, um sich – wie im Spiegelbilde – selbst zu erschauen, zu erkennen und zu lieben. Dieser Spiegel war aber nur die Oberfläche eines tiefen, unendlichen Meeres des Sehnens und Verlangens, das aus der unermeßlichen Fülle seines Wesens sich zu seiner Oberfläche als zu der Äußerung seines Inhaltes ausdehnte, um aus dem liebevollen Gruße der schönen Erscheinung, die wie im Durste nach Erkenntnis ihres eigenen Wesens zu ihm hinab sich neigte, Gestalt, Form und Schönheit zu gewinnen.

Wer in Mozart den experimentierenden Musiker erkennen will, der von einem Versuche zum anderen sich wendet, um z. B. das Problem der Oper zu lösen, der kann diesem Irrtume, um ihn aufzuwiegen, nur den andern an die Seite stellen, daß er z. B. Mendelssohn, wenn dieser, gegen seine eigenen Kräfte mißtrauisch, scheu und zögernd aus weitester Ferne nur nach und nach sich annähernd der Oper zuwandte, Naivetät zuspricht.Beides tut der in der Einleitung erwähnte Verfasser des Artikels über die »moderne Oper«. Der naive, wirklich begeisterte Künstler stürzt sich mit enthusiastischer Sorglosigkeit in sein Kunstwerk, und erst wenn dies fertig, wenn es in seiner Wirklichkeit sich ihm darstellt, gewinnt er, aus seinen Erfahrungen, die echte Kraft der Reflexion, die ihn allgemeinhin vor Täuschungen bewahrt, im besonderen Falle, also da, wo er durch Begeisterung sich wieder zum Kunstwerke gedrängt fühlt, ihre Macht über ihn dennoch aber vollständig wieder verliert. Von Mozart ist mit Bezug auf seine Laufbahn als Opernkomponist nichts charakteristischer als die unbesorgte Wahllosigkeit, mit der er sich an seine Arbeiten machte: ihm fiel es so wenig ein, über den der Oper zugrunde liegenden ästhetischen Skrupel nachzudenken, daß er vielmehr mit größter Unbefangenheit an die Komposition jedes ihm aufgegebenen Operntextes sich machte, sogar unbekümmert darum, ob dieser Text für ihn, als reinen Musiker, dankbar sei oder nicht. Nehmen wir alle seine hier und da aufbewahrten ästhetischen Bemerkungen und Aussprüche zusammen, so versteigt all seine Reflexion gewiß sich nicht höher als seine berühmte Definition von seiner Nase. Er war so ganz und vollständig Musiker, und nichts als Musiker, daß wir an ihm am allerersichtlichsten und überzeugendsten die einzig wahre und richtige Stellung des Musikers auch zum Dichter begreifen können. Das Wichtigste und Entscheidendste für die Musik leistete er unbestreitbar gerade in der Oper – in der Oper, auf deren Gestaltung mit gleichsam dichterischer Machtvollkommenheit einzuwirken ihm nicht im entferntesten beikam, sondern in der er gerade nur das leistete, was er nach rein musikalischem Vermögen leisten konnte, dafür aber eben durch getreuestes, ungetrübtestes Aufnehmen der dichterischen Absicht – wo und wie sie vorhanden war – dieses sein rein musikalisches Vermögen zu solcher Fülle ausdehnte, daß wir in keiner seiner absolut musikalischen Kompositionen, namentlich auch nicht in seinen Instrumentalwerken, die musikalische Kunst von ihm so weit und reich entwickelt sehen als in seinen Opern. Die große, edle und sinnige Einfalt seines rein musikalischen Instinktes, d. h. des unwillkürlichen Innehabens des Wesens seiner Kunst, machte es ihm sogar unmöglich, da als Komponist entzückende und berauschende Wirkungen hervorzubringen, wo die Dichtung matt und unbedeutend war. Wie wenig verstand dieser reichbegabteste aller Musiker das Kunststück unserer modernen Musikmacher, auf eine schale und unwürdige Grundlage goldflimmernde Musiktürme aufzuführen, und den Hingerissenen, Begeisterten zu spielen, wo alles Dichtwerk hohl und leer ist, um so recht zu zeigen, daß der Musiker der wahre Hauptkerl sei und alles machen könne, selbst aus nichts etwas erschaffen – ganz wie der liebe Gott! O wie ist mir Mozart innig lieb und hoch verehrungswürdig, daß es ihm nicht möglich war, zum »Titus« eine Musik wie die des »Don Juan«, zu »Cosi fan tutte« eine wie die des »Figaro« zu erfinden: wie schmählich hätte dies die Musik entehren müssen! – Mozart machte immerfort Musik, aber eine schöne Musik konnte er nie schreiben, als wenn er begeistert war. Mußte diese Begeisterung von innen, aus eigenem Vermögen kommen, so schlug sie bei ihm doch nur dann hell und leuchtend hervor, wenn sie von außen entzündet wurde, wenn dem Genius göttlichster Liebe in ihm der liebenswerte Gegenstand sich zeigte, den er, brünstig selbstvergessen, umarmen konnte. Und so wäre es gerade der absoluteste aller Musiker, Mozart, gewesen, der längst schon das Opernproblem uns klar gelöst, nämlich das wahrste, schönste und vollkommenste – Drama dichten geholfen hätte, wenn eben der Dichter ihm begegnet wäre, dem er als Musiker gerade nur zu helfen gehabt haben würde. Der Dichter begegnete ihm aber nicht: bald reichte ihm nur ein pedantisch langweiliger oder ein frivol aufgeweckter Operntextmacher seine Arien, Duetten und Ensemblestücke zur Komposition dar, die er dann, je nach der Wärme, die sie ihm erwecken konnten, so in Musik setzte, daß sie immer den entsprechendsten Ausdruck erhielten, dessen sie nach ihrem Inhalte irgend fähig waren.

So hatte Mozart nur das unerschöpfliche Vermögen der Musik dargetan, jeder Anforderung des Dichters an ihre Ausdrucksfähigkeit in undenklichster Fülle zu entsprechen, und bei seinem ganz unreflektierten Verfahren hatte der herrliche Musiker auch in der Wahrheit des dramatischen Ausdruckes, in der unendlichsten Mannigfaltigkeit seiner Motivierung, dieses Vermögen der Musik in bei weitem reicherem Maße aufgedeckt als Gluck und alle seine Nachfolger. Etwas Grundsätzliches war aber in seinem Wirken und Schaffen so wenig ausgesprochen, daß die mächtigen Schwingen seines Genius das formelle Gerüst der Oper eigentlich ganz unberührt gelassen hatten: er hatte in die Formen der Oper nur den Feuerstrom seiner Musik ergossen, sie selbst waren aber zu unmächtig, diesen Strom in sich festzuhalten, sondern er floß aus ihnen dahin, wo er in immer freierer und unbeengenderer Einhegung seinem natürlichen Verlangen nach sich ausdehnen konnte, bis wir ihn in den Symphonien Beethovens zum mächtigen Meere angeschwollen wiederfinden. Während in der reinen Instrumentalmusik die eigenste Fähigkeit der Musik sich zum ungemessensten Vermögen entwickelte, blieben jene Opernformen, gleich ausgebranntem Mauerwerk, nackt und frostig in ihrer alten Gestalt stehen, harrend des neuen Gastes, der seine flüchtige Heimat in ihnen aufschlagen sollte. Nur für die Geschichte der Musik allgemeinhin ist Mozart von so überraschend wichtiger Bedeutung, keineswegs aber für die Geschichte der Oper, als eines eigenen Kunstgenres, im Besonderen. Die Oper, die in ihrem unnatürlichen Dasein an keine Gesetze wirklicher Notwendigkeit für ihr Leben gebunden war, konnte jedem ersten besten Musikabenteurer als gelegentliche Beute verfallen.

Dem unerquicklichen Anblicke, den das Kunstschaffen der sogenannten Nachfolger Mozarts darbietet, können wir hier füglich vorbeigehen. Eine ziemliche Reihe von Komponisten bildete sich ein, Mozarts Oper sei etwas durch die Form Nachzuahmendes, wobei natürlich übersehen wurde, daß diese Form an sich nichts und Mozarts musikalischer Geist eben alles gewesen war: die Schöpfungen des Geistes durch pedantische Anordnungen nachzukonstruieren ist aber noch niemand gelungen.

 

Nur eines blieb in diesen Formen noch auszusprechen übrig: Hatte Mozart in ungetrübtester Naivetät ihren rein musikkünstlerischen Gehalt zu höchster Blüte entwickelt, so war der eigentliche Grund des ganzen Opernwesens, dem Quell seiner Entstehung gemäß, mit unverhülltester, nacktesten Offenheit in denselben Formen noch kundzutun; es war der Welt noch deutlich und unumwunden zu sagen, welchem Verlangen und welchen Anforderungen an die Kunst eigentlich die Oper Ursprung und Dasein verdanke; daß dieses Verlangen keineswegs nach dem wirklichen Drama, sondern nach einem – durch den Apparat der Bühne nur gewürzten – keineswegs ergreifenden und innerlich belebenden, sondern nur berauschenden und oberflächlich ergötzenden Genuß ausging. In Italien, wo diesem – noch unbewußten – Verlangen die Oper entstanden war, sollte endlich mit vollem Bewußtsein ihm auch entsprochen werden.

Wir müssen hier näher auf das Wesen der Arie zurückkommen.

Solange Arien komponiert werden, wird der Grundcharakter dieser Kunstform sich immer als ein absolut musikalischer herauszustellen haben. Das Volkslied ging aus einer unmittelbaren, eng unter sich verwachsenen, gleichzeitigen Gemeinwirksamkeit der Dichtkunst und der Tonkunst hervor, einer Kunst, die wir im Gegensatze zu der von uns einzig fast nur noch begriffenen, absichtlich gestaltenden Kulturkunst kaum Kunst nennen möchten, sondern vielleicht durch: unwillkürliche Darlegung des Volksgeistes durch künstlerisches Vermögen bezeichnen dürften. Hier ist Wort- und Tondichtung eins. Dem Volke fällt es nie ein, seine Lieder ohne Text zu singen, ohne den Wortvers gäbe es für das Volk keine Tonweise. Variiert im Laufe der Zeit und bei verschiedenen Abstufungen des Volksstammes die Tonweise, so variiert ebenso auch der Wortvers; irgendwelche Trennung ist ihm unfaßlich, beide sind ihm ein zu sich gehöriges Ganzes, wie Mann und Weib. Der Luxusmensch hörte diesem Volksliede nur aus der Ferne zu; aus dem vornehmen Palaste lauschte er den vorüberziehenden Schnittern, und was von der Wiese herauf in seine prunkenden Gemächer drang, war nur die Tonweise, während die Dichtweise für ihn da unten verhallte. War diese Tonweise der entzückende Duft der Blume, der Wortvers aber der Leib dieser Blume selbst mit all seinen zarten Zeugungsorganen, so zog der Luxusmensch, der einseitig nur mit seinen Geruchsnerven, nicht aber gemeinsinnig mit dem Auge zugleich genießen wollte, diesen Duft von der Blume ab und destillierte künstlich den Parfüm, den er auf Fläschchen zog, um nach Belieben ihn willkürlich bei sich führen zu können, sich und sein prachtvolles Gerät mit ihm zu netzen, wie er Lust hatte. Um sich auch an dem Anblicke der Blume selbst zu erfreuen, hätte er notwendig näher hinzugehen, aus seinem Palaste auf die Waldwiese herabsteigen, durch Äste, Zweige und Blätter sich durchdrängen müssen, wozu der Vornehme und Behagliche durchaus kein Verlangen hatte. Mit diesem wohlriechenden Substrate besprengte er nun auch die öde Langeweile seines Lebens, die Hohlheit und Nichtigkeit seiner Herzensempfindung, und das künstlerische Gewächs, das dieser unnatürlichen Befruchtung entsproß, war nichts anderes, als die Opernarie. Sie blieb, mochte sie in noch so verschiedenartige willkürliche Verbindungen gezwungen werden, doch ewig unfruchtbar und immer nur sie selbst, das, was sie war und nicht anders sein konnte: ein bloß musikalisches Substrat. Der ganze luftige Körper der Arie verflog in die Melodie; und diese ward gesungen, endlich gegeigt und gepfiffen, ohne nur irgend noch sich anmerken zu lassen, daß ihr ein Wortvers oder gar Wortsinn unterzuliegen habe. Je mehr dieser Duft aber, um ihm irgendwelchen Stoff zum körperlichen Anhaften zu bieten, zu Experimenten aller Art sich hergeben mußte, unter denen das pomphafteste das ernstliche Vorgeben des Dramas war, desto mehr fühlte man ihn von all der Mischung mit Sprödem, Fremdartigem angegriffen, ja an wollüstiger Stärke und Lieblichkeit abnehmen. Der diesem Dufte nun, unnatürlich wie er war, wieder einen Körper gab, der, nachgemacht wie er war, doch wenigstens so täuschend wie möglich jenen natürlichen Leib nachahmte, der einst diesen Duft aus seiner natürlichen Fülle, als den Geist seines Wesens, in die Lüfte aussandte; der ungemein geschickte Verfertiger künstlicher Blumen, die er aus Samt und Seide formte, mit täuschenden Farben bemalte, und deren trockenen Kelch er mit jenem Parfümsubstrat netzte, daß es aus ihm zu duften begann, wie fast aus einer wirklichen Blume; – dieser große Künstler war Joachimo Rossini.

Bei Mozart hatte jener melodische Duft in einer herrlichen, gesunden, ganz mit sich einigen, künstlerischen Menschennatur einen so nährenden Boden gefunden, daß er aus ihr heraus selbst wieder die schöne Blume echter Kunst trieb, die uns zu innigstem Seelenentzücken hinreißt. Auch bei Mozart fand er jedoch nur diese Nahrung, wenn das ihm Verwandte, Gesunde, Reinmenschliche als Dichtung zur Vermählung mit seiner ganz musikalischen Natur sich ihm darbot, und fast war es nur glücklicher Zufall, wenn wiederholt diese Erscheinung ihm entgegenkam. Wo Mozart von diesem befruchtenden Gotte verlassen war, da vermochte auch das Künstliche jenes Duftes sich nur mühsam, und doch nur ohne wahres, notwendiges Leben, wiederum künstlich zu erhalten; die noch so aufwandvoll gepflegte Melodie erkrankte am leblosen kalten Formalismus, dem einzigen Erbteil, das der früh Verscheidende seinen Erben hinterlassen konnte, da er im Tode eben sein – Leben mit sich nahm.

Was Rossini in der ersten Blüte seiner üppigen Jugend um sich gewahrte, war nur die Ernte des Todes. Blickte er auf die ernste französische, sogenannte dramatische Oper, so erkannte er mit dem Scharfblicke jugendlicher Lebenslust eine prunkende Leiche, die selbst der in prachtvoller Einsamkeit dahinschreitende Spontini nicht mehr zu beleben vermochte, da er – wie zur feierlichen Selbstverherrlichung – sich bereits selbst lebendig einbalsamierte. Von keckem Instinkte für das Leben getrieben, riß Rossini auch dieser Leiche die pomphafte Larve vom Gesicht, wie um den Grund ihres einstigen Lebens zu erspähen: durch alle Pracht der stolz verhüllenden Gewänder hindurch entdeckte er da dieses – den wahren Lebensgrund auch dieser gewaltig sich Gebarenden –: die Melodie. – Blickte er auf die heimische italienische Oper und das Werk der Erben Mozarts, nichts anderes gewahrte er als wiederum den Tod – den Tod in inhaltslosen Formen, als deren Leben ihm die Melodie aufging – die Melodie schlechtweg, ohne alle das Vorgeben von Charakter, das ihm durchaus heuchlerisch dünken mußte, wenn er auf das sah, was ihm Unfertiges, Gewaltsames und Halbes entsprungen war.

Leben wollte aber Rossini, und um dies zu können, begriff er sehr wohl, daß er mit denen leben müsse, die Ohren hatten, um ihn zu hören. Als das einzige Lebendige in der Oper war ihm die absolute Melodie aufgegangen; so brauchte er bloß darauf zu achten, welche Art von Melodie er anschlagen müßte, um gehört zu werden. Über den pedantischen Partiturenkram sah er hinweg, horchte dahin, wo die Leute ohne Noten sangen und was er da hörte, war das, was am unwillkürlichsten aus dem ganzen Opernapparate im Gehöre haften geblieben war, die nackte, ohrgefällige, absolut melodische Melodie, d. h. die Melodie, die eben nur Melodie war und nichts anderes, die in die Ohren gleitet – man weiß nicht warum, die man nachsingt – man weiß nicht warum, die man heute mit der von gestern vertauscht und morgen wieder vergißt – man weiß auch nicht warum, die schwermütig klingt, wenn wir lustig sind, die lustig klingt, wenn wir verstimmt sind, und die wir uns doch vorträllern – wir wissen eben nicht warum?

Diese Melodie schlug denn Rossini an, und – siehe da! – das Geheimnis der Oper ward offenbar. Was Reflexion und ästhetische Spekulation aufgebaut hatten, rissen Rossinis Opernmelodien zusammen, daß es wie wesenloses Hirngespinst verwehte. Nicht anders erging es der »dramatischen« Oper, wie der Wissenschaft mit den Problemen, deren Grund in Wahrheit eine irrige Anschauung war, und die bei tiefstem Forschen immer nur irriger und unlösbarer werden müssen, bis endlich das Alexandersschwert sein Werk verrichtet und den Lederknoten mitten durchhaut, daß die tausend Riemenenden nach allen Seiten hin auseinanderfallen. Dies Alexandersschwert ist eben die nackte Tat, und eine solche Tat vollbrachte Rossini, als er alles Opernpublikum der Welt zum Zeugen der ganz bestimmten Wahrheit machte, daß dort die Leute nur »hübsche Melodien« hören wollten, wo es irrenden Künstlern zuvor eingefallen war, durch den musikalischen Ausdruck den Inhalt und die Absicht eines Dramas kundzutun.

Alle Welt jubelte Rossini für seine Melodien zu, ihm, der es ganz vortrefflich verstand, aus der Verwendung dieser Melodien eine besondere Kunst zu machen. Alles Organisieren der Form ließ er ganz beiseite; die einfachste, trockenste und übersichtlichste, die er nun vorfand, erfüllte er dagegen mit dem ganzen folgerichtigen Inhalte, dessen sie einzig von je bedurft hatte –: narkotisch-berauschende Melodie. Ganz unbekümmert um die Form, eben weil er sie durchaus unberührt ließ, wandte er sein ganzes Genie nur zu den amüsantesten Gaukeleien auf, die er innerhalb dieser Formen ausführen ließ. Den Sängern, die zuvor auf dramatischen Ausdruck eines langweiligen und nichtssagenden Worttextes studieren mußten, sagte er: »Macht mit den Worten, was ihr Lust habt, vergeßt aber vor allem nur nicht, für lustige Läufe und melodische Entrechats euch tüchtig applaudieren zu lassen.« Wer gehorchte ihm lieber als die Sänger? – Den Instrumentisten, die zuvor abgerichtet waren, pathetische Gesangsphrasen so intelligent wie möglich in übereinstimmendem Gesamtspiele zu begleiten, sagte er: »Macht's euch leicht, vergeßt vor allem nur nicht, da, wo ich jedem von euch Gelegenheit dazu gebe, für eure Privatgeschicklichkeit euch gehörig beklatschen zu lassen.« Wer dankte ihm eifriger als die Instrumentisten? – Dem Operntextdichter, der zuvor unter den eigensinnig befangenen Anordnungen des dramatischen Komponisten Blut geschwitzt hatte, sagte er: »Freund, mach, was du Lust hast, denn dich brauche ich gar nicht mehr.« Wer war ihm verbundener für solche Enthebung von undankbarer, saurer Mühe als der Operndichter?

Wer aber vergötterte für alle diese Wohltaten Rossini mehr als die ganze zivilisierte Welt, soweit sie die Operntheater fassen konnten? Und wer hatte mehr Grund dazu als sie? Wer war, bei so viel Vermögen, so grundgefällig gegen sie als Rossini? – Erfuhr er, daß das Publikum dieser einen Stadt besonders gern Läufe der Sängerinnen hörte, das der anderen dagegen lieber schmachtenden Gesang, so gab er für die erste Stadt seinen Sängerinnen nur Läufe, für die zweite nur schmachtenden Gesang. Wußte er, daß man hier gern die Trommel im Orchester hörte, so ließ er sogleich die Ouvertüre zu einer ländlichen Oper mit Trommelwirbel beginnen; wurde ihm gesagt, daß man dort leidenschaftlich das Crescendo in Ensemblesätzen liebte, so setzte er seine Oper in der Form eines beständig wiederkehrenden Crescendos. – Nur einmal hatte er Grund, seine Gefälligkeit zu bereuen. Für Neapel riet man ihm, sorgfältiger in seinem Satze zu verfahren: seine solider gearbeitete Oper sprach nicht an, und Rossini nahm sich vor, nie in seinem Leben wieder auf Sorgfalt bedacht zu sein, selbst wenn man ihm dies anriete. –

Übersah Rossini den ungeheuern Erfolg seiner Behandlung der Oper, so ist es ihm nicht im mindesten als Eitelkeit und anmaßender Hochmut zu deuten, wenn er lachend den Leuten in das Gesicht rief, er habe das wahre Geheimnis der Oper gefunden, nach welchem alle seine Vorgänger nur irrend herumgetappt. Wenn er behauptete, es würde ihm ein leichtes sein, die Opern auch seiner größten Vorgänger, und gelte es selbst Mozarts »Don Juan«, vergessen zu machen, und zwar einfach dadurch, daß er dasselbe Sujet auf seine Weise wieder komponiere, so sprach sich hierin keinesweges Arroganz, sondern der ganz sichere Instinkt davon aus, was das Publikum eigentlich von der Oper verlange. In der Tat würden unsere Musikreligiösen der Erscheinung eines Rossinischen »Don Juan« nur zu ihrer vollsten Schmach zuzusehen gehabt haben; denn mit Sicherheit ließe sich annehmen, daß Mozarts »Don Juan« vor dem eigentlichen entscheidenden Theaterpublikum – wenn nicht auf immer, so doch für eine längere Zeit – dem Rossinischen hätte weichen müssen. Denn dies ist der eigentliche Ausschlag, den Rossini in der Opernfrage gab: er appellierte mit Haut und Haar der Oper an das Publikum; er machte dieses Publikum mit seinen Wünschen und Neigungen zum eigentlichen Faktor der Oper.

Hätte das Opernpublikum irgendwie den Charakter und die Bedeutung des Volkes, nach dem richtigen Sinne dieses Wortes, an sich gehabt, so müßte uns Rossini als der allergründlichste Revolutionär im Gebiete der Kunst erscheinen. Einem Teile unsrer Gesellschaft gegenüber, der aber nur als ein unnatürlicher Auswuchs des Volks und in seiner sozialen Überflüssigkeit, ja Schädlichkeit, nur als das Raupennest anzusehen ist, welches die gesunden, nährenden Blätter des natürlichen Volksbaumes zernagt, um aus ihm höchstens die Lebenskraft zu erlangen, als luftige, gaukelnde Schmetterlingsschar ein ephemeres, luxuriöses Dasein dahinzuflattern – einem solchen Volksabhube gegenüber, der auf einem zu schmutziger Roheit versunkenen Bodensatze sich nur zu lasterhafter Eleganz, nie aber zu wahrer, schöner menschlicher Bildung erheben konnte – also – um den bezeichnendsten Ausdruck zu geben – unserem Opernpublikum gegenüber, war Rossini jedoch nur Reaktionär, während wir Gluck und seine Nachfolger als methodische, prinzipielle, nach ihrem wesentlichen Erfolge machtlose, Revolutionäre anzusehen haben. Im Namen des luxuriösen, in der Tat aber einzig wirklichen Inhaltes der Oper und der konsequenten Entwickelung desselben, reagierte Joachimo Rossini ebenso erfolgreich gegen die doktrinären Revolutionsmaximen Glucks, als Fürst Metternich, sein großer Protektor, im Namen des unmenschlichen, in Wahrheit aber einzigen Inhaltes des europäischen Staatswesens und der folgerichtigen Geltendmachung desselben, gegen die doktrinären Maximen der liberalen Revolutionäre reagierte, welche innerhalb dieses Staatswesens, und ohne gänzliche Aufhebung seines unnatürlichen Inhalts, in denselben Formen, die diesen Inhalt aussprachen, das Menschliche und Vernünftige herstellen wollten. Wie Metternich den Staat mit vollem Rechte nicht anders als unter der absoluten Monarchie begreifen konnte, so begriff Rossini mit nicht minderer Konsequenz die Oper nur unter der absoluten Melodie. Beide sagten: »Wollt ihr Staat und Oper, hier habt ihr Staat und Oper – andere gibt es nicht!«

Mit Rossini ist die eigentliche Geschichte der Oper zu Ende. Sie war zu Ende, als der unbewußte Keim ihres Wesens sich zu nacktester, bewußter Fülle entwickelt hatte, der Musiker als der absolute Faktor dieses Kunstwerkes mit unumschränkter Machtvollkommenheit, und der Geschmack des Theaterpublikums als die einzige Richtschnur für sein Verhalten anerkannt war. Sie war zu Ende, als jedes Vorgeben des Dramas bis zur Grundsätzlichkeit tatsächlich beseitigt, den singenden Darstellern die Ausübung unbedingtester und ohrgefälligster Gesangsvirtuosität als ihre einzige Aufgabe, und ihre hierauf begründeten Ansprüche an den Komponisten als ihr unveräußerlichstes Recht zuerkannt waren. Sie war zu Ende, als die große musikalische Öffentlichkeit unter der vollständig charakterlosen Melodie einzig den Inhalt der Musik, in dem losen Zusammenhange der Opertonstücke einzig das Gefüge der musikalischen Form, unter der narkotisch berauschenden Wirkung eines Opernabends einzig das Wesen der Musik ihrem Eindrucke nach allein noch begriff. Sie war zu Ende – an jenem Tage, als der von Europa vergötterte, im üppigsten Schoße des Luxus dahinlächelnde Rossini es für geziemend hielt, dem weltscheuen, bei sich versteckten, mürrischen, für halbverrückt gehaltenen Beethoven einen – Ehrenbesuch abzustatten, den dieser – – nicht erwiderte. Was mochte wohl das lüstern schweifende, dunkle Auge des wollüstigen Sohnes Italias gewahren, als es in den unheimlichen Glanz des schmerzlich gebrochenen, sehnsuchtsiechen – und doch todesmutigen Blickes seines unbegreiflichen Gegners unwillkürlich sich versenkte? Schüttelte sich ihm das furchtbar wilde Kopfhaar des Medusenhauptes, das niemand erschaute, ohne zu sterben? – So viel ist gewiß, mit Rossini starb die Oper. –

 

Von der großen Stadt Paris aus, in der die gebildeten Kunstkenner und Kritiker noch heute nicht begreifen können, welch ein Unterschied zwischen zwei berühmten Komponisten wie Beethoven und Rossini stattfinden solle, als etwa der, daß dieser sein himmlisches Genie auf die Komposition von Opern, jener dagegen auf Symphonien verwandt habe – von diesem splendiden Sitze aller modernen Musikweisheit aus sollte dennoch der Oper noch eine verwunderliche Lebensverlängerung bereitet werden. Der Hang am Dasein ist urkräftig in allem, was da ist. Die Oper war einmal da, wie das Byzantinische Kaisertum, und ganz wie dieses wird sie bestehen, solange irgend die unnatürlichen Bedingungen vorhanden bleiben, die sie – innerlich tot – immer noch am Leben erhalten – bis endlich die ungezogenen Türken kommen, die einst schon dem Byzantinischen Reiche einmal ein Ende machten und so grob waren, in der prunkend heiligen Sophienkirche ihre wilden Rosse zur Krippe zu führen.

Als Spontini mit sich die Oper für tot ansah, irrte er sich, weil er die »dramatische Richtung« der Oper für ihr Wesen hielt: er vergaß die Möglichkeit eines Rossini, der ihm vollkommen das Gegenteil beweisen könnte. Als Rossini mit bei weitem größerem Rechte die Oper mit sich für fertig hielt, so irrte er sich zwar weniger, weil er das Wesen der Oper erkannt, deutlich dargetan und zur allgemeinen Geltung gebracht hatte, und somit annehmen konnte, nur noch nachgeahmt, nicht aber mehr überboten zu werden. Dennoch täuschte aber auch er sich darüber, daß aus allen bisherigen Richtungen der Oper nicht eine Karikatur zusammengesetzt werden könnte, die nicht nur von der Öffentlichkeit, sondern auch von kunstkritischen Köpfen als eine neue und wesentliche Gestalt der Oper aufgenommen sein dürfte; denn er wußte zur Zeit seiner Blüte noch nicht, daß es den Bankiers, für die er bis dahin Musik gemacht hatte, einmal einfallen würde, selbst auch zu komponieren.

O wie ärgerte er sich, der sonst so leichtsinnige Meister, wie ward er bös und übelgelaunt, sich, wenn auch nicht an Genialität, doch in der Geschicklichkeit der Ausbeutung der öffentlichen Kunstnichtswürdigkeit übertroffen zu sehen! O wie war er der »dissoluto punito«, die ausgestochene Kurtisane, und von welchem ingrimmigen Verdrusse ob dieser Schmach war er erfüllt, als er dem Pariser Operndirektor, der ihn bei augenblicklich eingetretener Windstille einlud, den Parisern wieder etwas vorzublasen, antwortete, er würde nicht eher zurückkommen, als bis dort »die Juden mit ihrem Sabbat fertig wären«! – Er mußte erkennen, daß, solange Gottes Weisheit die Welt regiert, alles seine Strafe findet, selbst die Aufrichtigkeit, mit der er den Leuten gesagt hatte, was an der Oper wäre – und ward, um wohlverdiente Buße zu tragen, Fischhändler und Kirchenkomponist! –

Nur auf weiterem Umwege können wir jedoch zur verständlichen Darstellung des Wesens der modernsten Oper gelangen. –


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