Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

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[ IV ]

Jede Kunstrichtung nähert sich ganz in dem Grade ihrer Blüte, als sie das Vermögen zu dichter, deutlicher und sicherer Gestaltung gewinnt. Das Volk, das im Anfange sein Staunen über die weithin wirkenden Wunder der Natur in den Ausrüfen lyrischer Ergriffenheit äußert, verdichtet, um den staunenerregenden Gegenstand zu bewältigen, die weitverzweigte Naturerscheinung zum Gott, und den Gott endlich zum Helden. In diesem Helden, als dem gedrängten Bilde seines eigenen Wesens, erkennt es sich selbst, und seine Taten feiert es im Epos, im Drama aber stellt es selbst sie dar. Der tragische Held der Griechen schritt aus dem Chor heraus und sprach zu ihm zurückgewandt: »Seht, so tut und handelt ein Mensch; was ihr in Meinungen und Sprüchen feiertet, das stelle ich euch als unwiderleglich wahr und notwendig dar.« – Die griechische Tragödie faßte in Chor und Helden das Publikum und das Kunstwerk zusammen: dieses gab sich in ihr mit dem Urteile über sich – als gedichtete Anschauung – zugleich dem Volke, und genau in dem Grade reifte das Drama als Kunstwerk, als das verdeutlichende Urteil des Chores in den Handlungen der Helden selbst sich so unwiderleglich ausdrückte, daß der Chor von der Szene ab ganz in das Volk zurücktreten und dafür als belebender und verwirklichender Teilnehmer der Handlung – als solcher – selbst behilflich werden konnte. Shakespeares Tragödie steht insofern unbedingt über der griechischen, als sie für die künstlerische Technik die Notwendigkeit des Chores vollkommen überwunden hatte. Bei Shakespeare ist der Chor in lauter an der Handlung persönlich beteiligte Individuen aufgelöst, welche für sich ganz nach derselben individuellen Notwendigkeit ihrer Meinung und Stellung handeln, wie der Hauptheld, und selbst ihre scheinbare Unterordnung im künstlerischen Rahmen ergibt sich nur aus den ferneren Berührungspunkten, in denen sie mit dem Haupthelden stehen, keineswegs aber aus einer etwa prinzipiellen technischen Verachtung der Nebenpersonen; denn überall da, wo die selbst untergeordnetste Person zur Teilnahme an der Haupthandlung zu gelangen hat, äußert sie sich ganz nach persönlich charakteristischem, freiem Ermessen.

Wenn die sicher und fest gezeichneten Persönlichkeiten Shakespeares im weiteren Verlaufe der modernen dramatischen Kunst immer mehr von ihrer plastischen Individualität verloren und bis zur bloßen stabilen Charaktermaske ohne alle Individualität herabsanken, so ist dies dem Einflusse des ständisch uniformierenden Staates zuzuschreiben, der das Recht der freien Persönlichkeit mit immer tödlicherer Gewalt unterdrückte. Das Schattenspiel solcher innerlich hohlen, aller Individualität baren Charaktermasken ward die dramatische Grundlage der Oper. Je inhaltsloser die Persönlichkeiten unter diesen Masken waren, desto geeigneter erachtete man sie zum Singen der Opernarie. »Prinz und Prinzessin« – das ist die ganze dramatische Achse, um die sich die Oper drehte, und – bei Licht besehen – jetzt noch dreht. Alles Individuelle konnte diesen Opernmasken nur durch den äußeren Anstrich kommen, und endlich mußte die Besonderheit der Lokalität des Schauplatzes ihnen das ersetzen, was ihnen innerlich ein für allemal abging. Als die Komponisten alle melodische Produktivität ihrer Kunst erschöpft hatten und vom Volke sich die Lokalmelodie erborgen mußten, griff man endlich auch zum ganzen Lokale selbst: Dekorationen, Kostüme und das, was diese auszufüllen hatte, die bewegungsfähige Umgebung – der Opernchor, ward endlich die Hauptsache, die Oper selbst, welche von allen Seiten ihr flimmerndes Licht auf »Prinz und Prinzessin« werfen mußte, um die armen Unglücklichen am kolorierten Sängerleben zu erhalten.

So war denn der Kreislauf des Dramas zu seiner tödlichen Schmach erfüllt: die individuellen Persönlichkeiten, zu denen einst der Chor des Volkes sich verdichtet hatte, verschwammen in buntscheckige, massenhafte Umgebung ohne Mittelpunkt. Als diese Umgebung gilt uns in der Oper der ganze ungeheure szenische Apparat, der durch Maschinen, gemalte Leinwand und bunte Kleider uns als Stimme des Chores zuschreit: »Ich bin Ich, und keine Oper ist außer mir!«

Wohl hatten schon früher edle Künstler des Schmuckes des Nationalen sich bedient; nur da aber vermochte es einen reizenden Zauber auszuüben, wo es eben nur als gelegentlich erforderlicher Schmuck einem durch charakteristische Handlung belebten, dramatischen Stoffe beigegeben und ohne alle Ostentation eingefügt war. Wie trefflich wußte Mozart seinem »Osmin« und seinem »Figaro« ein nationales Kolorit zu geben, ohne in der Türkei und in Spanien, oder gar in Büchern nach der Farbe zu suchen. Jener »Osmin« und jener »Figaro« waren aber wirkliche, von einem Dichter glücklich entworfene, vom Musiker mit wahrem Ausdrucke ausgestattete und vom gesunden Darsteller gar nicht zu verfehlende, individuelle Charaktere. Die nationale Zutat unserer modernen Opernkomponisten wird aber nicht auf solche Individualitäten verwandt, sondern sie soll dem an sich ganz Charakterlosen eine irgendwie charakteristische Unterlage, zu Belebung und Rechtfertigung einer an und für sich ganz gleichgültigen und farblosen Existenz, erst geben. Die Spitze, auf die alles gesunde Volkstümliche ausläuft, das rein menschlich Charakteristische, ist in unserer Oper von vornherein als farblose, nichtsbedeutende Ariensänger-Maske verbraucht, und diese Maske soll nun durch den Widerschein der umgebenden Farbe nur künstlich belebt werden, weshalb denn auch diese Farbe der Umgebung in den allergrellsten und schreiendsten Klecksen aufgetragen wird.

Um die öde Szene um den Ariensänger herum zu beleben, hat man das Volk, dem man seine Melodie abgenommen hatte, selbst endlich auf die Bühne gebracht; aber natürlich konnte das nicht das Volk sein, das jene Weise erfand, sondern die gelehrig abgerichtete Masse, die nun nach dem Takte der Opernarie hin- und hermarschierte. Nicht das Volk brauchte man, sondern die Masse, d. h. den materiellen Überrest von dem Volke, dem man den Lebensgeist ausgesaugt hatte. Der massenhafte Chor unserer modernen Oper ist nichts anderes als die zum Gehen und Singen gebrachte Dekorationsmaschinerie des Theaters, der stumme Prunk der Kulissen in bewegungsvollen Lärmen umgesetzt. »Prinz und Prinzessin« hatten mit dem besten Willen nichts mehr zu sagen als ihre tausendmal gehörten Schnörkelarien: man suchte das Thema endlich dadurch zu variieren, daß das ganze Theater von der Kulisse bis zum verhundertfachten Choristen diese Arie mitsang, und zwar – je höher die Wirkung steigen soll – gar nicht einmal mehr vielstimmig, sondern im wirklichen tobenden Einklange. In dem heutzutage so berühmt gewordenen »Unisono« enthüllt sich ganz ersichtlich der eigentliche Kern der Absicht der Massenanwendung, und im Sinne der Oper hören wir ganz richtig die Massen »emanzipiert«, wenn wir sie, wie in den berühmtesten Stellen der berühmtesten modernen Opern, die alte, abgedroschene Arie im hundertstimmigen Einklange vortragen hören. So hat unser heutiger Staat die Masse ebenfalls emanzipiert, wenn er sie in Soldatenuniform bataillonsweise aufmarschieren, links und rechts schwenken, schultern und präsentieren läßt: wenn die Meyerbeerschen »Hugenotten« sich zu ihrer höchsten Spitze erheben, hören wir an ihnen, was wir an einem preußischen Gardebataillon sehen. Deutsche Kritiker nennen's – wie gesagt – Emanzipation der Massen. –

 

Die so »emanzipierte« Umgebung war im Grunde genommen aber wieder auch nur eine Maske. Wenn wirklich charakteristisches Leben in den Hauptpersonen der Oper nicht vorhanden war, so konnte dies wahrlich dem massenhaften Apparate noch weniger eingegossen werden. Der Widerschein, der von diesem Apparate aus belebend auf die Hauptpersonen fallen sollte, konnte daher von irgendwelcher ergiebigen Wirkung nur dann sein, wenn auch die Maske der Umgebung von außen woher einen Anstrich erhielt, der über ihre innere Hohlheit täuschte. Diesen Anstrich gewann man aus dem historischen Kostüm, das das nationale Kolorit noch prägnanter machen mußte.

Man sollte annehmen, hier, beim Einmischen des historischen Motives, habe nun dem Dichter die Aufgabe zugeteilt werden müssen, entscheidend in die Gestaltung der Oper einzugreifen. Leicht dürfen wir aber unseren Irrtum einsehen, wenn wir bedenken, welchen Gang bisher die Fortbildung der Oper genommen hatte, wie sie alle Phasen ihrer Entwickelung nur dem verzweifelten Streben des Musikers, sein Werk am künstlichen Dasein zu erhalten, verdanken mußte, und selbst zur Verwendung historischer Motive nicht durch ein als notwendig empfundenes Verlangen, sich an den Dichter zu ergeben, sondern durch den Drang rein musikalischer Umstände hingewiesen ward – durch einen Drang, der wiederum nur aus der ganzen unnatürlichen Aufgabe des Musikers, im Drama Absicht und Ausdruck zugleich geben zu sollen, hervorging. Wir werden später auf die Stellung des Dichters zu unserer modernsten Oper noch zurückkommen; für jetzt verfolgen wir ungestört vom Standpunkte des wirklichen Faktors der Oper, des Musikers, aus, bis wohin sein irriges Streben ihn führen mußte.

Der Musiker, der – mochte er sich gebärden, wie er wollte – nur Ausdruck und nichts als Ausdruck geben konnte, mußte ganz in dem Maße auch das wirkliche Vermögen zu gesundem und wahrem Ausdrucke verlieren, als er den Gegenstand seines Ausdruckes, in seinem verkehrten Eifer, diesen Gegenstand selbst zu zeichnen, selbst zu dichten, zum grundsätzlich matten und inhaltslosen Schema herabwürdigte. Hatte er nicht vom Dichter den Menschen verlangt, sondern vom Mechaniker den Gliedermann, den er mit seinen Gewändern nach Belieben drapierte, um durch den Farbenreiz und die Anordnung dieser Gewänder allein zu entzücken, so mußte er nun, da er das warme Pulsieren des menschlichen Leibes an dem Gliedermanne unmöglich darstellen konnte, bei somit immer größerer Verarmung seiner Ausdrucksmittel endlich nur noch auf unerhört mannigfaltige Variation in den Farben und Falten seiner Gewänder bedacht sein. Das historische Gewand der Oper – das ergiebigste, weil es nach Klima und Zeitalter auf das bunteste zu wechseln imstande war – ist aber eigentlich doch nur das Werk des Dekorationsmalers und Theaterschneiders, wie diese beiden Faktoren denn in Wahrheit die allerwichtigsten Bundesgenossen des modernen Opernkomponisten geworden sind. Allein auch der Musiker unterließ es nicht, seine Tonfarbenpalette für das historische Kostüm herzurichten; wie hätte er, der Schöpfer der Oper, der sich den Dichter zum Bedienten gemacht hatte, den Maler und Schneider nicht auch ausstechen sollen? Hatte er das ganze Drama, mit Handlung und Charakteren, in Musik aufgelöst, wie sollte es ihm unmöglich bleiben, auch die Zeichnungen und Farben des Malers und Schneiders musikalisch zu Wasser zu machen? Er vermochte es, alle Dämme niederzureißen, alle Schleußen zu öffnen, die das Meer vom Lande trennen, und so in der Sündflut seiner Musik das Drama mit Mann und Maus, mit Pinsel und Schere zu ersäufen!

Der Musiker mußte aber auch die ihm prädestinierte Aufgabe erfüllen, der deutschen Kritik, für die Gottes allgütige Fürsorge bekanntlich die Kunst geschaffen hat, die Freude des Geschenkes einer »historischen Musik« zu machen. Sein hoher Ruf begeisterte ihn, gar bald das Richtige zu finden.

Wie mußte eine »historische« Musik sich anhören, wenn sie die Wirkung einer solchen machen sollte? Jedenfalls anders als eine nicht historische Musik. Worin lag hier aber der Unterschied? Offenbar darin, daß die »historische« Musik von der gegenwärtig gewöhnten so verschieden sei als das Kostüm einer früheren Zeit von dem der Gegenwart. War es nicht das Klügste, genau so, wie man das Kostüm dem betreffenden Zeitalter getreu nachahmte, auch die Musik diesem Zeitalter zu entnehmen? Leider ging dies nicht so leicht, denn in jenen, im Kostüm so pikanten Zeitaltern, gab es barbarischerweise noch keine Opern: eine allgemeine Opernsprache war ihnen daher nicht zu entnehmen. Dagegen sang man damals in den Kirchen, und diese Kirchengesänge haben in der Tat, wenn man sie heute plötzlich singen läßt, unserer Musik gegenübergehalten, etwas schlagend Fremdartiges. Vortrefflich! Kirchengesänge her! Die Religion muß aufs Theater wandern! – So ward die musikalisch historische Kostümnot zur christlich religiösen Operntugend. Für das Verbrechen des Raubes der Volksmelodie verschaffte man sich römisch-katholische und evangelisch-protestantische Kirchenabsolution, und zwar gegen die Wohltat, die man der Kirche dadurch erwies, daß, wie zuvor die Massen, nun auch die Religion – um im Ausdrucke der deutschen Kritik konsequent zu bleiben – durch die Oper »emanzipiert« wurde.

So ward der Opernkomponist vollständig zum Erlöser der Welt, und in dem tiefbegeisterten, von selbstzerfleischendem Schwärmereifer unwiderstehlich hingerissenen Meyerbeer haben wir jedenfalls den modernen Heiland, das weltsündentragende Lamm Gottes zu erkennen.

Dennoch konnte diese entsündigende »Emanzipation der Kirche« nur bedingungsweise vom Musiker vollzogen werden. Wollte die Religion durch die Oper beseligt sein, so mußte sie sich gefallen lassen, nur einen gewissen, vernünftigerweise ihr zugehörigen Platz unter den übrigen Emanzipierten einzunehmen. Die Oper, als Befreierin der Welt, mußte die Religion beherrschen, nicht die Religion die Oper; sollte die Oper zur Kirche werden, so war die Religion ja nicht von der Oper, sondern diese von ihr emanzipiert. Für die Reinheit des musikalisch-historischen Kostümes hätte es der Oper allerdings erwünscht sein können, nur noch mit der Religion zu tun zu haben, denn die einzig verwendbare historische Musik fand sich nur in der Kirchenmusik vor. Nur mit Mönchen und Pfaffen zu tun zu haben hätte aber der Heiterkeit der Oper empfindlich schaden müssen: denn das, was durch die Emanzipation der Religion nur verherrlicht werden sollte, war ja eigentlich nur die Opernarie, dieser üppig entfaltete Urkeim alles Opernwesens, der keineswegs im Verlangen nach andächtiger Sammlung, sondern nach unterhaltender Zerstreuung wurzelte. Genaugenommen war die Religion nur als Beischmack zu verwenden, ganz wie im wohlgeordneten Staatsleben: das Hauptgewürz mußte »Prinz und Prinzessin«, nebst gehöriger Zutat von Spitzbuben, Hofchor und Volkschor, Kulissen und Kleidern bleiben.

Wie war nur auch dies ganze hochwürdige Opernkollegium in historische Musik umzusetzen? –

Hier eröffnete sich dem Musiker das unabsehbar graue Nebelfeld reiner, absoluter Erfindung: die Aufforderung zum Erschaffen aus Nichts. Sieh da, wie schnell er mit sich einig wurde! Er hatte nur dafür zu sorgen, daß die Musik immer ein wenig anders klinge, als man der Gewohnheit nach annehmen müsse, daß sie zu klingen hätte, so klang jedenfalls seine Musik fremdartig, und ein richtiger Schnitt des Theaterschneiders genügte, um sie vollständig »historisch« zu machen.

Die Musik, als reichstes Vermögen des Ausdruckes, erhielt nun eine ganz neue, ungemein pikante Aufgabe, nämlich: den Ausdruck, den sie überhaupt schon zum Gegenstande des Ausdruckes gemacht hatte, wiederum durch sich selbst zu widerlegen; der Ausdruck, der ohne ausdruckswerten Gegenstand an und für sich nichtig war, wurde, im Streben dieser Gegenstand für sich selbst zu sein, wiederum verneint, so daß das Resultat unserer Welterschaffungstheorien, nach denen aus zwei Verneinungen das Etwas entstanden ist, von dem Opernkomponisten vollständig erreicht werden mußte. Wir empfehlen der deutschen Kritik den hieraus entstandenen Opernstil als »emanzipierte Metaphysik«.

Betrachten wir dies Verfahren etwas näher. –

Wollte der Komponist einen unmittelbar entsprechenden nackten Ausdruck geben, so konnte er dies mit dem besten Willen nicht anders als in der musikalischen Sprechweise, die uns heute eben als verständlicher musikalischer Ausdruck gilt; beabsichtigte er nun, diesem ein historisches Kolorit zu verleihen, und konnte er dies im Grunde nur dadurch für erreichbar halten, daß er ihm einen überhaupt fremdartigen, ungewohnten Beiklang gab, so stand ihm zunächst allerdings die Ausdrucksweise einer früheren musikalischen Epoche zu Gebote, die er nach Belieben nachahmen und von der er nach willkürlichem Ermessen entnehmen konnte. Auf diese Weise hat sich denn auch der Komponist aus allen irgend schmackhaften Stileigentümlichkeiten verschiedener Zeiten einen scheckigen Sprachjargon zusammengesetzt, der an und für sich seinem Streben nach Fremdartigkeit und Ungewohntheit nicht übel entsprechen konnte. Die musikalische Sprache, sobald sie sich vom ausdruckswerten Gegenstande loslöst und ohne Inhalt nach opernarienhafter Willkür ganz allein sprechen, d. h. eben nur singend und pfeifend plaudern will, ist für ihr Wesen aber so ganz und gar der bloßen Mode unterworfen, daß sie entweder nur dieser Mode sich unterordnen, oder im glücklichen Falle sie nur beherrschen, d. h. die neueste Mode ihr zuführen kann. Der Jargon, den somit der Komponist erfand, um – der historischen Absicht zulieb – fremdartig zu sprechen, wird, wenn er Glück macht, augenblicklich wiederum zur Mode, die, einmal angenommen, plötzlich gar nicht mehr fremdartig erscheint, sondern das Kleid ist, welches wir alle tragen, die Sprache, die wir alle sprechen. Der Komponist muß verzweifeln, sich durch seine eigenen Erfindungen somit immer wieder in dem Bestreben, fremdartig zu erscheinen, behindert zu sehen, und er muß notgedrungen daher auf ein Mittel verfallen, ein für allemal fremdartig zu erscheinen, sobald er seinen Beruf zur »historischen« Musik erfüllen will. Er muß daher ein für allemal darauf bedacht sein, selbst den entstelltesten Ausdruck – weil er einmal durch ihn zur modischen Gewohnheit gemacht worden ist – in sich wiederum zu entstellen: er muß sich vornehmen, genaugenommen, da »Nein« zu sagen, wo er eigentlich »Ja« sagen will, da sich freudig zu gebärden, wo er Schmerz ausdrücken soll, da jammernd zu wimmern, wo er sich behaglicher Lust hinzugeben hätte. Wahrlich, so und nicht anders ist es ihm möglich, in allen Fällen fremdartig, sonderbar, wie von Gottweißwoher kommend, zu erscheinen; er muß sich geradewegs verrückt stellen, um »historisch-charakteristisch« zu erscheinen. Hiermit ist denn auch in Wirklichkeit ein ganz neues Element gewonnen: der Drang zum »Historischen« hat zur hysterischen Verrücktheit geführt, und diese Verrücktheit ist zu unserer Freude bei Licht besehen gar nichts anderes als – wie nennen wir es gleich? – Neuromantik.


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