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Achtes Kapitel

Schon eine halbe Stunde vor der bestimmten Abendzeit stand Emil an der Ecke im Ausgang einer kleinen Passage. Sein Fiaker hielt in Sichtweite auf dem Boulevard; sein Auge war unverwandt auf die Ecke gerichtet, um welche die beiden Mädchen biegen mußten, und mißtrauisch schaute er jeden Fiaker an, der sich an der Ecke vorbeibewegte.

Endlich hielt ein solcher ihm gegenüber. Es war bereits halbdunkel; aber gleichviel, mochten die Mädchen sich vermummt haben, an ihrer Haltung, an der Art und Weise, in welcher sie den Fiaker bestiegen, mußte er sie erkennen.

So verstrich die halbe Stunde ihm in bangster Ungeduld. Den Filzhut über die Stirn gedrückt, in den Sonntagsstaat eines flotten Ouvriers gekleidet, machte er mit seinem schwarzen Krauskopf, den lebhaften Augen und dem keck aufgewirbelten Schnurrbärtchen den Eindruck eines Pariser Arbeiters comme il faut. Wenn Georgette ihn so gesehen hätte, sie würde überrascht die Händchen zusammengeschlagen haben.

Die Leute liefen geschäftig hin und her an ihm vorüber, auf dem hell erleuchteten Boulevard bewegte sich wie ein Strom die plaudernde und an den Schaufenstern gaffende Menge hin. Emil sah nur den Fiaker und stand zum Sprung in den seinigen bereit. Einem anderen Fiaker zu folgen, ihn im größten Gedränge der Wagen nicht aus den Augen zu verlieren, darin besitzen die Pariser Kutscher eine auf tägliche Übung begründete Geschicklichkeit, und der seinige war instruiert. Wenn nur die unentschlossene Lydia nicht in der letzten Minute noch anderen Sinnes geworden war, so mußte alles gelingen. Was, das wußte er freilich selber noch nicht genau. Aber den Mädchen sich heute nähern, irgendeine Gelegenheit finden, um an sie zu kommen, das war sein Plan. Marklands Töchterlein sollte ihr Abenteuer heute mit seiner Bekanntschaft bezahlen.

»Schon neun!« Emil schaute nach seiner Uhr. In demselben Moment sah er zwei Mädchen, in schlichte, dunkle Kleider gehüllt, ein blaues Fichu um den Hals, ein einfaches, bescheidenes Hütchen mit zwei Röschen auf dem Kopf, ohne Schal oder Mantel, um die Ecke huschen und auf den Fiaker zuspringen. Jeder Vorübergehende mußte sie für Arbeiterinnen irgendeines Weißwarengeschäfts, einer Blumenfabrik halten, und keiner der an ihnen Vorübergehenden nahm Notiz von ihnen.

Davon jagte der Fiaker mit ihnen in die nahe Rue Choiseul hinein und hinter diesem drein folgte sofort ein anderer, der an der nächsten Ecke schon den Vorsprung des ersteren eingeholt hatte.

* * *

Wer Paris damals in der Glanzzeit seines Leichtsinns gesehen, kennt die abenteuerlichen Zentralpunkte aller Lebenslustigen, die aus allen Ständen in den Salons des Kasinos, in der Salle Valentino, in den Zaubergärten von Mabille und der Closeries de Lilas, in der Salle Markowski und zahllosen weniger gesuchten Barrieren-Bällen zusammenströmten. Der Fremde, der sie sehen muß, um das tanzende Paris kennen zu lernen, begegnet dort nicht selten den gekrönten Herren seines Vaterlandes, den Prinzen und Ministern, die alle dieselbe Neugier dorthin zu treiben pflegt.

Einzelne von ihnen sind große, geschlossene Räume, und diese werden nur im Winter besucht, andere bieten neben ihren Sälen im Lichte Tausender von Flammen schwimmende Gärten, offene Tanztennen, wie von Mabille, und ihre Hauptaufgabe ist es, die flottesten Tänzerinnen an ihre Lokale zu fesseln, die dann natürlich eine große Popularität genießen. Für wenige Franken öffnen sich jedem die Zaubergärten. Das Orchester spielt natürlich Offenbach und Hervé, neuerdings » Mille Angot« u. a.; die Quadrille tobt in dem Feuermeer wie ein hundertbeiniges Ungeheuer, aber mit ernster, überwachender Miene steht die Obrigkeit, der Sergeant, dabei, um den Anstand zu bewahren, denn die Quadrille ist der Cancan, und keine der ersten Tänzerinnen der großen Oper, die Hunderttausende an Gage bezieht, unterwürfe sich aus Pflicht oder Ehrgeiz einer so schweißtriefenden Arbeit, wie sich ihr diese Josephinen, dieses Zoës, diese Florenzen und wie sie alle heißen, aus Leidenschaft unterwerfen, während ihre Tänzer, meist dem Arbeiterstande angehörig, in den unglaublichsten Gliederverrenkungen den Kautschukmann oder Bajazzo spielen.

Wir finden Emil wieder vor dem Garten der »Closeries«, dem einstigen Schauplatz jener Studentenbälle, zu welchen die Grisette mit ihrem bescheidenen weißen Häubchen ihren Studenten begleitete, als es noch Grisetten gab, als diese noch die treue Gefährtin des Studenten war, um danach eine solide Arbeiterfrau zu werden, während er ein berühmter Arzt, Advokat, Generalprokurator oder gar Minister ward.

Es war Emils erstes, als er den ihm wohlbekannten Garten mit den lauschigen Holunderlauben betrat, unbekümmert um die vor ihm durch die halbdunklen Laubgänge ziemlich couragiert dahinschreitenden Mädchen, seinen Mann mit der rotblauen Krawatte aufzusuchen, der ihm sehr lästig werden konnte.

Sein Suchen führte ihn an eine um den Tisch sitzende Arbeitergruppe, ziemlich rohe Patrone, mit den Absinthgläsern vor sich. Der eine von ihnen war sein Mann, und der erhob sich eben vom Tisch.

»Ah, da sind Sie ja, Monsieur Robert!« rief Emil, auf den Arbeiter zutretend, der sich eben, den Salon überschauend, an eine der das Dach des Tanzsalons tragenden Streben lehnte, und dessen gemeines, aufgedunsenes, rotes Gesicht ihm verriet, daß er den geistigen Getränken nicht abhold.

Die Quadrille entwickelte sich eben hinter beiden, das Orchester hatte intoniert, und Hunderte von ungeduldigen Füßchen reihten sich in der Länge des Salons. Emil warf besorgt einen Blick nach rechts und links; er sah die Mädchen auf dem anderen Ende des Salons schüchtern hereintreten, um dem Tanz zuzusehen.

Der Arbeiter schaute ihn fragend und befremdet an. Er erinnerte sich nicht, den jungen Mann zu kennen.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie anrede«, fuhr Emil fort. »Sie kennen Mademoiselle Julie im Hause des Herrn Markland?«

Der Arbeiter, an den Pfeiler gelehnt, kreuzte die Arme auf der Brust und antwortete herausfordernd: » Pardieu!«

»Gut!« fuhr Emil mit Sicherheit fort. »Ich arbeitete heute in jenem Hause, und da M'mselle Julie hörte, daß ich heut abend hierher gehen werde, beauftragte sie mich, Ihnen, den ich an Ihrer Krawatte erkennen würde, zu sagen, die beiden Damen würden nicht kommen, M'mselle Julie erwarte Sie deshalb heut abend in dem bewußten Café.«

»Ich dank' Ihnen, mein Herr!« sagte er trocken und trat in den Garten hinaus, überlegend, daß er die Zeit bis zu dem Rendezvous mit seiner Julie viel besser in einem Kabarett verbringen könne.

Emil schaute ihm triumphierend nach. »Den wäre ich los!« dachte er, und hinter einen der Gartenpfeiler tretend, zog auch er ein rotblaues Tuch heraus, wand es an Stelle seiner Krawatte lose um den Hals, schlug eine geniale Schleife und trat siegesgewiß in den Salon zurück.

Das Orchester und die Quadrille tobten durch den Saal, im Garten schwärmten sie paarweise zwischen den Bosketts oder saßen in den traulichen Holunderlauben. Es herrschte der übermütigste Frohsinn, und immer strömten noch die Gäste herzu.

Als die Quadrille zu Ende war und sich die Reihen der Tanzenden zu einem dichten, beweglichen Knäuel zusammendrängten, ward's ihm bange. Er machte sich Platz zwischen der Menge; er suchte mit fiebernder Ungeduld und erkannte endlich die beiden Mädchen, die, sich schüchtern an eine Säule drängend, vergeblich einigen Fremden zu entkommen suchten, von denen sie mit Galanterien belästigt wurden.

Kein Wunder! Zwei so feine, liebliche Gesichter, zwei so graziöse Gestalten, wenn auch beschattet von dem Hütchen, in der anspruchslosesten, fast ärmlichen Kleidung, mußten von den abenteuersüchtigen Gästen entdeckt werden. Beide, in großer Verlegenheit sich Arm in Arm stützend und einander drängend, suchten vergeblich den Weg in den Garten, der ihnen so zudringlich verstellt wurde.

Emil trat entschlossen heran, schob höflich einen der Herren beiseite und lüftete den Hut vor den Mädchen. Er sah, wie Eveline freudig überrascht ihrer Gefährtin etwas zuflüsterte, wie sie sich dann zu ihm wandte und mit flehendem Blick ihm mit englischem Akzent zurief: »Ah, Sie sind's Monsieur Robert! Wir suchten Sie vergeblich! Welch ein Glück! ...«

Ein Blick auf Lydia verriet ihm, daß die Ärmste zitterte wie Espenlaub. Sie war bleich, sie bereute wahrscheinlich schon hundertfach, von Eveline in ein Abenteuer verwickelt worden zu sein, das diese, auf die sie sich verlassen, mit lange nicht der Geistesgegenwart beherrschte, die sie sich selbst zugetraut haben mochte.

»O, Sie sind's, Julie hat also Wort gehalten!« zitterte es auch über Lydias bleiche Lippen, und von ihrer Angst getrieben, ließ sie der Freundin Arm, sprang auf Emil zu, hängte sich in den seinigen und riß ihn mit sich in den offenen Garten.

Emil, überglücklich, fühlte, wie das Herz des geängsteten Mädchens an seinem Arm klopfte. Er selbst verlor in diesem großen Moment die Besinnung; es war ihm, als werde er von Houris ins Paradies getragen, als er plötzlich auch der kräftigeren Eveline Arm in dem seinigen hängen sah oder vielmehr fühlte; er war trunken, als beide Mädchen mit so kindlichem Vertrauen zu ihm aufschauten, als beide seinen Arm preßten, um ihn fortzuziehen, und ohne zu wissen, wie er die Gruppe der Zudringlichen durchbrach, befand er sich in dem schattigen Garten.

Das eigene Herz pochte ihm so heftig, daß er kaum ein Wort herauszubringen vermochte.

»Ich bitte Sie, sich zu beruhigen! Sie sind sicher an meiner Seite; es soll Ihnen nichts widerfahren!« wandte er sich an Lydia, und wie sie eben an einer der Lauben vorüberschritten, wie der Lichtschein aus derselben auf das Antlitz des Mädchens fiel, sah er, wie Lydia mit kindlichem Dank ihm ins Auge blickte, wie sie dabei aber plötzlich ein leichtes Erschrecken überfiel, wie sie das Auge betroffen niederschlug – ein Benehmen, das er sich nicht zum Nachteil zu deuten geneigt.

Offenbar hatten die beiden Mädchen nur die rotblaue Schleife beachtet, als er zu ihnen rettend herantrat; sie hatten ohne Frage nur diese mit ihrem Vertrauen beehrt, in ihrer Herzensangst keine Zeit gehabt, ihm ins Gesicht zu sehen, und jetzt erkannte Lydia, daß sie vertraulich Arm in Arm mit einem jungen Manne gehe, der ein Paar funkelnde schwarze Augen im Kopf, der ein kokettes Schnurrbärtchen trug und dessen Haltung so gentil, ja so ritterlich, daß sie seinem Arbeiterstande alle Ehre machte.

Emil fühlte, wie Lydias Arm in dem seinigen zitterte, als sie die Augen niederschlug. Dieselbe Bewegung aber fühlte er auch auf seinem anderen Arm, denn auch Eveline hatte es für notwendig gehalten, sich ihren Retter mit einem Seitenblick anzuschauen, und auch sie machte dieselbe vorteilhafte Entdeckung.

So schritten sie dahin, durch die Steige des Gartens.

»Ich fürchte mich vor dem jungen Mann!« hörte Emil Lydia ihrer Freundin leise in englischer Sprache zurufen, deren Verständnis sie ihrem Begleiter nicht zumutete.

»Er ist hübsch! Er gefällt mir!« lautete Evelinens dreiste Antwort, ebenso leise geflüstert. »Deine Julie hat keinen schlechten Geschmack«, setzte sie lachend hinzu.

Emil machte die ehrenfesteste Miene. Das Kompliment ließ ihn innerlich aufjubeln; aber es galt, die beiden Mädchen erst denselben Übermut wiedergewinnen zu lassen, der sie hierher geführt. Julie, die Zofe, mochte ihnen ja schließlich als eine Garantie, als eine Geißel für die Ehrenhaftigkeit des Mannes erscheinen, dessen Schutz sie von ihr anempfohlen worden, und hatten sie einmal ein gewisses Sicherheitsgefühl wiedergewonnen, so mochte es allenfalls geraten sein, ihnen gegenüber einige geistige oder gesellschaftliche Vorzüge den äußeren hinzuzufügen, welche beide ebenso erstaunt anerkannten.

Er stellte sich also, als habe er den kurzen Meinungsaustausch der beiden Mädchen nicht verstanden, und gab sich das vertrauenswürdigste Gesicht von der Welt.

Lydia blieb still, in sich gekehrt, verschüchtert. Wenn der falsche Monsieur Robert zu ihr sprach, wagte sie kaum aufzublicken, und als er ihr sagte, es sei ein Wagestück für zwei so vornehme und reizende Damen gewesen, sich allein unter diese unruhige Gesellschaft zu begeben, war's Emil, als stiege eine leichte Abendröte über das eingeschüchterte Gesicht.

Eveline ihrerseits hatte bald ihre Keckheit wiedergewonnen. Eigensinnig behielt auch sie Emils Arm; es schien ihr eine Genugtuung, eine Art Stolz, als simple Arbeiterin an der Seite eines so hübschen Burschen zu gehen; sie hörte mit Zufriedenheit die schmeichelhaften Äußerungen an, welche den drei so einig Dahinschreitenden von der übrigen Gesellschaft zugerufen wurden; sie versetzte sich im Geist so tief in ihre Rolle, daß es ihrer erregbaren Phantasie war, als könne eine so hübsche Arbeiterin wie sie mit einem so hübschen Burschen doch wohl recht glücklich sein und als bedürfe es zum Lebensglück eigentlich gar keiner seidenen Gewänder und keiner so kostspieligen Wohnung in dem vornehmen Grand Hôtel.

Während Lydia still und bescheiden umherblickte, oft wohl auch ein wenig ängstlich aufatmete, war es Eveline, als werde es ihrer kräftigen Büste zu eng in der schwachbrüstigen Taille der Pariserin; sie begann gesprächig, keck zu werden; sie plauderte und scherzte mit Emil wie mit ihresgleichen, und bald schien's ihr recht schade zu sein, daß dieser wirklich hübsche und aufgeweckte Bursche mit seinen gefälligen Manieren nur ein Arbeiter sei. Und der Gedanke kam ihr jedesmal dann, wenn sie seinen funkelnden schwarzen Augen begegnete, wenn er es wagte, in die ihren zu schauen. So kam es zwischen Eveline und dem jungen Arbeiter zu einem vertraulichen Ton, der Lydia mißfiel.

»Er ist reizend, Lydia!« rief erstere endlich, sich hinter die Schulter beugend. »Findest du nicht? Ich könnte ihn küssen, so sehr gefällt er mir!«

Emil ward's glühend heiß; es ward ihm eine übermenschliche Aufgabe, den Unbefangenen zu spielen; er fühlte, wie sich Eveline schwerer in seinen Arm hängte, als wollte sie so ganz das Behagen auskosten, von ihm geführt zu werden. Und dann blickte sie auf ihre ärmliche Robe. Sie lächelte schelmisch, zufrieden mit ihrer Rolle. Das Abenteuer war interessanter, als sie sich vorgestellt hatte.

Und Emil, anstatt sich zu ihr zu wenden, schaute immer lieber auf Lydia. Es wollte ihm bald erscheinen, als erröte diese wiederum, als bebe ihr Arm wieder ganz leise, als habe sie Lust, ihn aus dem seinigen los zu machen. Ohne Zweifel, sie fürchtete sich vor ihm, und da er durchaus nicht die Miene hatte, als könne oder wolle er ihr was zuleide tun, so mußte das andere Gründe haben.

Sie antwortete der Freundin nicht auf deren leichtfertige Rede; sie fühlte sich beschämt, obgleich sie selbst voraussetzte, daß er ihre Sprache nicht verstehe, und wie sollte auch ein simpler Arbeiter zu solcher Kenntnis kommen! Emil erschien sie wie verwandelt. Sie, die sonst so keck und ausgelassen, sie war schweigsam still, in sich gekehrt. Sonderbarer Wechsel in diesem Kinde!

Eben wollte er zu ihr sprechen, als das Orchester, geräuschvoll intonierend, die ganze im halbdunklen Garten zerstreut umhersitzende oder spazierende Gesellschaft wieder zusammenrief.

Lydia fuhr auf wie aus einem Bann erlöst; ihr Arm zuckte und wollte sich dem des Führers entziehen, und gerade diesen Arm zu behalten, war ja sein stilles Glück. Hätte Eveline, die schöne, herausfordernde Eveline, die ihre Brust so hingebend an seine Seite drängte, hätte sie zehn Arme in dem seinigen gehabt, er hätte sie um diesen einen hingegeben.

»Ich bitte Sie, Monsieur Robert,« hörte Emil jetzt Lydias Stimme, »führen Sie uns in den Saal, wir möchten dem Tanz zuschauen. Auch wird es dann Zeit, wieder aufzubrechen. Man könnte uns zu Hause suchen.«

Emil erschrak. Die Gefahr, den ganzen Zauber so schnell wieder zerrinnen zu sehen, weckte ihn aus seinem Taumel und mahnte ihn an die Notwendigkeit, durch irgend etwas die Mädchen hier festzuhalten. Die ihnen gegenüber angenommene, gesellschaftlich so untergeordnete Stellung gab ihm kein Recht, keinen Vorwand hierzu; daß die Neugier der Damen bald gestillt sein werde, mußte er voraussehen, und das Interesse für die Persönlichkeit des hübschen Burschen mußte doch auch seine Grenzen finden, wenn auch Eveline eben im Zuge war, sich in ihre Grisetten-Rolle so recht hineinzuleben.

Die größte Schwierigkeit lag darin, daß beide bei all ihrem Bemühen, als schlichte Mädchen aus dem Volke zu erscheinen, doch nur den Unerfahrenen täuschen konnten. Das schlichte dunkle Tibetkleid, das einfache Hütchen taten freilich ihre Schuldigkeit, und ihr Führer hatte in Duhamels Atelier die äußeren Gewohnheiten der Arbeiter so gut studiert, daß er für ihresgleichen gelten konnte; aber Lydias blaue Augen und die Verzagtheit, mit der sie sich an seinen Arm schmiegte, ihre Haltung, die mit der schlichten Dekoration nicht korrespondierte, die Art und Weise, in der sie die Füße auf diesen ungewohnten Boden setzte; und dann Evelinens nur ihr eigentümliche Allüre, so angeboren vornehm und ladylike, ihre zur Bewunderung herausfordernde, so fremdartig getragene Gestalt, der kleine spöttische Zug, mit welchem sie alles beobachtete – das hätte eine schlechte Französin sein müssen, die in ihr eine Landsmännin gesucht hätte.

Emil fühlte dies, er erkannte es aus den Blicken, einigen flüchtigen Äußerungen des weiblichen Ball-Publikums; er sah es kommen, daß die Schutzbedürftigkeit, mit welcher die beiden an seinen Armen hingen, schließlich Verdacht erregen müsse, aber er rechnete auf die Galanterie der Pariser.

»Wir setzen uns dort hinten in die Ecke und schauen von dort dem Tanz zu«, flüsterte er Lydia zu, auf die an der Längswand im Hintergrunde der Halle stehenden kleinen Tische deutend. »Niemand wird Sie dort beobachten.«

Ein leichter Druck der Hand auf seinen Arm, und Eveline beschleunigte ihre Schritte. Sie traten in die Halle. Die Quadrille war in vollem Gange; die Tonwellen des Orchesters brandeten gegen die Wände, über die Köpfe der Tanzenden und der Zuschauenden. Die Halle hatte sich namentlich mit Fremden gefüllt. Mißtrauisch, ängstlich wagte Lydia kaum aufzuschauen, und während Emil, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, die selbständigere, mutigere Eveline von seinem Arm lassen mußte, klammerte sich Lydia beschwerend fester an denselben. Was hätte sie darum gegeben, wäre sie wieder daheim! Der Freundin Unternehmungslust hatte sie in ein Abenteuer verwickelt, dessen gutem Ende sie mißtraute. Das Mädchen, zu Hause so ausgelassen und übermütig, hatte den letzten Mut verloren und schwankend schleifte ihr Fuß, mit fortgezogen, über den glatten Boden.

»Eveline, verliere dich nicht! Halte dich an uns!« flüsterte sie, das Gesicht zurückwendend, in ihrer Angst, dieselbe könne von ihnen getrennt werden.

Und das Unglück, das Lydia fürchtete, stand bereits vor ihnen. Sie fühlte plötzlich eine heftige Erschütterung an ihrer Seite; sie sah ihren Begleiter von zwei Händen an der Brust gefaßt und heftig geschüttelt; sie fühlte, wie derselbe ihr den Arm entriß, wie auch seine Hände sich ausstreckten, um sich des Angreifenden zu erwehren. Sie erkannte aufschauend Mr. Bredson, der, umringt von seinen amerikanischen Freunden, Emil erblickend, sich auf diesen gestürzt und, vertrauend auf die Hilfe seiner Kameraden, in jäher Aufwallung seine Rachelust zu befriedigen suchte.

Mit einem Schrei fuhr Lydia zurück. Bredson mußte auch sie schon erkannt haben. Von Schreck und Scham gelähmt, geblendet, warf sie sich in die hinter ihr stehende, sich herandrängende Menge und verschwand in derselben. Sie hörte nur noch ein rohes, heiseres Aufschreien, und das war Bredsons Stimme, dann ein Tosen anderer Stimmen. Die Musik verstummte plötzlich; hinter Lydia quirlte sich alles zu einem lärmenden Knäuel zusammen.

Emil war der Angriff so überraschend, so heftig, daß er im ersten Moment nicht bei sich war. Kaum aber hatte auch er seinen Gegner erkannt, als er mit beiden Händen der langen, dürren Gestalt Bredsons in die Hüften griff, diese wie in einem Schraubstock zusammenpreßte, daß Bredson den Atem wie aus einem zischenden Ventil ausstieß, ihn vom Boden hob und seinen Kameraden gegen die Köpfe schleuderte, daß diese zurücktaumelten.

»Platz da!« schrie er den ihn Umdrängenden zu, beide Arme um sich schleudernd. Mit kühnem Blick schaute er umher, als diese sich auf die hinter ihnen Andrängenden zurückwarfen. Der Knäuel schloß sich hinter ihm, ihn von seinem Angreifer trennend, dem eben ein Sergeant die Hand auf die Schulter gelegt, als er schnaubend nach seinem Gegner suchte.

Die beherrschende Ruhe, mit welcher Emil furchtlos jetzt umherschaute, imponierte der Menge. Man trat zurück, man bot ihm eine Gasse; er benutzte sie nicht. Er suchte nach den beiden Mädchen – sie waren in dem Getümmel verschwunden. Einen Fluch zwischen den Zähnen murmelnd, sah er die Notwendigkeit ein, den Schauplatz zu wechseln und sich unter der Menge zu verlieren, um nicht, wie dies Mr. Bredson wahrscheinlich bevorstand, ebenfalls ins »Violon« abgeführt zu werden.


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