Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

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[ VI ]

Die moderne »Charakteristik« in der Oper unterscheidet sich sehr wesentlich von dem, was vor Rossini in der Gluckschen oder der Mozartschen Richtung uns für Charakteristik gelten muß.

Gluck war wissentlich bemüht, im deklamierten Rezitativ wie in der gesungenen Arie, bei voller Beibehaltung dieser Formen und neben der instinktmäßigen Hauptsorge, den gewohnten Forderungen an ihren rein musikalischen Inhalt zu entsprechen, die in der Textunterlage bezeichnete Empfindung so getreu wie möglich durch den musikalischen Ausdruck wiederzugeben, vor allem aber auch den rein deklamatorischen Akzent des Verses nie zugunsten dieses musikalischen Ausdruckes zu entstellen. Er gab sich Mühe, in der Musik richtig und verständlich zu sprechen.

Mozart konnte seiner kerngesunden Natur nach gar nicht anders als richtig sprechen. Er sprach mit derselben Deutlichkeit den rhetorischen Zopf wie den wirklich dramatischen Akzent aus: bei ihm blieb Grau grau, Rot rot; nur daß dieses Grau wie dieses Rot, in den erfrischenden Tau seiner Musik getaucht, in alle Nuancen der ursprünglichen Farbe sich auflöste, und so als mannigfaltigstes Grau wie als mannigfaltigstes Rot sich darbot. Unwillkürlich adelte seine Musik alle nach theatralischer Konvenienz ihm hingeworfenen Charaktere dadurch, daß sie gleichsam den rohen Stein schliff, ihn nach allen Seiten dem Lichte zuwandte und in der Richtung endlich festhielt, in welcher das Licht die glänzendsten Farbenstrahlen aus ihm zog. Auf diese Weise vermochte er die Charaktere des »Don Juan« z. B. zu einer solchen Fülle des Ausdruckes zu erheben, daß es einem Hoffmann beikommen durfte, die tiefsten, geheimnisvollsten Beziehungen zwischen ihnen zu erkennen, von denen weder Dichter noch Komponist ein wirkliches Bewußtsein hatten. Gewiß ist aber, daß Mozart durch seine Musik allein unmöglich in dieser Art hätte charakteristisch sein können, wenn die Charaktere selbst im Werke des Dichters nicht vorhanden gewesen wären. Je mehr wir durch die glühende Farbe der Mozartschen Musik auf den Grund zu blicken vermögen, mit desto größerer Sicherheit erkennen wir die scharfe und bestimmte Federzeichnung des Dichters, die durch ihre Linien und Striche die Farbe des Musikers erst bedang, und ohne die jene wundervolle Musik geradesweges unmöglich war.

Die in Mozarts Hauptwerke von uns angetroffene, so überraschend glückliche Beziehung zwischen Dichter und Komponisten sehen wir aber im ferneren Verlaufe der Entwickelung der Oper gänzlich wieder verschwinden, bis, wie wir sahen, Rossini sie gänzlich aufhob und die absolute Melodie zum einzig berechtigten Faktor der Oper machte, dem alles übrige Interesse, und vor allem die Beteiligung des Dichters, sich vollkommen unterzuordnen hatte. Wir sahen ferner, daß der Einspruch Webers gegen Rossini nur gegen die Seichtigkeit und Charakterlosigkeit dieser Melodie, keineswegs aber gegen die unnatürliche Stellung des Musikers zum Drama selbst gerichtet war. Im Gegenteile verstärkte Weber das Unnatürliche dieser Stellung nur noch dadurch, daß er durch charakteristische Veredelung seiner Melodie sich eine noch erhöhte Stellung gegen den Dichter zuteilte, und zwar gerade um so viel erhöht, als seine Melodie die Rossinische eben an charakteristischem Adel übertraf. Zu Rossini gesellte sich der Dichter als lustiger Schmarotzer, den der Komponist als vornehmer, aber leutseliger Mann mit Austern und Champagner nach Herzenslust traktierte, so daß der folgsame Poet bei keinem Herrn der Welt sich besser befand als bei dem famosen Maestro. Weber dagegen, erfüllt von unbeugsamem Glauben an die charakteristische Reinheit seiner einen und unteilbaren Melodie, knechtete sich den Dichter mit dogmatischer Grausamkeit und zwang ihn, den Scheiterhaufen selbst aufzurichten, auf dem der Unglückliche, zur Nahrung des Feuers der Weberschen Melodie, sich zu Asche verbrennen lassen sollte. Der Dichter des »Freischützen« war noch ganz ohne es zu wissen zu diesem Selbstmorde gekommen: aus seiner eigenen Asche heraus protestierte er, als die Wärme des Weberschen Feuers noch die Luft erfüllte, und behauptete, diese Wärme rühre von ihm her – er irrte sich gründlich; seine hölzernen Scheite gaben nur Wärme, als sie vernichtet – verbrannt waren: einzig ihre Asche, den prosaischen Dialog, konnte er nach dem Brande noch als sein Eigentum ausgeben.

Weber suchte sich nach dem »Freischützen« einen gefügigeren Dichterknecht und nahm zu einer neuen Oper eine Frau in Sold, von deren unbedingterer Unterordnung er sogar verlangte, daß sie nach dem Brande des Scheiterhaufens nicht einmal die Asche ihrer Prosa nachlassen sollte: sie sollte sich mit Haut und Haar in der Glut seiner Melodie verbrennen lassen. Uns ist aus der Korrespondenz Webers mit Frau von Chezy während der Anfertigung des Euryanthetextes bekannt geworden, mit welch peinlicher Sorgfalt er sich genötigt fühlte, wiederum seinen dichterischen Helfer bis auf das Blut zu quälen; wie er verwirft und vorschreibt, und wieder vorschreibt und verwirft; hier streicht, dort hinzuverlangt; hier verlängert, dort verkürzt haben will – ja seine Anordnungen bis auf die Charaktere selbst, ihre Motive und Handlungen erstreckt. War er hierin etwa ein krankhafter Eigensinniger, oder ein übermütiger Parvenü, der durch den Erfolg seines Freischützen eitel gemacht, jetzt als Despot befehlen wollte, wo er naturgemäß zu gehorchen gehabt hätte? O nein! Aus ihm sprach mit leidenschaftlichster Erregtheit nur die ehrliche künstlerische Sorge des Musikers, der, durch den Drang der Umstände verführt, es übernommen hatte, das Drama selbst aus der absoluten Melodie zu konstruieren. Weber war hierbei in einem tiefen Irrtume, aber in einem Irrtume, der ihm mit Notwendigkeit hatte ankommen müssen. Er hatte die Melodie zu ihrem schönsten, gefühlvollsten Adel erhoben, er wollte sie nun als Muse des Dramas selbst krönen, und durch ihre starke Hand all das lüderliche Gezücht von der Bühne jagen lassen, das diese entweihte. Hatte er im Freischützen alle lyrischen Züge der Operndichtung in diese Melodie hingeleitet, so wollte er nun aus den Lichtstrahlen seines melodischen Sternes das Drama selbst ausgießen. Man könnte sagen, seine Melodie zur »Euryanthe« sei eher fertig gewesen als die Dichtung; um diese zu liefern, brauchte er nur jemand, der seine Melodie vollkommen im Ohre und im Herzen hatte, und ihr bloß nachdichtete; da praktisch dies aber nicht möglich war, so geriet er mit seiner Dichterin in ein ärgerlich theoretisches Hin- und Herzanken, in welchem weder von der einen, noch der andern Seite her eine klare Verständigung möglich wurde – so daß wir gerade an diesem Falle bei ruhiger Prüfung recht deutlich zu ersehen haben, bis zu welcher peinlichen Unsicherheit Männer von Webers Geiste und künstlerischer Wahrheitsliebe durch das Festhalten eines künstlerischen Grundirrtumes verleitet werden können.

Das Unmögliche mußte endlich auch Weber unmöglich bleiben. Er konnte durch all seine Andeutungen und Verhaltungsbefehle an den Dichter keine dramatische Unterlage zustande bekommen, die er vollständig in seine Melodie hätte auflösen können, und zwar gerade deswegen, weil er ein wirkliches Drama zutage fördern wollte, nicht nur ein mit lyrischen Momenten erfülltes Schauspiel, von dem er – wie im »Freischützen« – eben nichts als bloß diese Momente für seine Musik zu verwenden gehabt hätte. In dem Texte der »Euryanthe« blieb neben dem dramatisch-lyrischen Elemente, für das – wie ich mich ausdrückte – die Melodie im voraus fertig war, doch so viel, der absoluten Musik fremdartige Beigabe übrig, daß Weber es mit seiner eigentlichen Melodie nicht zu beherrschen vermochte. Wäre dieser Text das Werk eines wirklichen Dichters gewesen, der den Musiker so nur zu seiner Hülfe herbeigerufen hätte, wie jetzt es dem Dichter vom Musiker geschehen war, so würde dieser Musiker in der Liebe zu dem vorliegenden Drama nicht einen Augenblick in Verlegenheit geraten sein: er würde da, wo er für seinen breiteren musikalischen Ausdruck keinen nährenden oder rechtfertigenden Stoff erkannte, sich nur nach seinem geringeren Vermögen, dem einer untergeordneten, dem Ganzen dennoch aber immer hülfreichen Begleitung, beteiligt, und nur da, wo der vollste musikalische Ausdruck notwendig und aus dem Stoffe bedungen war, auch nach seinem vollsten Vermögen eingewirkt haben. Der Text der »Euryanthe« war jedoch aus dem umgekehrten Verhältnisse zwischen Musiker und Dichter hervorgegangen, und der eigentlich dichtende Komponist vermochte überall da, wo er naturgemäß abzustehen oder zurückzutreten gehabt hätte, jetzt nur eine doppelt gesteigerte Aufgabe für sich zu ersehen, nämlich die Aufgabe, einem musikalisch völlig spröden Stoffe dennoch ein vollkommen musikalisches Gepräge aufzudecken. Dies hätte Weber nur gelingen können, wenn er sich in die frivole Richtung der Musik schlug; wenn er, von aller Wahrheit gänzlich absehend, dem epikureischen Elemente der Musik die Zügel schießen ließ, und à la Rossini Tod und Teufel in amüsante Melodien umgesetzt hätte. Allein gerade hiergegen erhob ja Weber seinen kräftigsten künstlerischen Einspruch: seine Melodie sollte überall charaktervoll, d. h. wahr und der gegenständlichen Empfindung entsprechend sein. Er mußte also zu einem anderen Verfahren schreiten.

Überall da, wo seine in langen Zügen sich kundgebende, meist im voraus fertige und auf den Text, gleich einem glänzenden Gewande dahingebreitete Melodie diesem Texte einen zu erkennbaren Zwang hätte antun müssen, brach er diese Melodie selbst in Stücke, und die einzelnen Teile seines melodischen Gebäudes fügte er dann, je nach der deklamatorischen Erfordernis der Textworte, zu einem künstlichen Mosaik zusammen, das er wieder mit einem feinen melodischen Firnis überzog, um so dem ganzen Gefüge für den äußeren Anblick immer noch den Anschein der absoluten, möglichst selbst von den Textworten loszulösenden, Melodie zu bewahren. Die beabsichtigte Täuschung gelang ihm aber nicht.

Nicht nur Rossini, sondern Weber selbst auch, hatte die absolute Melodie so entschieden zum Hauptinhalt der Oper erhoben, daß diese, aus dem dramatischen Zusammenhange herausgerissen und selbst der Textworte entkleidet, in ihrer nacktesten Gestalt Eigentum des Publikums geworden war. Eine Melodie mußte gegeigt und geblasen, oder auf dem Klaviere gehämmert werden können, ohne dadurch im mindesten etwas von ihrer eigentlichen Essenz zu verlieren, wenn sie eine wirkliche Publikumsmelodie werden wollte. Auch in Webers Opern ging das Publikum nur, um möglichst viele solcher Melodien zu hören, und sehr hatte der Meister sich geirrt, wenn er sich schmeichelte, auch jenes überfirnißte deklamatorische Mosaik von diesem Publikum für Melodie angenommen zu sehen, worauf es grundsätzlich dem Komponisten doch wiederum ankam. Konnte dieses Mosaik in den Augen Webers selbst nur durch den Worttext gerechtfertigt erscheinen, so war auf der einen Seite das Publikum – und zwar hier mit vollem Rechte – durchaus gleichgültig gegen die Textworte; auf der andern Seite aber mußte es sich wieder herausstellen, daß dieser Text doch nicht einmal vollkommen entsprechend in der Musik wiedergegeben war. Grade diese unzeitige, halbe Melodie wandte die Aufmerksamkeit des Zuhörers vom Worttexte ab und der Spannung auf die Bildung einer Melodie zu, die in Wahrheit aber nicht zustande kam – so daß dem Zuhörer das Verlangen nach Darlegung eines dichterischen Gedankens im voraus erstickt, der Genuß einer Melodie aber um so empfindlicher geschmälert wurde, als das Verlangen nach ihr erweckt, nicht aber erfüllt worden war. Außer da, wo in der »Euryanthe« der Tonsetzer nach künstlerischem Ermessen seine volle natürliche Melodie für gerechtfertigt halten durfte, sehen wir in demselben Werke zugleich nur da sein höheres künstlerisches Streben mit wirklichem und schönem Erfolge gekrönt, wo er – der Wahrheit zuliebe – der absoluten Melodie gänzlich entsagt, und – wie in der Anfangsszene des ersten Aktes – durch den edelsten und treuesten musikalischen Ausdruck die gefühlvolle dramatische Rede, als solche, selbst wiedergibt; wo er somit die Absicht seines eigenen künstlerischen Schaffens nicht mehr in die Musik, sondern in die Dichtung setzt, und die Musik nur zur Förderung dieser Absicht verwendet, welche in solcher Fülle und überzeugender Wahrheit wiederum nur durch die Musik zu ermöglichen war.

Die »Euryanthe« ist von der Kritik nicht in dem Maße beachtet worden, als sie es ihres ungemein lehrreichen Inhaltes wegen verdient. Das Publikum sprach sich unentschieden, halb angeregt, halb verstimmt aus: die Kritik, die, im Grunde genommen, immer nur nach der Stimme des Publikums horcht, um – je nach ihrer vorgefaßten Meinung – sich entweder ganz nach ihr und dem äußeren Erfolge zu richten, oder auch sie blindlings zu bekämpfen, hat es nie vermocht, die grundverschiedenen Elemente, die sich in diesem Werke auf das widerspruchsvollste berühren, klar zu sichten und aus dem Streben des Komponisten, sie zu einem harmonischen Ganzen zu vereinigen, seine Erfolglosigkeit zu rechtfertigen. Nie ist aber, solange es Opern gibt, ein Werk verfaßt worden, in welchem die inneren Widersprüche des ganzen Genres von einem gleich begabten, tief empfindenden und wahrheitliebenden Tonsetzer, bei edelstem Streben, das Beste zu erreichen, konsequenter durchgeführt und offener dargelegt worden sind. Diese Widersprüche sind: absolute, ganz für sich allein genügende Melodie, und – durchgehends wahrer dramatischer Ausdruck. Hier mußte notwendig eines geopfert werden – die Melodie oder das Drama. Rossini opferte das Drama; der edle Weber wollte es durch die Kraft seiner sinnigeren Melodie wieder herstellen. Er mußte erfahren, daß dies unmöglich sei. Müde und erschöpft von der qualvollen Mühe seiner »Euryanthe«, versenkte er sich in die weichen Polster eines orientalischen Märchentraumes; durch das Wunderhorn Oberons stieß er seinen letzten Lebenshauch aus.

 

Was dieser edle, liebenswürdige Weber, durchglüht von dem heiligen Glauben an die Allmacht seiner reinen, dem schönsten Volksgeiste abgewonnenen Melodie, erfolglos erstrebt hatte, das unternahm nun ein Jugendfreund Webers, Jakob Meyerbeer, vom Standpunkte der Rossinischen Melodie aus zu bewerkstelligen.

Meyerbeer machte alle Phasen der Entwickelung dieser Melodie mit durch, und zwar nicht aus abstrakter Ferne, sondern in ganz realer Nähe, immer an Ort und Stelle. Als Jude hatte er keine Muttersprache, die mit dem Nerve seines innersten Wesens untrennbar verwachsen gewesen wäre: er sprach mit demselben Interesse in jeder beliebigen modernen Sprache und setzte sie ebenso in Musik, ohne alle andere Sympathie für ihre Eigentümlichkeiten als die für ihre Fähigkeit, der absoluten Musik nach Belieben untergeordnet zu werden. Diese Eigenschaft Meyerbeers hat ihn mit Gluck vergleichen lassen; auch dieser komponierte als Deutscher italienische und französische Operntexte. In der Tat hat Gluck nicht aus dem Instinkte der Sprache (die in solchem Falle immer nur die Muttersprache sein kann), heraus seine Musik geschaffen; worauf es ihm bei seiner Stellung als Musiker zur Sprache ankam, war die Rede, wie sie als Äußerung des Sprachorganismus auf der Oberfläche dieser tausende von Organen schwebt; nicht aus der zeugenden Kraft dieser Organe stieg sein Produktionsvermögen durch die Rede zum musikalischen Ausdruck hinauf, sondern vom losgelösten musikalischen Ausdruck ging er zur Rede erst zurück, nur um diesen Ausdruck in seiner Unbegründetheit irgendwie zu rechtfertigen. So konnte Gluck jede Sprache gleichgültig sein, weil es ihm eben nur auf die Rede ankam: hätte die Musik in dieser transzendenten Richtung durch die Rede auch bis auf den Organismus der Sprache selbst durchdringen können, so hätte sie allerdings sich vollkommen umgestalten müssen. – Ich muß, um den Gang meiner Darstellung hier nicht zu unterbrechen, diesen äußerst wichtigen Gegenstand zu einer gründlichen Erörterung am geeigneten Orte meiner Schrift aufbewahren; für hier genüge es, den Umstand der Beachtung zu empfehlen, daß Gluck es auf die lebendige Rede überhaupt – gleichviel in welcher Sprache – ankam, da er in ihr allein eine Rechtfertigung für die Melodie fand; seit Rossini war diese Rede aber gänzlich durch die absolute Melodie aufgezehrt, nur ihr materiellstes Gerüst diente in Vokalen und Konsonanten als Anhaltestoff des musikalischen Tones. Meyerbeer war durch seine Gleichgültigkeit gegen den Geist jeder Sprache und durch sein hierauf begründetes Vermögen, ihr Äußerliches mit leichter Mühe sich zu eigen zu machen (eine Fähigkeit, die durch unsre moderne Bildung dem Wohlstande überhaupt zugeführt ist), ganz darauf hingewiesen, es nur mit der absoluten, von allem sprachlichen Zusammenhange losgelösten Musik zu tun zu haben. Außerdem war er dadurch fähig, überall an Ort und Stelle den Erscheinungen in dem bezeichneten Entwickelungsgange der Opernmusik zuzusehen: er folgte immer und überallhin seinen Schritten. Beachtenswert ist es vor allem, daß er diesem Gange eben nur folgte, nie aber mit ihm, geschweige denn ihm irgendwie vorausging. Er glich dem Stare, der dem Pflugschare auf dem Felde folgt und aus der soeben aufgewühlten Ackerfurche lustig die an die Luft gesetzten Regenwürmer aufpickt. Nicht eine Richtung ist ihm eigentümlich, sondern jede hat er nur seinem Vorgänger abgelauscht und mit ungeheurer Ostentation ausgebeutet, und zwar mit so erstaunlicher Schnelligkeit, daß der Vormann, dem er lauschte, kaum ein Wort ausgesprochen hatte, als er auch die ganze Phrase auf dieses Wort bereits ausschrie, unbekümmert, ob er den Sinn dieses Wortes richtig verstanden hatte, woher es denn gemeiniglich kam, daß er eigentlich doch immer etwas anderes sagte, als was der Vormann hatte aussprechen wollen; der Lärmen, den die Meyerbeersche Phrase machte, war aber so betäubend, daß der Vormann gar nicht mehr zum Kundgeben des eigentlichen Sinnes seiner Worte kam: mochte er wollen oder nicht, er mußte endlich, um nur auch mitreden zu dürfen, in jene Phrase selbst miteinstimmen.

In Deutschland einzig gelang es Meyerbeer nicht, eine Jugendphrase aufzufinden, die irgendwie auf das Webersche Wort gepaßt hätte: was Weber in melodischer Lebensfülle kundgab, konnte sich in Meyerbeers angelerntem, trockenem Formalismus nicht nachsprechen lassen. Er lauschte, der unergiebigen Mühe überdrüssig, freundes-verräterisch endlich nur noch den Rossinischen Sirenenklängen, und zog in das Land, wo diese Rosinen gewachsen waren. So wurde er zur Wetterfahne des europäischen Opernmusikwetters, die sich immer beim Windwechsel erst eine Zeitlang unschlüssig um und um dreht, bis sie, erst nach dem Feststehen der Windrichtung, auch selbst still haftet. So komponierte Meyerbeer in Italien grade auch nur so lange Opern à la Rossini, bis in Paris der große Wind sich zu drehen anfing und Auber und Rossini mit »Stumme« und »Tell« den neuen Wind bis zum Sturm anbliesen! Wie schnell war Meyerbeer in Paris! Dort aber fand er in dem französisch aufgegriffenen Weber (man denke an »Robin des bois«) und dem verberliozten Beethoven Momente vor, die weder Auber noch Rossini, als ihnen zu fern abliegend, beachtet hatten, die aber Meyerbeer vermöge seiner Allerweltskapazität sehr richtig zu würdigen verstand. Er faßte alles, was sich ihm so darbot, in eine ungeheuer buntgemischte Phrase zusammen, vor deren grellem Aufschrei plötzlich Auber und Rossini nicht mehr gehört wurden: der grimmige Teufel »Robert« holte sie alle miteinander.

– Es hat etwas so tief Betrübendes, beim Überblicke unsrer Operngeschichte nur von den Toten Gutes reden zu können, die Lebenden aber mit schonungsloser Bitterkeit verfolgen zu müssen! – Wollen wir aufrichtig sein, weil wir es müssen, so haben wir zu erkennen, daß nur die abgeschiedenen Meister dieser Kunst die Glorie des Märtyrertumes verdienen, weil, wenn sie in einem Wahne befangen waren, dieser Wahn sich in ihnen so edel und schön zeigte, und sie selbst so ernst und heilig an seine Wahrheit glaubten, daß sie ihr künstlerisches Leben mit schmerzvollem und doch freudigem Opfer für ihn ließen. Kein lebender und schaffender Tonsetzer ringt aus innerem Drange mehr nach solchem Märtyrertume; der Wahn ist soweit aufgedeckt, daß niemand mehr mit starkem Glauben in ihm befangen ist. Ohne Glauben, ja ohne Freude, ist die Opernkunst ihren modernen Meistern zu einem bloßen Artikel für die Spekulation herabgesunken. Selbst das Rossinische wollüstige Lächeln ist jetzt nicht mehr wahrzunehmen; überall nur das Gähnen der Langeweile oder das Grinsen des Wahnsinnes! Fast zieht uns der Anblick des Wahnsinns noch am meisten an; in ihm finden wir doch noch den letzten Atemzug jenes Wahnes, dem einst so edle Opfer entblühten. Nicht jener gaunerischen Seite in der ekelhaften Ausbeutung unsrer Operntheaterzustände wollen wir daher jetzt gedenken, wo wir den letzten lebenden und noch schaffenden Opernkompositionshelden in seinem Wirken uns darstellen müssen: dieser Anblick könnte uns nur mit einem Unwillen erfüllen, in welchem wir vielleicht zu unmenschlicher Härte gegen eine Persönlichkeit hingerissen würden, wenn wir dieser die garstige Verderbtheit von Zuständen allein zur Last legen wollten, die auch diese Persönlichkeit gewiß um so mehr gefangen halten, als sie uns auf der schwindelndsten Spitze derselben, wie mit Krone und Szepter angetan erscheint. Wissen wir nicht, daß Könige und Fürsten, gerade in ihrem willkürlichsten Handeln, jetzt die Allerunfreiesten sind? – Nein, betrachten wir in diesem Opernmusikkönige nur die Züge des Wahnsinnes, durch die er uns bedauernswürdig und abmahnend, nicht aber verachtungswert erscheint! Um der ewigen Kunst willen müssen wir aber die Natur dieses Wahnsinnes genau kennenlernen, weil wir aus seinen Verzerrungen am deutlichsten den Wahn zu erforschen vermögen, der einem Kunstgenre sein Dasein gab, über dessen irrtümliche Grundlage wir klar werden müssen, wenn wir mit gesundem jugendlichen Mute die Kunst selbst wieder verjüngen wollen.

Auch zu dieser Erforschung können wir jetzt in kurzen, raschen Schritten vorwärtsschreiten, da wir dem Wesen nach den Wahnsinn schon dargetan haben, den wir daher jetzt nur noch in einigen kenntlichsten Zügen beobachten dürfen, um über ihn ganz sicher zu sein. –

 

Wir sahen die frivole – d. h. die von jedem wirklichen Zusammenhange mit den dichterischen Textworten abgelöste Opernmelodie, durch Aufnahme der Nationalliedweise geschwängert, bis zum Vorgeben historischer Charakteristik sich anlassen. Wir beobachteten ferner, wie, bei immer mehr schwindender charakteristischer Individualität der handelnden Hauptpersonen des musikalischen Dramas, der Charakter der Handlung den umgebenden – »emanzipierten« – Massen zugeteilt wurde, von denen dieser Charakter als Reflex erst auf die handelnden Hauptpersonen wieder zurückfallen sollte. Wir bemerkten, daß der umgebenden Masse nur durch das historische Kostüm ein unterscheidender, irgend erkennbarer Charakter aufgeprägt werden konnte, und sahen den Komponisten – um seine Suprematie zu behaupten – gedrängt, den Dekorationsmaler und Theaterschneider, denen das Verdienst der Herstellung historischer Charakteristik eigentlich zufiel, durch die ungewöhnlichste Verwendung seiner rein musikalischen Hülfsmittel wiederum auszustechen. Wir sahen endlich, wie dem Komponisten aus der verzweifeltsten Richtung der Instrumentalmusik eine absonderliche Art von Mosaikmelodie zugeführt wurde, welche durch ihre willkürlichsten Zusammensetzungen ihm das Mittel bot, jeden Augenblick – sooft ihn darnach verlangte – fremdartig und seltsam zu erscheinen – ein Verfahren, dem er durch die wunderlichste, auf rein materielles Auffallen berechnete, Verwendung des Orchesters das Gepräge speziellster Charakteristik aufdrücken zu können glaubte.

Wir dürfen nun nicht aus den Augen lassen, daß alles dies am Ende doch ohne Mitwirkung des Dichters unmöglich war, und wenden uns daher nun für einen Augenblick zur Prüfung des modernsten Verhältnisses zwischen Musiker und Dichter.

Die neue Opernrichtung ging durch Rossini entschieden von Italien aus: dort war der Dichter zur völligen Null herabgesunken. Mit der Übersiedelung der Rossinischen Richtung nach Paris änderte sich auch die Stellung des Dichters. Wir bezeichneten bereits die Eigentümlichkeit der französischen Oper, und erkannten, daß der unterhaltende Wortsinn des Couplets der Kern derselben war. In der französischen komischen Oper hatte der Dichter vordem dem Komponisten nur ein bestimmtes Feld angewiesen, das er für sich zu bebauen hatte, während dem Dichter der eigentliche Besitz des Grundstückes verblieb. War nun auch jenes Musikterrain, der Natur der Sache nach, allmählich so angeschwollen, daß es mit der Zeit das ganze Grundstück einnahm, so blieb doch dem Dichter immer noch der Titel des Besitzes, und der Musiker galt als der Lehnsmann, der zwar das ganze Lehn als erbliches Eigentum betrachtete, dennoch aber – wie weiland im römisch-deutschen Reich – dem Kaiser als seinem Lehnherrn huldigte. Der Dichter verlieh und der Musiker genoß. In dieser Stellung ist immer noch das Gesündeste zutage gekommen, was der Oper als dramatischem Genre entsprießen konnte. Der Dichter bemühte sich wirklich, Situationen und Charaktere zu erfinden, ein unterhaltendes und spannendes Stück zu liefern, das er erst bei der Ausführung für den Musiker und dessen Formen zurichtete, so daß die eigentliche Schwäche dieser französischen Operndichtungen mehr darin lag, daß sie ihrem Inhalte nach die Musik meist gar nicht als notwendig bedangen, als darin, daß sie von vornherein vor der Musik verschwommen wären. Auf dem Theater der »Opéra comique« war dieser unterhaltende, oft liebenswürdige und geistvolle Genre heimisch, in welchem gerade dann immer das Beste geleistet wurde, wenn die Musik mit ungezwungener Natürlichkeit in die Dichtung eintreten konnte. – Diesen Genre übersetzten nun Scribe und Auber in die pomphaftere Sprache der sogenannten »großen Oper«. In der »Stummen von Portici« können wir noch deutlich ein gut angelegtes Theaterstück erkennen, in welchem noch nirgends mit auffallender Absichtlichkeit das dramatische Interesse einem rein musikalischen untergeordnet ist: nur ist in dieser Dichtung die dramatische Handlung bereits sehr wesentlich in die Beteiligung der umgebenden Massen verlegt, so daß die Hauptpersonen fast mehr nur redende Repräsentanten der Masse als wirkliche, aus individueller Notwendigkeit handelnde Personen abgeben. So schlaff ließ bereits der Dichter, vor dem imponierenden Chaos der großen Oper angelangt, den Pferden des Opernwagens die Zügel schießen, bis er diese Zügel bald ganz aus der Hand verlieren sollte! Hatte dieser Dichter in der »Stummen« und im »Tell« die Zügel noch in der Hand, weil weder Auber noch Rossini etwas anderes beikam, als in der prächtigen Opernkutsche es sich eben recht musikalisch bequem und melodiös behaglich zu machen – unbekümmert darum, wie und wohin der wohlgeübte Kutscher den Wagen lenkte – so trieb es nun aber Meyerbeer, dem jenes üppige melodische Behagen nicht zu eigen war, dem Kutscher selbst in die Zügel zu fallen, um durch das Zickzack der Fahrt das nötige Aufsehen zu erregen, das ihm nicht auf sich zu ziehen gelingen wollte, sobald er mit nichts anderem als seiner musikalischen Persönlichkeit allein in der Kutsche saß. –

Nur in einzelnen Anekdoten ist es uns zu Ohren gekommen, mit welch peinigender Quälerei Meyerbeer auf seinen Dichter, Scribe, beim Entwurfe seiner Opernsujets einwirkte. Wollten wir aber diese Anekdoten auch nicht beachten, und wüßten wir gar nichts von dem Geheimnisse der Opernberatungen zwischen Scribe und Meyerbeer, so müßten wir doch an den zustandegekommenen Dichtungen selbst klar sehen, welcher belästigende und verwirrende Zwang auf den sonst so schnell fertigen, so leicht, geschickt und verständlich arbeitenden Scribe gedrückt haben muß, als er die bombastisch barocken Texte für Meyerbeer zusammensetzte. Während Scribe fortfuhr, für andere Opernkomponisten leicht fließende, oft interessant entworfene, jedenfalls mit vielem natürlichen Geschick ausgeführte, dramatische Dichtungen zu verfassen, die mindestens immer eine bestimmte Handlung zum Grunde hatten, und dieser Handlung entsprechende, leicht verständliche Situationen enthielten – verfertigte derselbe ungemein routinierte Dichter für Meyerbeer den ungesundesten Schwulst, den verkrüppeltsten Galimathias, Aktionen ohne Handlung, Situationen von der unsinnigsten Verwirrung, Charaktere von der lächerlichsten Fratzenhaftigkeit. Dies konnte nicht mit natürlichen Dingen zugehen: so leicht gibt sich ein nüchterner Verstand wie der Scribes nicht zu Experimenten der Verrücktheit her. Scribe mußte selbst erst verdreht gemacht werden, ehe er einen »Robert der Teufel« zutage förderte; er mußte erst allen gesunden Sinnes für dramatische Handlung beraubt werden, ehe er in den »Hugenotten« sich zum bloßen Kompilator dekorativer Nuancen und Kontraste hergab; er mußte gewaltsam in die Mysterien historischer Spitzbubenschaft eingeweiht werden, ehe er sich zu einem »Propheten« der Gauner bestimmen ließ. –

Wir erkennen hier einen ähnlichen bestimmenden Einfluß des Komponisten auf den Dichter, wie ihn Weber bei seiner »Euryanthe« auf deren Dichterin ausübte: aber aus welch grundverschiedenen Motiven! Weber wollte ein Drama hergestellt haben, das überall, mit jeder szenischen Nuance in seine edle, seelenvolle Melodie aufzugehen vermochte – Meyerbeer wollte dagegen ein ungeheuer buntscheckiges, historisch-romantisches, teuflisch-religiöses, bigott-wollüstiges, frivol-heiliges, geheimnisvoll-freches, sentimental-gaunerisches, dramatisches Allerlei haben, um an ihm erst Stoff zum Auffinden einer ungeheuer kuriosen Musik zu gewinnen – was ihm wegen des unbesieglichen Leders seines eigentlichen musikalischen Naturelles wiederum nie wirklich recht gelingen wollte. Er fühlte, daß aus all dem aufgespeicherten Vorrate musikalischer Effektmittel etwas noch gar nicht Dagewesenes zustande zu bringen war, wenn er aus allen Winkeln zusammengekehrt, auf einen Haufen in krauser Verwirrung geschichtet, mit theatralischem Pulver und Kolophonium versetzt, und nun mit ungeheurem Knall in die Luft gesprengt würde. Was er daher von seinem Dichter verlangte, war gewissermaßen eine Inszenesetzung des Berliozschen Orchesters, nur – wohlgemerkt! – mit demütigendster Herabstimmung desselben zur seichten Basis Rossinischer Gesangstriller und Fermaten – der »dramatischen« Oper wegen. Alle vorrätigen musikalischen Wirkungselemente durch das Drama etwa zu einem harmonischen Einklange zu bringen hätte ihm für seine Absicht höchst fehlerhaft erscheinen müssen; denn Meyerbeer war kein idealistischer Schwärmer, sondern mit klugem, praktischem Blicke auf das moderne Opernpublikum übersah er, daß er durch harmonischen Einklang niemand für sich gewonnen haben würde, dagegen durch ein zerstreutes Allerlei eben auch alle befriedigen müßte, nämlich jeden auf seine Weise. Nichts war ihm daher wichtiger als wirre Buntheit und buntes Durcheinander, und der lustige Scribe mußte blutschwitzend ihm den dramatischen Wirrwarr auf das Allerberechnetste zusammenstellen, vor dem nun der Musiker mit kaltblütiger Sorge stand, ruhig überlegend, auf welches Stück Unnatur irgendein Fetzen aus seiner musikalischen Vorratskammer so auffallend und schreiend wie möglich passen dürfte, um ganz ungemein seltsam und daher – »charakteristisch« – zu erscheinen.

So entwickelte er in den Augen unserer Kunstkritik das Vermögen der Musik zu historischer Charakteristik, und brachte es bis dahin, daß ihm als feinste Schmeichelei gesagt wurde, die Texte seiner Opern seien sehr schlecht und erbärmlich, aber was verstünde dagegen seine Musik aus diesem elenden Zeuge zu machen! – So war der vollste Triumph der Musik erreicht: der Komponist hatte den Dichter in Grund und Boden ruiniert, und auf den Trümmern der Operndichtkunst ward der Musiker als eigentlicher wirklicher Dichter gekrönt! –

 

Das Geheimnis der Meyerbeerschen Opernmusik ist – der Effekt. Wollen wir uns erklären, was wir unter diesem »Effekte« zu verstehen haben, so ist es wichtig, zu beachten, daß wir uns gemeinhin des näherliegenden Wortes »Wirkung« hierbei nicht bedienen. Unser natürliches Gefühl stellt sich den Begriff »Wirkung« immer nur im Zusammenhange mit der vorhergehenden Ursache vor: wo wir nun, wie im vorliegenden Falle, unwillkürlich zweifelhaft darüber sind, ob ein solcher Zusammenhang bestehe, oder wenn wir sogar darüber belehrt sind, daß ein solcher Zusammenhang gar nicht vorhanden sei, so sehen wir in der Verlegenheit uns nach einem Worte um, das den Eindruck, den wir z. B. von Meyerbeerschen Musikstücken erhalten zu haben vermeinen, doch irgendwie bezeichne, und so wenden wir ein ausländisches, unserem natürlichen Gefühle nicht unmittelbar nahestehendes Wort, wie eben dieses »Effekt«, an. Wollen wir daher genau das bezeichnen, was wir unter diesem Worte verstehen, so dürfen wir »Effekt« übersetzen durch »Wirkung ohne Ursache«.

In der Tat bringt die Meyerbeersche Musik auf diejenigen, die sich an ihr zu erbauen vermögen, eine Wirkung ohne Ursache hervor. Dies Wunder war nur der äußersten Musik möglich, d. h. einem Ausdrucksvermögen, das sich (in der Oper) von jeher von allem Ausdruckswerten immer unabhängiger zu machen suchte, und seine vollständig erreichte Unabhängigkeit von ihm dadurch kundgab, daß es den Gegenstand des Ausdruckes, der diesem Ausdrucke allein Dasein, Maß und Rechtfertigung geben sollte, zu sittlicher wie künstlerischer Nichtigkeit in dem Grade herabdrückte, daß er nun Dasein, Maß und Rechtfertigung allein erst aus einem Akte musikalischen Beliebens gewinnen konnte, der somit selbst alles wirklichen Ausdruckes bar geworden war. Dieser Akt selbst konnte aber wiederum nur in Verbindung mit anderen Momenten absoluter Wirkung ermöglicht werden. In der extremsten Instrumentalmusik war an die rechtfertigende Kraft der Phantasie appelliert, welcher durch ein Programm oder auch nur durch einen Titel ein Stoff zum außermusikalischen Anhalt gegeben wurde: in der Oper aber sollte dieser Anhaltestoff verwirklicht, d. h. der Phantasie jede peinliche Mühe erspart werden. Was dort aus Momenten des natürlichen oder menschlichen Erscheinungslebens programmatisch herbeigezogen war, sollte hier in materiellster Realität wirklich vorgeführt werden, um eine phantastische Wirkung so ohne alle Mitwirkung der Phantasie selbst hervorzubringen. Diesen materiellen Anhaltestoff entnahm der Komponist nun der szenischen Mechanik selbst, indem er die Wirkungen, die sie hervorzubringen vermochte, ebenfalls rein für sich nahm, d. h. sie von dem Gegenstande loslöste, der, außerhalb des Gebietes der Mechanik, auf dem Boden der lebendarstellenden Dichtkunst stehend, sie hätte bedingen und rechtfertigen können. – Machen wir uns an einem Beispiele, welches die Meyerbeersche Kunst überhaupt auf das erschöpfendste charakterisiert, hierüber vollkommen klar.

Nehmen wir an, ein Dichter sei von einem Helden begeistert, von einem Streiter für Licht und Freiheit, in dessen Brust eine mächtige Liebe für seine entwürdigten und in ihren heiligsten Rechten gekränkten Brüder flamme. Er will diesen Helden darstellen auf dem Höhepunkte seiner Laufbahn, mitten im Lichte seiner tatenvollen Glorie, und wählt hierzu folgenden entscheidenden Geschichtsmoment. Mit den Volksscharen, die seinem begeisternden Rufe gefolgt sind, die Haus und Hof, Weib und Kind verließen, um im Kampfe gegen mächtige Unterdrücker zu siegen oder zu sterben, ist der Held vor einer festen Stadt angelangt, die von den kriegsungeübten Haufen in blutigem Sturme erobert werden muß, wenn das Befreiungswerk einen siegreichen Fortgang haben soll. Durch vorangegangene Unfälle ist Entmutigung eingetreten; schlechte Leidenschaften, Zwiespalt und Verwirrung wüten im Heere: Alles ist verloren, wenn heute nicht noch alles gewonnen ist. Das ist die Lage, in der Helden zu ihrer vollsten Größe wachsen. Der Dichter läßt den Helden, der sich so eben in nächtlicher Einsamkeit mit dem Gotte in sich, dem Geiste reinster Menschenliebe, beraten und durch seinen Hauch sich geweiht hat, im Grauen der Morgendämmerung heraustreten unter die Scharen, die bereits uneinig unter sich geworden sind, ob sie feige Bestien oder göttliche Helden sein sollen. Auf seine mächtige Stimme sammelt sich das Volk, und diese Stimme dringt bis auf das innerste Mark der Menschen, die jetzt des Gottes in sich auch innewerden: sie fühlen sich gehoben und veredelt, und ihre Begeisterung hebt der Held wieder höher empor, denn aus der Begeisterung drängt er nun zur Tat. Er ergreift die Fahne und schwingt sie hoch nach den furchtbaren Mauern dieser Stadt hin, dem festen Walle der Feinde, die, solange sie hinter Wällen sicher sind, eine bessere Zukunft der Menschen unmöglich machen. »Auf denn! Sterben oder Siegen! Diese Stadt muß unser sein!« – Der Dichter hat sich jetzt erschöpft: er will auf der Bühne den einen Augenblick nun ausgedrückt sehen, wo plötzlich die hocherregte Stimmung wie in überzeugendster Wirklichkeit vor uns hintritt; die Szene muß uns zum Weltschauplatze werden, die Natur muß sich im Bunde mit unserem Hochgefühle erklären, sie darf uns nicht mehr eine kalte, zufällige Umgebung bleiben. Siehe da! die heilige Not drängt den Dichter: – er zerteilt die Morgennebel, und auf sein Geheiß steigt leuchtend die Sonne über die Stadt herauf, die nun dem Siege der Begeisterten geweiht ist.

Hier ist die Blüte der allmächtigen Kunst, und diese Wunder schafft nur die dramatische Kunst.

Allein nach solchem Wunder, das nur der Begeisterung des dramatischen Dichters entblühen und durch eine liebevoll aus dem Leben selbst aufgenommene Erscheinung ihm ermöglicht werden kann, verlangt es den Opernkomponisten nicht: er will die Wirkung, nicht aber die Ursache, die eben nicht in seiner Macht liegt. In einer Hauptszene des »Propheten« von Meyerbeer, die im Äußerlichen der soeben geschilderten gleich ist, erhalten wir die rein sinnliche Wirkung einer dem Volksgesange abgelauschten, zu rauschender Fülle gesteigerten, hymnenartigen Melodie für das Ohr, und für das Auge die einer Sonne, in der wir ganz und gar nichts anderes als ein Meisterstück der Mechanik zu erkennen haben. Der Gegenstand, der von jener Melodie nur erwärmt, von dieser Sonne nur beschienen werden sollte, der hochbegeisterte Held, der sich aus innerster Entzückung in jene Melodie ergießen mußte und nach dem Gebote der drängenden Notwendigkeit seiner Situation das Erscheinen dieser Sonne hervorrief – der rechtfertigende, bedingende Kern der ganzen üppigen dramatischen Frucht – ist gar nicht vorhanden;Mir kann entgegnet werden: »Deinen glorreichen Volkshelden haben wir nicht gewollt; der ist überhaupt nur eine nachträgliche Ausgeburt deiner revolutionären Privatphantasie: dagegen haben wir einen unglücklichen jungen Menschen darstellen wollen, der, durch üble Erfahrungen verbittert und von betrügerischen Volksaufwieglern verführt, sich zu Verbrechen hinreißen läßt, die er später durch eine aufrichtige Reue wieder sühnt.« Ich frage nun nach der Bedeutung des Sonneneffektes, und man könnte mir noch antworten: »Das ist ganz nach der Natur gezeichnet; warum soll nicht frühmorgens die Sonne aufgehen?« Das wäre nun zwar eine sehr praktische Entschuldigung für einen unwillkürlichen Sonnenaufgang; dennoch aber müßte ich darauf beharren, euch wäre diese Sonne nicht so unversehens eingefallen, wenn euch eine Situation, wie die vorhin von mir angedeutete, doch in Wahrheit nicht vorgeschwebt hätte: die Situation selbst behagte euch allerdings nicht, wohl aber beabsichtigtet ihr ihre Wirkung. statt seiner fungiert ein. charakteristisch kostümierter Tenorsänger, dem Meyerbeer durch seinen dichterischen Privatsekretär, Scribe, aufgegeben hat, so schön wie möglich zu singen und dabei etwas kommunistisch zu gebaren, damit die Leute zugleich auch etwas Pikantes zu denken hätten. Der Held, von dem wir vorhin sprachen, ist ein armer Teufel, der aus Schwachheit die Rolle eines Betrügers übernommen hat und schließlich auf das kläglichste – nicht etwa einen Irrtum, eine fanatische Verblendung, der zur Not noch eine Sonne hätte scheinen können, sondern – seine Schwäche und Lügenhaftigkeit bereut.

Welche Rücksichten zusammengewirkt haben, um solch unwürdigen Gegenstand unter dem Titel eines »Propheten« zur Welt zu fördern, wollen wir hier ununtersucht lassen; es genüge uns, das Ergebnis zu betrachten, das wahrlich lehrreich genug ist. Zunächst ersehen wir in diesem Beispiele die vollkommene sittliche und künstlerische Verunehrlichung des Dichters, an dem, wer es mit dem Komponisten am besten meint, kein gutes Haar mehr finden darf: also – die dichterische Absicht soll uns nicht im mindesten mehr einnehmen, im Gegenteil, sie soll uns anwidern. Der Darsteller soll uns ganz nur noch als kostümierter Sänger interessieren, und dies kann er in der genannten Szene nur durch das Singen jener bezeichneten Melodie, die demnach ganz für sich – als Melodie – Wirkung macht. Die Sonne kann und soll daher ebenfalls nur ganz für sich wirken, nämlich als auf dem Theater ermöglichte Nachahmung der wirklichen Sonne: der Grund ihrer Wirkung fällt somit nicht in das Drama, sondern in die reine Mechanik zurück, die im Momente der Erscheinung der Sonne einzig zu denken gibt: denn wie würde der Komponist erschrecken, wollte man diese Erscheinung etwa gar als eine beabsichtigte Verklärung des Helden, als Streiters für die Menschheit, auffassen! Im Gegenteil, ihm und seinem Publikum muß alles daran liegen, von solchen Gedanken abzulenken und alle Aufmerksamkeit allein auf das Meisterstück der Mechanik selbst hinzuweisen. So ist in dieser einzigen, von dem Publikum so gefeierten Szene, alle Kunst in ihre mechanischen Bestandteile aufgelöst: die Äußerlichkeiten der Kunst sind zu ihrem Wesen gemacht; und als dieses Wesen erkennen wir – den Effekt, den absoluten Effekt, d. h. den Reiz eines künstlich entlockten Liebeskitzels, ohne die Tätigkeit eines wirklichen Liebesgenusses.

 

Ich habe mir nicht vorgenommen, eine Kritik der Meyerbeerschen Opern zu geben, sondern an ihnen nur das Wesen der modernsten Oper, in ihrem Zusammenhange mit dem ganzen Genre überhaupt, darzustellen. War ich durch die Natur des Gegenstandes gezwungen, meiner Darstellung oft den Charakter einer historischen zu geben, so durfte ich mich dennoch nicht verleitet fühlen, dem eigentlichen historischen Detaillieren mich hinzugeben. Hätte ich im Besonderen die Fähigkeit und den Beruf Meyerbeers zur dramatischen Komposition zu charakterisieren, so würde ich zur Feier der Wahrheit, die ich vollständig aufzudecken mich bemühe, eine merkwürdige Erscheinung in seinen Werken am stärksten hervorheben. – In der Meyerbeerschen Musik gibt sich eine so erschreckende Hohlheit, Seichtigkeit und künstlerische Nichtigkeit kund, daß wir seine spezifisch musikalische Befähigung – namentlich auch zusammengehalten mit der der bei weitem größeren Mehrzahl seiner komponierenden Zeitgenossen – vollkommen auf Null zu setzen versucht sind. Nicht, daß er dennoch zu so großen Erfolgen vor dem Opernpublikum Europas gelangt ist, soll uns hier aber mit Verwunderung erfüllen, denn dies Wunder erklärt sich durch einen Hinblick auf dieses Publikum sehr leicht – sondern eine rein künstlerische Beobachtung soll uns fesseln und belehren. Wir beobachten nämlich, daß bei der ausgesprochensten Unfähigkeit des berühmten Komponisten, aus eigenem musikalischen Vermögen das geringste künstlerische Lebenszeichen von sich zu geben, er nichtsdestoweniger an einigen Stellen seiner Opernmusik sich zu der Höhe des allerunbestreitbarsten, größten künstlerischen Vermögens erhebt. Diese Stellen sind Erzeugnisse wirklicher Begeisterung, und prüfen wir näher, so erkennen wir auch, woher diese Begeisterung angeregt war – nämlich aus der wirklich dichterischen Situation. Da, wo der Dichter seiner zwingenden Rücksicht für den Musiker vergaß, wo er bei seinem dramatisch kompilatorischen Verfahren unwillkürlich auf einen Moment getroffen war, in dem er die freie, erfrischende menschliche Lebensluft einatmen und wieder aushauchen durfte – führt er plötzlich auch dem Musiker diesen Atemzug als begeisternden Hauch zu, und der Komponist, der bei Erschöpfung alles Vermögens seiner musikalischen Vorgängerschaft nicht einen einzigen Zug wirklicher Erfindung von sich geben konnte, vermag jetzt mit einem Male den reichsten, edelsten und seelenergreifendsten musikalischen Ausdruck zu finden. Ich erinnere hier namentlich an einzelne Züge in der bekannten schmerzlichen Liebesszene des vierten Aktes der »Hugenotten«, und vor allem an die Erfindung der wunderbar ergreifenden Melodie in Ges-Dur, der, wie sie als duftigste Blüte einer alle Fasern des menschlichen Herzens mit wonnigem Schmerze ergeifenden Situation entsproßt ist, nur sehr weniges, und gewiß nur das Vollendetste aus Werken der Musik an die Seite gestellt werden kann. Ich hebe dies mit aufrichtigster Freude und in wahrer Begeisterung hervor, weil gerade in dieser Erscheinung das wirkliche Wesen der Kunst auf eine so klare und unwiderlegliche Weise dargetan wird, daß wir mit Entzücken ersehen müssen, wie die Fähigkeit zu wahrhaftem Kunstschaffen auch dem allerverdorbensten Musikmacher ankommen muß, sobald er das Gebiet einer Notwendigkeit betritt, die stärker ist als seine eigensüchtige Willkür, und sein verkehrtes Streben plötzlich zu seinem eigenen Heile in die wahre Bahn echter Kunst lenkt.

Aber daß hier eben nur einzelner Züge zu erwähnen ist, nicht aber eines einzigen ganzen, großen Zuges, nicht z. B. der ganzen Liebesszene, deren ich gedachte, sondern nur vereinzelter Momente in ihr, das zwingt uns vor allem nur über die grausame Natur jenes Wahnsinnes nachzudenken, der die Entwickelung der edelsten Fähigkeiten des Musikers im Keime erstickt, und seiner Muse das fade Lächeln einer widerlichen Gefallsucht oder das verzerrte Grinsen einer verrückten Herrschwut aufprägt. Dieser Wahnsinn ist der Eifer des Musikers, alles das für sich und aus seinem Vermögen bestreiten zu wollen, was er in sich und seinem Vermögen gar nicht besitzt, und an dessen gemeinsamer Herstellung er nur teilnehmen kann, wenn es ihm aus dem eigentümlichen Vermögen eines anderen zugeführt wird. Bei diesem unnatürlichen Eifer, mit dem der Musiker seine Eitelkeit befriedigen, nämlich sein Vermögen in dem glänzenden Lichte eines unermeßlichen Könnens darstellen wollte, hat er dieses Vermögen, das in Wahrheit ein überaus reiches ist, bis zu der bettelhaften Armut herabgebracht, in der uns jetzt die Meyerbeersche Opernmusik erscheint. Im eigensüchtigen Streben, ihre engen Formen als alleingültige dem Drama aufzudringen, hat diese Opernmusik die ärmliche und belästigende Steifheit und Unergiebigkeit jener Formen bis zur Unerträglichkeit herausgestellt. In der Sucht, reich und mannigfaltig zu erscheinen, ist sie als musikalische Kunst zur vollsten geistigen Dürftigkeit herabgesunken, und zum Borgen von der materiellsten Mechanik hingedrängt worden. In dem egoistischen Vorgeben erschöpfender dramatischer Charakteristik durch bloß musikalische Mittel hat sie aber vollends alles natürliche Ausdrucksvermögen verloren und sich dafür zur fratzenhaften Possenreißerin herabgewürdigt. –

Sagte ich nun zu Anfang, der Irrtum im Kunstgenre der Oper habe darin bestanden, »daß ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdrucks (das Drama) aber zum Mittel gemacht war« – so müssen wir nun den Kern des Wahnes und endlich des Wahnsinnes, der den Kunstgenre der Oper in seiner vollsten Unnatürlichkeit, bis zur Lächerlichkeit dargetan hat, dahin bezeichnen,

daß jenes Mittel des Ausdruckes aus sich die Absicht des Dramas bedingen wollte.


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