Richard Voß
Die Rächerin und andere römische Novellen
Richard Voß

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Der Hamlet von Tusculum

Vor einigen Jahrzehnten hütete die tusculanischen Ziegenherden des Prinzen Aldobrandini, welchem Tusculum heute gehört, der Abruzzate Simeone Santis, ein halbwilder Mensch, in zottige Felle gekleidet und von ungewöhnlicher Körperkraft. Man sagte ihm nach, daß er in der Wut einmal eine lebendige Ziege zerrissen – tierisch genug dazu war er.

Der prinzliche Beamte hatte ihn in Frascati auf dem Domplatz gedungen. Er war mit einem Trupp neapolitanischer Schnitter gekommen, die mit Weib und Kind zur Ernte ins Römische wanderten, ein Menschenschlag mit Mördergesichtern. Nachdem Simeone zwei Stunden lang wie ein Wolf den Aufseher umschlichen und zwei andere Stunden mit diesem um den Lohn gefeilscht, wobei er um ein Haar gegen den Beamten des Prinzen sein Messer gezogen, wurden die beiden handelseinig: für so und so viele Felle und einige Skudi verpflichtete sich Simeone, das Jahr hindurch die Ziegen des großen römischen Fürsten zu hüten. Für jedes Tier, das sich verstieg oder abstürzte, ward ihm von dem Gelde abgezogen. Überdies hatte er ein gewisses Quantum von Käse in der Tenuta abzuliefern; was er davon außerdem bereitete, gehörte ihm.

In seiner Art ganz vergnügt, begab er sich auf den einsamen Ruinenberg, der damals nur wenig von Fremden besucht wurde, richtete sich mit seinem Kochtopf häuslich ein, zählte seine Herde, gab jedem Stück derselben einen Namen und begann, äußerst zufrieden mit den Weideplätzen und seinem Hüteramt. Wenn er tagsüber bald hier, bald dort in der Sonne lag; abends irgendwo ein Feuer anzündete, um daran seine Minestra zu bereiten und sich dann daneben zum Schlaf auszustrecken, dachte er zuweilen an seine junge, hübsche Frau und daß er sie ihrem jungen hübschen Liebhaber fortgenommen hatte. Auch kam ihm manchmal in den Sinn, sie sich bald herzuholen, damit er nicht selbst Feuer anzumachen und die Minestra zu kochen brauche. Manchmal heulte er bei solchen Gedanken vor Behagen laut auf; oder er schlug aus derselben Empfindung seinen Hund, den er nach jenem betrogenen Liebhaber seiner Frau Marco nannte. Dagegen hatte er die zierlichste Ziege Laurina getauft. Ein besonderes Vergnügen verursachte ihm, den Marco auf die Laurina zu hetzen und hernach den Hund halb tot zu prügeln.

Ein ganzes Jahr brauchte er, bis er zu dem Entschlusse kam, seinen Strohwitwerstand aufzugeben. Er nahm auf einige Wochen Urlaub, dingte einen Stellvertreter und begab sich auf die Wanderschaft. Bevor jedoch die Zeit ganz abgelaufen, kam er mit einem blutjungen und bildhübschen, aber blassen und kranken Weibe zurück, das auf dem Rücken ein erst vor kurzem geborenes Kind trug.

Es war ein Knabe.

Bis dahin hatte Simeone in den Ruinen der ausgegrabenen Stadt gehaust: bald in den Gängen des Amphitheaters, bald in irgend einem unterirdischen Gemache der tiberianischen Villa; oder in den Versenkungsräumen der griechischen Bühne; oder in der Höhlung eines halb zerstörten antiken Grabmals. Diese Wohnstätten hätte er, unbekümmert um Skorpione und Nattern, ohne Zweifel mit Weib und Kind beibehalten, wäre ihm nicht von dem Verwalter, dem der bejammernswerte Zustand der jungen Mutter Mitleid einflößte – sie war unterwegs von ihrem Manne grausam geschlagen worden –, eine bessere Unterkunft angewiesen worden.

Es war dies das längst nicht mehr benutzte Wächterhaus, welches auf der Höhe des Hügels, auf einem ebenen freien Platze – dem einstmaligen Forum – aus Trümmern der antiken Stadt: Gebälkstücken, Inschrifttafeln und Statuen, erbaut worden, als Lucian Bonaparte Tusculum ausgraben ließ. Zwischen der sogenannten »Villa des Kaisers Tiberius« und dem griechischen Theater lag das einsame Haus am Rande einer köstlichen Kastanienwaldung, auf drei Seiten von Fluren umgeben, die im Frühling und Herbst Blumenfeldern glichen. Rosen und Menthe begruben hier manches kostbare Marmorwerk, das gespenstisch aus dem Grün und den Blumen hervorleuchtete. Von dem Hause aus genoß man eines weiten Überblicks auf die benachbarten öden Hügel mit ihren unbewohnten Thälern, auf die fernen grauen Felsenriesen der Abruzzen und die schimmernde Meeresküste. Zwischen den Abruzzen und dem Meer, dem tusculanischen Hügel gerade gegenüber, erhob sich das Albanergebirge mit seinem feierlichen Gipfel, dem schwärzlichen Rocca di Papa, den ausgedehnten Weinfeldern von Marino und dem Kraterrand des Albanersees, an dem schimmernde Städte aufstiegen.

Inmitten geheimnisvoller Ruinen, unter sich eine gewaltige unverständliche Welt, ringsum Stille und Öde, wuchs der kleine Salvatore auf, so frei und wild wie die Falken, die auf den Trümmern hausten.

Es war ein hübsches zartes Kind mit schwarzem Lockenkopf und dunklen schwermütigen Augen. Bei dem großen Schweigen, das auf der Höhe herrschte, wurde auch der Knabe schweigsam und überaus ernsthaft. Er kannte niemand als seine Eltern. Wenn er einmal eine fremde Gestalt gewahrte, lief er fort und versteckte sich.

Sehr bald wußte er, daß seine Mutter viel von seinem Vater geschlagen wurde und es ruhig ertrug. Diese Wahrnehmung machte einen mächtigen Eindruck auf das leidenschaftliche junge Gemüt. Wenn Simeone an Sonntagabenden trunken von Frascati heraufkam und in das Haus trat – dieses bestand nur aus einem einzigen Raum –, so stellte sich der Knabe schützend vor seine Mutter, die geballten Händchen zum Schlage gegen den Vater erhoben, ihn mit seinen düstern Augen feindselig anblitzend. Gewöhnlich nahm die Mutter den heftig Widerstrebenden rasch auf, trug ihn hinaus und schloß hinter ihm zu. Während der Knabe wild schreiend an die Thüre stieß und pochte, hörte er drinnen die Flüche seines berauschten Vaters und das unterdrückte Stöhnen seiner gemißhandelten Mutter. Die Nacht kam, er fürchtete sich, kauerte sich auf der Schwelle hin, schluchzte: »Mutter! Mutter!« und schlief ein. Gegen Mitternacht wurde dann stets die Thüre leise geöffnet. Laurina trat heraus, hob den Schlummernden sanft auf, trug ihn hinein, legte ihn auf sein Lager, deckte ihn sorglich zu; und weinte und betete die ganze Nacht hindurch über seinem jungen schuldlosen Haupte. Am nächsten Morgen erschien dann dem Kinde alles wie ein Traum – ein Traum, den es vergebens zu begreifen versuchte. So entwickelte sich Salvatore frühzeitig zu einem Grübler und Träumer.

Tags über war der Knabe wenig zu Haus. So gern er sich bei seiner Mutter befand – allein zu sein war ihm lieber! Nach allen Richtungen hin durchkroch und durchkletterte er den Ruinenberg, bis in die Waldungen dringend, die Tusculum von Frascati scheiden. Aber anstatt das Lager des grauen Bergfuchses und den Horst des braunen Falken aufzuspüren, lag er stundenlang regungslos hingestreckt, starrte mit weit offenen Augen in die Luft, hörte dem Lerchenjubel, dem Summen der Käfer zu und ließ die Sonne auf sich niederbrennen, ohne es recht zu empfinden. Der Wind wehte über ihn hin, er schaute den jagenden Wolken nach, lauschte auf das Glockengeläute, das er, der nie in eine Kirche kam, für die Stimmen der Luft hielt, und versuchte, sich bei allem etwas zu denken. Er sah viele Städte unter sich liegen und wußte kaum, daß sie von Menschen bewohnt wurden; er sah das Meer aufglänzen und konnte sich nicht vorstellen, was das wohl sei; er sah die Sonne auf- und untergehen, noch niemand sagte ihm, daß es ein Himmelslicht sei, von einer Gottheit erschaffen.

Des Sonntags stieg seine Mutter nach Frascati hinab zur Kirche und der Vater lief in die Schenke; er mußte also bei der Herde bleiben. Die Hirten, die auf den anderen Hügeln hüteten, waren nicht verheiratet. So kam es, daß Salvatore keinen Spielgefährten bekam und jedesmal in dumpfes Staunen geriet, wenn seine schweigsame Mutter ihm zuweilen von anderen Kindern erzählte. Andere Kinder »spielten«. Was mochte das sein?

Bei solchem Leben auf der wilden Höhe, inmitten der ausgegrabenen Stadt, wurde der Hang zur Träumerei immer entschiedener zu einer Eigenschaft seines Charakters, die ihn bald ausschließlich beherrschte. Über alles brütend, konnte er über nichts zu einem klaren Gedanken kommen. Nur zweier mächtiger Regungen war er sich bewußt: das war die leidenschaftliche Liebe für seine gemißhandelte Mutter und der leidenschaftliche Haß gegen seinen grausamen Vater. Wenn er nur erst »groß« wäre!


Salvatore hütete bereits einen Teil der Herde; und das auf einem Gebiete, welches sich von dem Gipfel, darauf einst die Arx der alten Stadt gestanden, bis zum Molarathal hinab erstreckte. Eine von den Trümmern Tusculums aufgeworfene niedrige Mauer, darin manches weiße Marmorstück leuchtete, trennte den tusculanischen Weideplatz von den Gründen, die zu Rocca di Papa gehörten. Vor Kurzem war drüben der Hirt am Fieber gestorben.

Es war eines Sonntagnachmittags im Frühsommer, als Salvatore wie gewöhnlich die Herde hinuntertrieb. Nahe der Grenzmauer aus den Klippen tretend, blieb er plötzlich erschrocken stehen: auf einem Felsblock, um den, wie Kandelaber um einen Altar, hohe blühende Königskerzen standen, kauerte eine kleine zierliche Gestalt in einem hochroten Röckchen, das braune Gesichtchen von weißen Schleiertüchern beschattet. Sie hatte den Schoß voller Blumen und war eifrig beschäftigt, die goldgelben Kelche auf langen biegsamen Binsenstengeln zu Ketten an einander zu reihen.

Erstaunt schaute der Hirtenknabe diesem seltsamen Thun zu, als echter Sohn der Wildnis sogleich an Zauberei denkend. Jetzt sah die kleine Berghexe auf. »Sie hat gewiß den bösen Blick« – dachte er und wollte schon seine Herde, denn allein um diese war es ihm zu thun, eiligst zurücktreiben. Da fing das Mädchen zu singen an, mit so weicher süßer Stimme, daß Salvatore, die Rettung seiner Herde vergessend, mit angehaltenem Atem lauschte. Wie von dem Gesange hingezogen, näherte er sich der Mauer. Das Mädchen blickte zu ihm hinüber, nickte ihm ernsthaft zu, ließ sich aber nicht im mindesten durch seine Gegenwart stören. Als sie ihre Kette fertig hatte, wickelte sie sich, immerfort singend, die schimmernden Blütenreihen vielfach um den Hals. Dann war auch das Lied aus.

»So komm doch herüber!« rief sie und lachte.

Mit einem Sprung war er drüben, stand auch gleich dicht vor dem Felsblock mitten unter den schlanken silbergrauen Blumenstengeln, deren goldige Dolden über seinen Kopf ragten, und schaute andächtig zu ihr empor.

»Nun wollen wir spielen,« befahl sie ihm.

Er wußte nicht, wie das sei, war indessen sofort dazu bereit.

Sie spielten. Er mußte ihr glänzende Käfer fangen, die sie in ein aus den sammetartigen Blättern der Königskerze verfertigtes Körbchen sperrte. Nachher ließen sie die Gefangenen wieder frei.

Es war wunderschön!

Um seine Herde kümmerte sich Salvatore nicht mehr. Er war wie in einem Rausch, wie in einem glückseligen Traum. Seine Wangen glühten, seine Augen leuchteten. Er hätte aufjubeln und zu gleicher Zeit bitterlich weinen mögen.

Während des Spielens plauderten sie. Sie heiße Marja: Marja Mariani. Welch wunderhübscher Name! – Wie seiner sei? – Salvatore Santis. – Der Name gefiel ihr. Salvatore erglühte. – Ob er auch von weit herkäme? – Er war immer dagewesen, wüßte gar nicht, von woher er hätte kommen können. – Ei, von zu Hause! Von woher denn sonst? Ihr Vater hatte sie oft getragen, obgleich sie gar nicht müde gewesen. Ihr Vater war so gut, so gut! Salvatore wurde plötzlich so traurig, daß er nur mit Mühe die Thränen zurückhielt. Sie merkte es gleich.

»Was hast du?«

»Mein Vater« – stammelte er und stockte. »Ist deiner auch Hirt?« forschte er ängstlich.

»Was sollte er sonst sein?«

»Wir bleiben hier,« vertraute sie ihm triumphierend an. »Der Vater baut uns eine Hütte: ganz aus grünen Zweigen. Zu Hause hatten wir eine aus Stein. Das war häßlich.«

Salvatore mußte gestehen, daß sie auch in einer solchen häßlichen Steinhütte wohnten; dort oben lag sie. Marja dachte eine Weile nach; dann tröstete sie ihn damit, daß sie ihm ein Haus aus Blumen zu bauen versprach.

Salvatore war es zufrieden.

Aber ihr Vater beschäftigte ihn doch am meisten.

»Er ist immer gut gegen dich?«

»Er hat mich schrecklich lieb; ich habe ihn aber auch schrecklich lieb! Du hast deinen Vater doch auch gern?«

In seinem Gesicht zuckte es, aber er schwieg.

»Meine Mutter –« weiter zu reden vermochte er nicht.

»Meine Mutter ist tot.«

»Ach!«

Er seufzte tief auf, sah sie scheu an und begriff nicht, daß sie das so ruhig sagen, daß sie so heiter sein könne.

»Das war schön!«

»Was war schön?«

»Wie sie begraben wurde. Denke dir: in die Erde hinein. Viele bunte Männer gingen mit vielen Lichtern. Und wie die Glocken läuteten! – Ist deine Mutter auch tot?«

»Nein! nein!« rief er heftig und schluchzte krampfhaft auf, worüber Marja so erschrak, daß sie zu weinen anfing.

Bald beruhigten sich beide und setzten Spiel und Plauderei fort.

Ob er oft in die Kirche gehe? – Niemals. Seine Eltern gingen hinein; dann müsse er bei der Herde bleiben. Er wisse gar nicht, was das sei, eine Kirche. – Ein wunderschönes Haus, mit Blumen und Lichtern und vielen vielen Menschen. Und dann die Priester. Wie die angezogen sind! Mit lauter Gold und Silber. Man muß ihnen die Hand küssen – ja, wahrhaftig! Und wenn sie dastehen und etwas in die Höhe halten; dann muß man sich hinwerfen, – sieh so! Und mit den Händen muß man so machen.

Sie zeigte ihm alles. Ihm wurde von so vielen Herrlichkeiten ganz wirr zu Sinn. Auch schämte er sich, daß er von nichts wußte, daß seine Mutter ihm von nichts gesagt hatte.

Aber von der guten Gottesmutter wußte er durch seine Mutter. Sie hatte ihn auch einen Spruch gelehrt, den er jeden Morgen und Abend hersagen mußte. Ganz stolz betete er seiner kleinen Freundin den frommen Vers vor, wobei er die Hände faltete und ein wehmütiges Gesicht machte.

Sogleich kramte auch Marja ihre ganze christliche Gelehrsamkeit aus. Salvatore staunte.

Noch etwas anderes hätte er gar zu gern von seiner klugen Gefährtin erfahren. Lange fand er nicht den Mut, sie zu fragen; dann brach er leidenschaftlich damit hervor:

»Hat dein Vater deine Mutter auch geschlagen – so geschlagen, daß es blutet?!«

Schluchzen erstickte seine Stimme. Er ballte die Hände und blickte voll angstvoller Erwartung seine Freundin an.

»Nie hat der Vater meine Mutter geschlagen,« versicherte Marja eifrig. »Mein Vater thut keinem Tier etwas zu Leide.« »Ist dein Vater auch nie betrunken?«

»Was ist das?«

»Das ist – ich weiß es auch nicht; aber es ist schrecklich.«

»Dann ist es der Vater niemals,« entschied Marja in unerschütterlichem Glauben.

»Denke dir: wenn mein Vater betrunken ist, schlägt er die Mutter, daß es blutet,« raunte Salvatore ihr zu, »Aber laß mich nur erst groß sein!«

»Ich weiß, was du dann thust!« rief das Mädchen mit blitzenden Augen. »Wenn bei uns zu Hause einer einen totschlägt, so wird er wieder totgeschlagen. Mein Vater hat es mir erzählt.«

»Du mußt mir alles sagen, was dein Vater dir erzählt hat,« flehte Salvatore inbrünstig.

»Dann thut man ein Gelöbnis und dann muß man den Mörder töten.«

»Wer muß ihn töten?«

»Ei, der Bruder oder der Sohn von dem, der gemordet worden ist; oder sonst ein anderer, irgend einer. Wenn er das Gelöbnis gethan hat; dann hilft's nichts.« Sie sah sich scheu um, rückte dicht zu Salvatore hin und flüsterte: »Wenn du es keinem Menschen verrätst, will ich es dir sagen.«

»Ich will es keinem Menschen verraten.«

»Du mußt es geloben.«

»Wie soll ich das machen?«

»Sage nur: Ich gelobe.«

»Das gefällt mir nicht.«

»Sag's nur.«

»Ich gelobe.«

Er erbleichte, er zitterte. Maria vertraute ihm:

»Auch mein Vater hat solch ein Gelöbnis gethan.«

»Auch dein Vater?«

»Ich weiß es von der Mutter, ich weiß noch viel mehr.«

Sie erwartete, daß Salvatore sie bitten würde, es ihm zu sagen; er war jedoch zu entsetzt.

»Also muß dein Vater einen totschlagen?«

»Das wird er wohl müssen. Singt er doch immer das Lied.«

»Welches Lied?«

»Wie du fragst! Ich habe es ja vorhin gesungen.«

»Sing es noch einmal.« Marja ließ sich nicht lange bitten; andächtig hörte Salvatore ihr zu. Es war eigentlich kein hübsches Lied; aber weil Marja es sang, so gefiel es ihm.

Mitten im Gesang unterbrach sie sich.

»Da kommt der Vater. Er mag nicht hören, wenn ich das Lied singe. – Bleibe doch. Mein Vater thut dir nichts.«

Aber Salvatore war bereits über die Brüstung geklettert.

»Morgen komme ich wieder!« rief er zurück. Hinter einem Dornbusch versteckt, sah er scheu zu dem Manne hinüber, der Marja's Mutter niemals geschlagen hatte.


Am Abend kam die Herde ohne ihren Hirten auf Tusculum an. Obgleich kein Stück fehlte, tobte und fluchte Simeone, daß es weithin über den Berg schallte. Laurina, ohne sich an den Wütenden zu kehren, lief fort und suchte ihren Sohn. Da hörte sie ihn singen. Sie kannte das Lied, wurde plötzlich ganz fahl im Gesicht und mußte sich an den Felsen lehnen. Schwankend setzte sie ihren Weg fort und fand den Knaben auf einer Klippe liegend, ins Molarathal hinabsehend, wo der neue Hirt vor seiner Hütte ein Feuer angezündet hatte. Bei der einbrechenden Nacht schlug die Flamme hoch auf, glühenden Schein auf den Lagerplatz werfend. Die Frau erkannte die dunklen, Gestalten des Hirten und seines Kindes. Ihre ersten Worte waren:

»Woher kennst du das Lied?«

Salvatore deutete hinab:

»Von Marja. Marjas Vater hat ihre Mutter niemals geschlagen; und denke dir: ihre Mutter ist tot.«

»Wer ist Marja?«

»Wer Marja Mariani ist – ?«

Regungslos stand das Weib und starrte in die nächtige Tiefe hinab. Salvatore glaubte, sie sei ihm böse, weil er mit Marja Mariani gespielt habe und fing zu weinen an. Da warf Laurina sich neben ihm hin, drückte ihn an sich und küßte ihn, daß der Knabe laut aufschrie. Hand in Hand traten sie endlich den Heimweg an.

An demselben Abend erfuhr auch Simeone die Ankunft des neuen Hirten und ward darüber ganz wild. Salvatore mußte die ganze Nacht ausgeschlossen im Freien zubringen; drinnen hörte er seine Mutter leise stöhnen. Wenn er doch nur erst größer wäre!


Marco Mariani, der neue Nachbar des Hirten von Tusculum, der sich den Bauern von Rocca di Papa als Hirt verdingt hatte, erwies sich als ein noch ziemlich junger Mann, schwarzlockig und braun, mit schönen schwermütigen Augen. Seine wilde Tracht, aus dunklen langhaarigen Ziegenfellen und dem Vließ eines schwarzen Schafbocks verfertigt, kleidete ihn vorzüglich. Er und Laurina stammten aus demselben Orte. Beider Eltern waren Nachbarn gewesen.

Im Dorfe hatte man allgemein geglaubt, daß die Kinder einmal ein Paar werden würden. Sie waren beide fast gleichaltrig, beide ungewöhnlich hübsch und schienen sich einander sehr gern zu haben. Als bei Marcos angehendem achtzehnten Jahre das ganze Dorf ein Verlöbnis erwartete, bewarb sich der zugewanderte Hirt Simeone Santis um das Mädchen. Er war zwar um zwanzig Jahre älter als Laurina, aber um fünfzig Skudi reicher als Marco, bekam also der Sitte gemäß die Braut. Schon nach wenigen Wochen ward die Hochzeit gefeiert.

Das ganze Dorf fand das vollkommen in der Ordnung; und vollkommen in der Ordnung fanden es Laurina und Marco. Daß aber der beiseite geschobene Liebhaber nicht versuchte, dem glücklichen Nebenbuhler einen Dolchstich beizubringen, fand im ganzen Dorf kein Mensch in der Ordnung, Simeone Santis am wenigsten. So geschah es, daß der hübsche, lustige, allgemein beliebte Marco allgemein mißliebig wurde: er war ein Feigling! Plötzlich erinnerte man sich, daß er als großer Knabe vor einem Wolfe geflohen war, die Herde im Stich lassend.

Simeone verhöhnte ihn öffentlich und hatte die Genugthuung, daß man ihm, obgleich er im ganzen Dorfe verhaßt war, in dieser Sache allgemein recht gab. Seinem jungen Weibe gegenüber hörte er gar nicht auf, ihren schönen und »mutigen« Liebhaber zu verspotten. Laurina entgegnete darauf niemals ein Wort.

Dem hübschen Marco wäre es nach diesem Vorfall schwer geworden, aus dem Ort ein anderes Mädchen zur Frau zu bekommen: keine hätte ihn gewollt! Auch hätte kein Vater ihm seine Tochter gegeben. Sogar seine Kameraden, deren Stolz er bis dahin gewesen, mieden ihn. Ein Makel lag auf ihm.

Der junge Hirt verfiel in Schwermut. Er scheute die Menschen, blieb bei seiner Herde, die er in die entlegensten Felsenthäler trieb, und wurde, da er immer daran denken, immer darüber grübeln mußte, zu einem Träumer.

Er wußte selbst, daß er feig war.

Bald nach der Hochzeit verließ Simeone sein junges Weib, um sich im Römischen nach einem guten Dienst umzuthun. Halb im Scherz warnte ihn sein Schwiegervater. Der neue Ehemann lachte laut auf: ein Feigling sei keiner Frau gefährlich.

Seine Frau stand dabei und – lachte mit.

Da er sie jedoch zum Abschied küssen wollte, stieß sie ihn fort, als sei er ein häßliches Tier. Er sah sie mit seinem Mörderblick an und ging.

Ein ganzes Jahr blieb er fort.

Marco wurde zuweilen im Dorfe gesehen, allerdings nur des Nachts oder beim Morgengrauen. Das ganze Dorf wußte, daß er an seinem Todfeind Rache genommen – die Rache des Feiglings. Die Blicke, mit denen man ihn ansah, wurden immer düsterer, immer verächtlicher. Er ertrug diese Blicke nicht und wanderte ganz fort in das Neapolitanische. Bald darauf gebar Laurina einen Knaben. Dann kehrte Simeone zurück, um sein Weib und seinen Sohn nach Tusculum zu holen.

Sie war nicht feig; sie sagte es ihm selbst.

Als er sie darauf schwer mißhandelte, fand sowohl das ganze Dorf, wie sie selbst, das vollkommen in der Ordnung, würden es in der Ordnung gefunden haben, wenn er sie getötet hätte.

Mit Marco Mariani war er übrigens fertig: für solche Rache mußte die Frau büßen. Auf Tusculum that sie das auch.

Obgleich sich Marco im Neapolitanischen bereits nach einem Jahre ein Weib nahm, verfiel er dennoch immer tiefer in Schwermut. Von allen Romanzen und Sonetten, die er früher den lieben langen Tag über gesungen, schien er nur einen einzigen düsteren Gesang behalten zu haben: eine Ballade, in der ein unschlüssiger Jüngling von seiner Mutter zur Blutrache gemahnt wird. Der Sohn ist feige, die Mutter verwünscht ihn, vollbringt den Mord selbst und wird vor den Augen des Sohnes hingerichtet.

Marcos Weib war ein scheues sanftes Wesen, ihrem hübschen trübsinnigen Manne leidenschaftlich ergeben. Dieser behandelte sie gut; aber sie wußte, daß er eine andere im Herzen trug. Nachts im Traum schrie er zuweilen auf: »Laurina!« und schluchzte dann kläglich. Auch noch anderes mußte auf ihm lasten; denn wenn in Sonnino ein Rachemord verübt wurde, schlich er eine Zeit lang ganz verstört umher.

Grade, als die kleine Marja elf Jahre alt geworden, starb ihre Mutter; kaum war sie tot, als Marco mit seiner Tochter in sein Heimatsdorf zurückzog, um jedoch bald wieder, da sein guter Name noch immer nicht hergestellt war, zum zweitenmal ins Albanergebirge auszuwandern. Hier trieb er sich umher, bis die Bauern von Rocca di Papa ihn für schlechten Lohn als Hirten für ihre Herde im Molarathal unterhalb Tusculum dingten.

Feige war er noch immer. Auch sang er noch immer die Mahnung zur Blutrache.


Für die tusculanische Hirtenfamilie kam eine schwere Zeit. Simeone war jetzt auch an Wochentagen betrunken, sein Weib schlich wie ein Schatten umher. Salvatore mußte die große Herde hüten, die nicht vom Berge hinunter durfte. Er lief jedoch fort, ließ die Tiere im Stich und suchte im Molarathal Marja auf. Stundenlang konnte er still dasitzen, ihre Hand halten, auf ihr Geplauder, ihren Gesang lauschen.

Auch ihren Vater, den Mann, der seine Frau nie geschlagen hatte, lernte er kennen; nachdem die erste Scheu überwunden, gewann er ihn sogar leidenschaftlich lieb. Neben dem Hirten, der selten mit ihm sprach, aber ihn oft lange unverwandt ansah, stumm dazuliegen, machte ihn fast noch glücklicher als die Gegenwart Marjas, die auf ihren heißgeliebten Vater eifersüchtig zu werden begann.

Salvatore brachte es nicht über sich, den großen Schmerz seines jungen Lebens zum zweitenmal einem Menschen anzuvertrauen. Aber seine kleine Freundin hatte geplaudert; und als ihr Vater ihn einmal nach seiner Mutter fragte, kam alles heraus. Aschfahl, die Augen mit Blut unterlaufen, hörte Marco auf den leidenschaftlichen Ausbruch des Knaben, der seine Mutter an seinem Vater zu rächen gedachte, sobald er »erst groß geworden«.

Als sich Laurina am Abend über ihren Sohn warf, um diesen vor einem Wutanfall Simeones zu schützen, raunte der Knabe ihr zu:

»Laß nur, Mutter! Marco Mariani haßt den Vater auch.«

Laurina schrie gellend auf. Die Faust ihres Mannes hatte sie so schwer getroffen, daß sie hinfiel.


Am nächsten Tage ereignete sich auf Tusculum etwas Fürchterliches: Simeone wurde ermordet im Schlafe.

Die feige That wurde in den Ruinen der tiberianischen Villa verübt.

Sie bestehen ans einem wahren Labyrinth halb verschütteter unterirdischer Gänge, Kammern, Gemächer; und liegen wie vom Berge abgerissene Felsmassen unter Ginster, Brombeergestrüpp und Hollundersträuchern den Abhang hinuntergewälzt, ein Wirrwarr grauer Schollen und Klippen. Wenn die Herde zwischen diesen Trümmern weidete, wo die würzigsten Bergkräuter in größter Üppigkeit wuchern, liebte es Simeone, die heiße Tageszeit in einem besonders kühlen Räume der weitläuftigen Ruinen hinzubringen.

Das Gemach mochte einst ein Prunksaal gewesen sein, denn es war groß und hoch und trug über dem schwarzen Netzwerk der Mauern noch vielfach seine ehemalige Marmorbekleidung von Giallo antico. Der Boden, wo er unter Schutt und Gestrüpp sichtbar wurde, zeigte noch Spuren einer kostbaren Mosaik. Der Eingang war bis zur Hälfte verschüttet und die Öffnung überdies dicht mit Epheu überzogen. Wer hinein wollte, mußte die langen Ranken wie einen Vorhang aufheben.

Hier suchte Salvatore seinen Vater auf, als er ihm am Nachmittag die Minestra brachte.

Aus dem blendenden Sonnenglanz plötzlich in tiefe Dämmerung versetzt, vermochte der Knabe zuerst nichts zu erkennen. Er rief: »Vater!« erhielt keine Antwort und vernahm ein schreckliches Röcheln. Im ersten Augenblick des Entsetzens wollte er fliehen, dann stand er zitternd da, lauschte, hörte die fürchterlichen Töne wieder und tastete sich bebend in der Dunkelheit vorwärts bis zu der Stelle, wo sich Simeones Lager befand, und von wo ihm das Röcheln entgegendrang.

Von Grausen gefaßt, kniete er nieder, wollte sich zu dem Schlummernden herabbeugen, griff in eine warme klebrige Flüssigkeit und schrie entsetzt auf.

Unterdessen hatten sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt. Er sah seinen Vater halb aufgerichtet gegen die Mauer lehnen und sein Vater war's, der so grauenvoll röchelte. Jetzt erkannte er auch das Blut, welches, eine dicke geronnene Masse, den ganzen Körper bedeckte; erkannte er das fahle Gesicht mit verzerrten Zügen, mit weit offenen stieren Augen.

Die stieren Augen hefteten sich auf den Knaben, der unter dem Blicke des Sterbenden seine Sinne schwinden fühlte. Da hörte er sich anrufen von einer Stimme, deren Laute keinem Menschen anzugehören schienen:

»Salvatore!«

»Vater! Vater!«

»Salvatore, du mußt mich rächen!«

Wiederum das schaudernde: »Vater! Vater!« als Antwort.

»Tauche deine Hand in mein Blut!«

Kaum wissend, was er that, ließ Salvatore seine Hand auf den Körper seines Vaters niedersinken. Es war ihm, als stecke er sie tief in feuchte Erde, als überzöge diese seine Hand, als dringe sie bis unter die Nägel. Sein Arm wurde ihm so schwer, daß er ihn nicht aufzuheben vermochte. »Und jetzt gelobe!«

Salvatore schauderte bei diesem Wort, vor seinen Augen schwamm alles in Blut; in Blut, in heißes, widriges Blut versank er selbst. Er wollte wieder aufschreien: »Vater! Vater!« brachte aber nur einen unverständlichen Laut über die Lippen.

»Gelobe, daß du mich an meinem Mörder rächen willst; sonst sollst du und deine Mutter verflucht sein in Ewigkeit!«

Die schreckliche Stimme erstickte im Todeskampf.

Als der Mann mit übermenschlicher Anstrengung sich noch einmal ins Leben zurückriß, um seinem Rächer den Namen seines Mörders zuzuröcheln, war Salvatore, noch immer die Hand in das erstarrende Blut haltend, besinnungslos über ihn hingesunken.

Der Sterbende stieß eine Verwünschung aus und verschied.


Nach einiger Zeit erwachte Salvatore aus seiner Betäubung; sogleich erinnerte er sich deutlich an alles, was geschehen ... Er lag über seinen Vater hingestreckt – sein Vater war im Schlafe ermordet worden; und er hatte seinem Vater gelobt, ihn zu rächen. Sonst sollten er und die Mutter verflucht sein in Ewigkeit. Aber etwas hatte er über seinem Entsetzen völlig vergessen: den Namen des Mörders.

Ohne sich zu regen, versuchte er, sich darauf zu besinnen. Da empfand er, wie es auch sein Gesicht überzog, als liege feuchte Erde darauf, als sei sie auf seiner Haut getrocknet und dann aufgesprungen. Das Gesicht schmerzte ihn davon und die Hände waren so starr, daß er die Finger nicht krümmen konnte.

Er wälzte sich von dem Leichnam herunter, kroch fort, dem Eingang zu und hinaus. Dann erhob er sich und lief schwankend davon. Plötzlich warf er sich hin und wühlte Gesicht und Hände in das kühle Gras, wobei er fortwährend »Vater! Vater!« rief. Nach einer Weile richtete er sich empor, riß Blätter ab und rieb sich damit wie unsinnig Gesicht und Hände; aber jenes grausige Gefühl wollte gar nicht aufhören. Als es Abend ward, stand er auf und sah sich um.

In einer dichten Dunstschicht ging die Sonne unter, fast so rot wie das Blut, das noch immer an seinen Fingern klebte.

Die Herde weidete ruhig zwischen den Trümmern, die das Abendrot mit dunkler Glut übergoß. Purpurfarbige Schatten breiteten sich über Ebene und Gebirg. Schimmernd lag das Meer da. Am Strande schien es aufzuflammen: die Sümpfe.

Im Molarathal sang eine helle Kinderstimme.

Der Jüngling – denn es war plötzlich kein Knabe mehr – lauschte, bis das Lied verklang. Dann ging er nach Hause. Seine Mutter kreischte bei seinem blutigen Anblick auf und schrie ihn an:

»Du hast deinen Vater erschlagen!«

»Ich habe meinem ermordeten Vater gelobt, ihn zu rächen.«

Er streckte ihr seine gerötete Schwurhand entgegen.


Sobald der Mord auf Tusculum in Frascati bekannt wurde, zog das Gericht Salvatore gefänglich ein.

Andere Hirten sagten aus, daß der Ermordete mit seiner Familie in wildem Unfrieden gelebt und daß der Knabe seinem Vater Rache geschworen hatte. Dazu kam der Ort der That: ein abgelegener verborgener Raum, den als gewöhnlichen Ruheplatz des Verstorbenen vor allem dessen Sohn kennen mußte. Ferner die Ausführung der That: am Tage, während der Ermordete schlief. Einen Schlafenden konnte auch ein vierzehnjähriger Knabe umbringen; überdies wäre ein solcher Todschlag für den fetten trägen Sindacus von Frascati kein neuer Fall gewesen.

Als stummes Zeugnis von vernichtender Beredsamkeit sprach die blutbefleckte Kleidung des Angeklagten gegen denselben. Salvatore schien verloren zu sein.

Aber das Wesen des vermeintlichen Mörders verfehlte nicht, selbst auf diese Richter einen gewissen Eindruck zu machen.

Wäre ich groß gewesen, so hätte ich es längst gethan; denn er mißhandelte meine Mutter. Aber ich hätte ihn nicht im Schlafe ermordet. Das ist feige. Laßt mich frei! Ich habe dem Vater gelobt, ihn zu rächen; sonst ist meine Mutter in Ewigkeit verflucht.

Beim Verhör gab er den Richtern unaufgefordert eine pathetische Schilderung jener grausigen Scene. Er wiederholte die Worte des Sterbenden, machte dessen Röcheln nach, seinen stieren Blick und erzählte alles, was er selber gesagt und gethan hatte.

Die leidenschaftliche Darstellung des jungen Halbwilden hätte die Richter überzeugen müssen. Außerdem hatte sich bei der ärztlichen Untersuchung des Leichnams erwiesen, daß die Dolchstöße von einer zu starken und sicheren Hand gethan worden waren, um von einem vierzehnjährigen Knaben herrühren zu können. Trotzdem ließ man ihn nicht frei; denn als er den Namen nennen sollte, den er von seinem sterbenden Vater als den des Mörders erfahren, verfiel er in einen Zustand völliger Stumpfheit: er wisse den Namen nicht mehr. So viel man auch in ihn hineinredete, ihm zusprach, ihm drohte – er blieb dabei, den Namen vergessen zu haben.

Während der Gefangenschaft, die bereits über ein halbes Jahr gedauert hatte, bekam er seine Mutter nur einigemale zu sehen. Ein Wärter führte die Frau in die dunkle vergitterte Zelle und ließ sie eine Stunde mit dem Gefangenen allein. Laurina kauerte sich ihrem Sohn gegenüber auf dem Boden nieder, sah ihn unverwandt an, seufzte jammervoll, schrie zuweilen auf: Madonna mia!« und bewegte die Lippen, als ob sie bete. Sie sah hager und gelb aus, mit tiefliegenden Augen und schien das Fieber zu haben, das sie oft wie ein Krampf schüttelte.

Auch Salvatore sprach fast gar nichts. Er fragte wohl nach der Herde, aber so gleichgültig, daß er die Antwort der Mutter ganz überhörte. Bei ihrem letzten Besuch erkundigte er sich mit einiger Theilnahme, wer denn jetzt die Ziegen hüte? und fuhr freudig auf, als er vernahm, daß Marco Mariani »einstweilen« die Hirtenstelle seines Vaters übernommen. Nun wurde er lebhaft. Er erkundigte sich nach jedem Stück der Herde und ließ ihrem neuen Hirten durch seine Mutter die besten Plätze anweisen; denn Marco wisse ja nichts von Tusculum! In seinem Eifer beachtete er gar nicht das Aussehen seiner Mutter, die totenbleich geworden war und wie geistesabwesend vor sich hinstarrte. Stammelnd und stockend belichtete sie, daß Marco Mariani und Marja ihn hätten besuchen wollen, aber nicht zu ihm gelassen worden wären; und sie erschrak tötlich, als Salvatore plötzlich in Thränen ausbrach, sich hinwarf und mit zuckendem Körper dalag. Seine Mutter kniete neben ihn hin; und da sie gar nicht wußte, was anfangen, murmelte sie alle Gebete her, die sie kannte, in einem fort sich durch jammervolle Anrufungen der Gottesmutter unterbrechend.

Als Salvatore sich etwas beruhigt hatte richtete er sich, durch Thränen lächelnd, auf und fing an, mit leuchtenden Augen von Marja Mariani zu reden. Er trug Laurina »viele viele Grüße« an sie auf und beschwor sie, das Mädchen an alle die Stellen zu führen, wo die schönsten Blumen wüchsen: die duftende Menthe und die stolze Königskerze liebe sie am meisten. Die Mutter sollte ihr sagen, daß er »immer, immer, immer« an sie denke und oft das Lied singe, sie wisse es schon, welches. Er habe jetzt auch etwas gelobt, Ihrem Vater schickte er gleichfalls freundliche Grüße. Das sei ein Mann!

Scheu versprach seine Mutter, alles bestellen zu wollen.

Sie teilte ihm mit: Marco Mariani und alle sagten, daß er freikommen müsse.

Ob er den Namen denn wirklich nicht mehr wisse? Sie würde es keinem verraten, wollte ihm geloben –

Aber er wußte den Namen wirklich nicht mehr.

Die Frau überlief ein neuer Fieberschauer.

»Sobald du frei bist, gehen wir fort, in die Abruzzen zurück oder sonst wohin.«

Nun geriet Salvatore außer sich. – Fort von Tusculum? Er wollte nicht fort! Und nicht eher beruhigte er sich, als bis seine Mutter ihm »gelobte« – er wußte jetzt, was das bedeutete –, auf Tusculum zu bleiben: immer! immer! Die zitternde Frau versprach alles, was er wollte.

Nachdem sie ihm wie gewöhnlich ein Brot, eine Flasche Ziegenmilch und einen großen Käse gegeben – es war alles, was sie ihrem gefangenen Liebling bringen konnte –, ging sie wieder. Marja hatte um das Bündel eine lange Kette an einander gereihter Blüten der Königskerze geschlungen. Sobald Salvatore allein war, wand er sich die Kette unter seinem Rock von Schaffell wie einen Talisman um den Hals. Er war glücklich: auf Tusculum befanden sich Marja und ihr Vater!


Wenn er sich auf den Tisch stellte und an das Gitter des kleinen Fensters anklammerte, so konnte er die schwachen Umrisse eines Bergrückens erkennen: Tusculum! Seit dem letzten Besuch seiner Mutter hing er an den Eisenstäben, bis seine Arme erlahmten und er vor Ermattung halb bewußtlos herabglitt.

Vorher hatte er, wenn er nicht an die Mutter, an Marja, ihren Vater oder an den vergessenen Namen des Mörders dachte, meistens in fieberhaftem Schlummer auf seinem Heusack gelegen. Wachte er, so fühlte er sich dermaßen matt, daß er sich kaum regen konnte. Plötzlich ging es ihm viel besser: das machte Marjas Blumenkette.

Einmal glaubte er, vor dem Gefängnis eine Mädchenstimme singen zu hören. Er sprang auf, kletterte zum Fenster empor, drückte sein Gesicht gegen die Eisenstäbe, hell aufschreiend: »Marja, Marja!«

Auch ein Priester besuchte ihn zuweilen, ein guter alter Kapuziner, dessen Kloster unterhalb von Tusculum lag. Zuerst scheute Salvatore die dunkle Gestalt und hatte sich am liebsten wie in den alten schönen Zeiten der Freiheit vor ihm verkrochen. Das würdige Wesen des milden Greises machte indessen einen starken Eindruck auf das verwahrloste Gemüt.

Mit dumpfem Staunen hörte er die Ermahnungen und Lehren des Mönches, dem ein derartig verwilderter Zustand etwas durchaus Gewohntes war. Aber so verständlich er auch dem jungen Sohne der Wildnis, dessen Begriffsvermögen angemessen, das Christentum predigte – Salvatores Geist war zu leidenschaftlich von anderen Empfindungen in Anspruch genommen, um so viel Wundersames und Geheimnisvolles begreifen zu können. Seine größte That dem Pater gegenüber war, daß er sich einmal zu der Frage aufraffte: ob man ein Gelöbnis halten müsse? Das bestimmte strenge Ja des Priesters verursachte eine mächtige Wirkung. Zagend erkundigte er sich, was ewige Verfluchung sei? – Ewiges Fegefeuer! – Und das Fegefeuer? – Höllische Flammen, in denen die Seelen brennen müßten. Und nun folgte eine haarsträubende Schilderung aller Qualen der Verdammnis, in bester christlicher Absicht gethan, eine Absicht, die in einer Weise erreicht wurde, daß selbst der gottesfürchtige Mann darüber erschrak. Der junge Christ geriet in einen Zustand von Angst und Entsetzen, der das Mitleid des Mönches erregte. Salvatore dachte jedoch nicht an sich, sondern an seine Mutter.

Es half also wirklich nichts – er mußte das Gelöbnis halten!

Er verfiel in ein Brüten, das dem Stumpfsinn glich: wie sollte er den Mörder entdecken, wie ihn töten, wie seine Mutter vor den gräßlichen Flammen bewahren? Zuweilen tauchten, Erscheinungen gleich, die Ruinen von Tusculum vor ihm auf, von goldigen Ginsterwogen umblüht, von Sonnenstrahlen umflossen. – Wundersam, daß die Blumen immer noch blühten, daß die Sonne immer noch schien! Und mitten unter dem Schimmer thronte eine kleine, in Rot gehüllte Gestalt, das Köpfchen mit Glanz gekrönt, eine Königskerze als Scepter in der Hand, ihm zunickend und zulächelnd.

Dann wiederum verschwand alles im Dunkel. Er tastete um sich, er tappte in eine warme Blutlache, in die er versank. Er sah vor sich das gräßliche Haupt, die brechenden Augen starr auf sich geheftet; er vernahm die furchtbare Stimme: »Gelobe!« Und immer wieder: »Gelobe!«

Von Zeit zu Zeit führte man ihn zum Verhör; doch man bekam nichts aus ihm heraus. Da er mit jedem Tage mehr und mehr hinschwand, so wurde er endlich freigelassen.

Das Gericht hatte seine Pflicht gethan und suchte nicht mehr nach dem Thäter. Der Todschlag auf Tusculum war irgend ein Racheakt gewesen. Das Gericht kannte das Volk und zählte solche Blutthaten nicht zu den Morden. Über ein Jahr war der Knabe gefangen gehalten worden.


Es war Sonntag und irgend ein Kirchenfest. Salvatore stand in Frascati auf dem Domplatz und starrte halb betäubt um sich. So viele Häuser und Menschen! Nirgends ein Fels oder ein Baum! – Der helle Sonnenschein brannte ihm in die Augen wie Flammen, die Strahlen drangen wie glühende Pfeile auf ihn ein.

Er konnte gehen, wohin er wollte: nach Tusculum hinauf zu seiner Mutter, zu Marco – zu Marja.

Er war frei!

Früher hatte er gar nicht gewußt, was das sei.

Salvatore wunderte sich, daß er, der so lange Zeit ausgeruht – er wußte nicht wie lange –, trotzdem so müde sei, daß ihm die Glieder so schwer am Körper hingen, daß er sich kaum aufrecht halten konnte. Auch ängstigte ihn, daß niemand ihn kannte, niemand um ihn sich kümmerte, daß er so allein auf der Welt war.

Auf der ganzen breiten Domtreppe kauerte, Kopf an Kopf gedrängt, fremdes hergewandertes Volk: Ciocciaren, Abruzzaten und Sabiner. Die Männer gingen in Felle gekleidet und die Frauen trugen die Trachten seiner Mutter. Das beruhigte ihn etwas. Einen von ihnen wollte er fragen, wo hinaus es nach Tusculum ginge?

Da fuhr er erschrocken zusammen. Über ihm begann es zu hallen und zu schallen, als ob die Sonnenstrahlen Klänge geworden wären. Er erkannte zwar bald, daß es Glocken waren; aber solches Getöse hatte er noch niemals vernommen. Es sauste ihm davon in den Ohren.

Nun nahm das Gewühl um ihn dermaßen zu, daß er hin- und hergestoßen wurde. Alles auf der Treppe stand auf und drängte vor. Mitten über den Platz hinweg machte man eine breite Bahn frei. Salvatore sah durch die weit geöffnete hohe Domthür tief in einen gähnenden dunklen Raum hinein. Durch die Finsternis drinnen zuckten viele kleine Flämmchen.

Ach, die Johanniswürmchen! dachte Salvatore voller Freude und wäre gern hingelaufen. Er hatte solange keine gesehen.

Dann kam die Prozession. Fast hätte Salvatore laut aufgeschrieen. An einem hohen Kreuz hing ein nackter Mann; er blutete gräßlich. Aber sie machten hinter ihm lustige Musik und auf dem Platze wurde aus großen Röhren geschossen. Dazwischen krachte und knatterte es unaufhörlich.

Es war ein Höllenlärm.

Salvatore wußte nicht, wie ihm geschah. Dicht an ihm vorbei zogen sie dahin: seltsam vermummte, bald rot, bald weiß oder blau gekleidete Männer, welche Fahnen und mächtige Bilder schleppten, die, an vielen Stricken befestigt, in der Luft schwankten. So ging es fort in langen langen Reihen über den Platz, die Treppe hinauf, in die Kirche hinein, wo der glänzende Zug, aus dem Sonnenlicht tretend, von dem Dunkel verschlungen zu werden schien. Aus den Fenstern schütteten die Leute unaufhörlich Blumen und Blätter hinab.

Plötzlich fiel alles auf die Kniee. Eine Frau neben Salvatore zog ihn mit sich hinab.

Als er wieder auf den Füßen stand, sah er eben noch eine Schar schimmernder Männer – sie trugen golddurchwirkte Gewänder und eine goldene Decke wurde über sie gehalten – in der Kirche verschwinden.

»Marja!«

Er rief es laut, sofort sie erkennend, obgleich sie sehr verändert war. Sie ging unter vielen anderen Mädchen, hatte ein blaues Kleid an, einen Rosenkranz auf dem Kopf und trug wie alle anderen eine brennende Kerze. Sie sah krank und blaß aus und hielt die Augen beständig auf den Boden gesenkt

Salvatores Ruf mußte sie in dem Getös der Musik und der Schüsse nicht gehört haben. Die Mädchen wurden von Nonnen geführt; sie gehörten einer geistlichen Körperschaft an, in der nur solche Kinder Aufnahme fanden, die von ihren Eltern dem Himmel geweiht wurden – gewöhnlich zur Sühne für eine schwere Schuld.

Als Salvatore auch Marja aus dem Sonnenglanz in die Nacht tauchen sah, rief er wieder ihren Namen schmerzlich, angstvoll.

Jetzt drängte das Volk in die Kirche. Salvatore ließ sich mitfortreißen: er wollte Marja suchen.

In die kühle Dämmerung tretend, fühlte er einen eisigen Schauer bis ins Herz hinein. Die er suchte, sah er nicht.

In der Kirche war es genau so, wie Maria ihm erzählt hatte; auch mit dem Rauch hatte es seine Richtigkeit. Wie Wolken stieg es vor den Lichtern auf, die trübe die dichten Dünste durchdrangen. Plötzlich teilten sie sich. In den Nebeln erschien, gleichsam schwebend, eine leuchtende Gestalt, die dreimal einen Namen rief: »Salvatore! Salvatore! Salvatore!«

Von Entsetzen gepackt, drängte Salvatore sich durch das Volt und entfloh.


Erst gegen Abend langte er auf Tusculum an. Er hatte nicht den Mut gefunden, jemand nach dem Wege zu fragen und war aufs Geradewohl zugegangen. Nun stand er droben, wie von tagelanger Wanderung zu Tode erschöpft, Fieberschweiß auf der Stirn.

Vor ihm lagen die Ruinen der tiberianischen Villa, ganz so wie vor einem Jahre von Ginster und Hollunder umblüht. Von der Herde war nichts zu sehen – auch nicht von Marja.

Sein scheuer Blick, darin bereits das Fieber glühte, heftete sich auf die Stelle, wo der Epheuvorhang die Öffnung in dem braunen Gemäuer versteckte. Dort war es gewesen!

Das gräßliche: »Gelobe!« seines sterbenden Vaters durchgellte den dreimaligen Ruf seines Namens; und mit dem goldenen Glanze, der um jene Gestalt geflossen war, mischte sich das dunkle rinnende Blut, in das er seine Hand hatte tauchen müssen. Aber drunten blieb alles still. Er schwankte weiter, durch einen jungen Pinienwald auf die antike Straße hinab. Auf diesem Weg umging er die unheimlichen Ruinen und gelangte auf die Höhe, wo am Rande des Waldes das Wächterhaus lag. Dort war seine Mutter!

Laurina sah ihren Sohn herangewankt kommen. Sie stieß einen Schrei aus und wollte ihm entgegen, blieb aber zitternd stehen. Aus dem Hause trat ein Mann: Marco Mariani.

Über das fahle Gesicht des Jünglings glitt ein glückseliges Lächeln. »Mutter!« rief er lallend.

Für Marjas Vater fand er keinen Namen; aber sein glänzender Blick grüßte ihn. Er taumelte auf die beiden zu.

Sie regten sich nicht, sie wagten nicht, aufzusehen. Wie zwei Schuldige standen sie da, wie zwei Verbrecher, zu denen ihr Richter kam. Marjas Vater atmete schwer, seine Augen stierten vor sich hin – was war aus dem Manne geworden!

Da erkannte Laurina den Zustand ihres Sohnes.

»Er stirbt!« kreischte sie auf und umfing den Sinkenden. Als Marco ihr helfen wollte, den Kranken ins Haus zu schaffen, stieß sie ihn leidenschaftlich zurück:

»Du sollst ihn nicht anrühren!«

Allein hob sie ihn auf und trug ihn, wie sie früher so oft gethan, von der Schwelle ins Haus hinein, auf das Lager, warf sich zu ihm nieder und brach in wilden Jammer aus. Der Mann fand nicht das Herz, hereinzukommen – mutig war er ja niemals gewesen.


Viele Wochen lag Salvatore bewußtlos, in Fieberphantasieen rasend. Seine Mutter verlor fast den Verstand dabei. Ein Arzt wurde natürlich nicht geholt, Laurina und ihr Mann wußten nichts von Ärzten; dafür betete die Frau Tag und Nacht: immer dieselben zwei oder drei Sprüche, die einzigen, die sie kannte. Auch gelobte sie eine Wallfahrt nach Loretto. Marco, der sich seit seiner Heirat mit der Witwe des Ermordeten dem Trunk ergeben, that gleichfalls ein Gelübde.

Wenn er das erfüllte und außerdem seine Marja – so oft er an sie dachte, hätte er aufschreien mögen – dem Himmel weihte, dann mußte er ja zur Genüge gesühnt haben, wenn er etwas zu sühnen hatte.

Zuweilen sah der gute alte Mönch nach dem Todkranken. Er brachte allerlei Tränke mit. Mehr jedoch als auf diese Heilmittel verließ sich Laurina auf die Gebete des gottesfürchtigen Mannes, der denn auch versprach, das Seinige thun zu wollen.

Auch Marja erfuhr, daß ihr ehemaliger Spielgefährte am Sterben liege; aber wie sie auch bat und flehte, ihn noch ein einzigesmal sehen zu dürfen – die frommen Schwestern ließen sie nicht fort. Als sie vernahm, daß ein Mensch durch Gebete gerettet werden könne, lag sie die ganze Nacht hindurch auf den Knieen. Tagsüber mußte sie für anderes beten.

In seinen Phantasieen sang Salvatore fortwährend jene Mahnung zur Blutrache. Marco konnte es nicht mit anhören, ging fluchend hinaus, oft noch nachts hinunter nach Frascati in die Bottega und betrank sich. Laurina kauerte am Boden, warf die Schürze über den Kopf und wimmerte vor sich hin.

Eines Nachts erwachte der Kranke. Er fühlte brennenden Durst, konnte sich jedoch weder aufrichten, noch vermochte er zu rufen. Alle Erinnerung in ihm war noch tot. Dabei befand er sich bei Bewußtsein und erkannte, von dem matten flackernden Schein der erlöschenden Öllampe beleuchtet, Wände und Decke der Hütte. Jetzt hörte er auch die Mutter: sie weinte. Wahrscheinlich war sein Vater wieder betrunken und schlug sie. Wie er ihn haßte!

Gewaltsam hielt er sich zurück, seiner gemißhandelten Mutter beizustehen, aus Erfahrung wissend, daß das die Wut des Berauschten gegen sie verdoppelte. Mit weinschwerer stammelnder Zunge hörte er diesen reden:

»Du weißt, warum ich's gethan – eh, oder weißt du's nicht? Wer hat mich damals auch verachtet, als ich's nicht that?! He, wer?! Ich mußte es thun, ich hätte eher keine Ruh' gehabt. Hab's lang genug mit mir herumgeschleppt. Das mit dem Buben hat es nur schlimmer gemacht! Damals hing das Weib gleich an meinem Hals, die Dirne; damals war ich ihr gut genug – damals! Als ob ich ihr nicht hätte geloben müssen, es zu thun – nun hab' ich's gethan! Totgeschlagen hab' ich ihn wie einen Hund – den Hund! Nun ist's wieder nicht recht, wegen des Buben! Stirbt er nicht, so schlag' ich ihn auch noch tot, wenn's auch mein eigener ist – Gott verdamm' ihn! Heule nicht so, oder ich will dich –«

»Rühr mich nicht an!« Es war wie ein heiseres Auflachen, wie ein dumpfer Schlag, wie ein erstickter Schrei. Der Kranke hatte sich aufgerichtet. In demselben Augenblick erlosch das Licht.


Salvatore blieb leben, aber er war blödsinnig geworden – wenigstens behaupteten es die Leute. Auch sein Stiefvater, selbst seine Mutter gaben es zu.

Es war nichts mit ihm anzufangen. Mit leerem Blick schlich er umher; kaum, daß er Nahrung nahm. Seine Mutter scheute er plötzlich; und wenn er deren Mann kommen sah, so lief er fort und verkroch sich vor ihm. Die Nächte brachte er in den Ruinen zu und zwar mit einer unheimlichen Vorliebe in dem unterirdischen Raume, in welchem sein Vater ermordet worden war – im Schlafe!

Auch am Tage hielt er sich vielfach hier auf, wo die gelbe Marmorwand noch immer dunkle Flecken trug. Sobald seine Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, konnte er sie deutlich sehen. Stundenlang kauerte er auf dem Boden und starrte darauf hin. Zuweilen kam ihm bei diesem Anblick plötzlich in den Sinn, daß er ein Lied wisse. Er sang es. Seine Mutter war unschlüssig, ob sie nach Loretto pilgern solle oder nicht? Schließlich unterließ sie's. Auch ihr Mann wußte nicht, was mit seinem Gelöbnis beginnen: Salvatore lebte ja!

Während Salvatore wie im Traum dahinlebte, drängte sein Stiefvater unaufhörlich, von Tusculum fortzugehen, zurück in die Abruzzen, wo er sich »zeigen«, wo er ein »angesehener Mann« werden könne. Aber Laurina war dazu nicht zu bewegen: sie habe ihrem Sohn »gelobt« zu bleiben. Salvatore, so stumpfsinnig er zu sein schien, hätte sich auch niemals von Tusculum getrennt.

Marco verfiel mehr und mehr dem Trunk, sein Unglück an seinem Weibe rächend, was Laurina auch ruhig geschehen ließ. So vergingen einige Jahre.

Während dieser ganzen langen Zeit kam Marja nur ein einzigesmal, eines Sonntags, nach Tusculum hinauf. Ihr eigener Vater erkannte sie nicht.

Sie war groß und schön geworden; aber ganz verwandelt, blaß und stumm. Marco, der zufällig zu Hause war, konnte ihren Anblick nicht ertragen. Er ging fort, in den Wald hinein, warf sich auf den Boden und weinte. Drinnen saßen Laurina und Marja einander stumm gegenüber. Salvatore war natürlich nicht da. Die Frau sah gedrückt aus und wußte nicht, was sie sagen sollte. Nachdem das Mädchen ihre neue Mutter eine lange Weile still angesehen – ein Blick, dem Salvatores Mutter ausweichen mußte –, begann sie mit leiser müder Stimme.

»Also Euch hat mein Vater lieb; und Ihr seid – seine Mutter?«

Laurina wäre gern auch hinausgegangen: sie empfand Furcht vor dem blassen ernsthaften Kinde. Marja sprach weiter.

»Euer erster Mann ist erschlagen worden, niemand weiß, von wem. Wenn Euer Sohn es wüßte, so müßte Euer Sohn ihn töten.«

»Warum sollte er das wohl müssen?« murmelte Laurina.

»Er wird das Lied nicht vergessen können, ich kenne ihn. Ich habe das Lied von meinem Vater gelernt. Mein Vater sang es auch immer – jetzt singt er es gewiß nicht mehr.«

»Warum sollte er es jetzt wohl noch singen?«

»Ich wüßte es auch nicht. – Ist's wahr, daß Ihr Laurina heißt?« »'s ist ein christlicher Name.«

»Über eine Laurina hat meine tote Mutter oft bitterlich geweint; ich wußte niemals, weshalb – jetzt weiß ich's. Ihr seid doch wohl diese Laurina?«

»Warum sollt' ich's nicht sein?« rief das Weib trotzig. »Ich bin's!«

»Das habe ich gleich gewußt, als ich hörte, daß mein Vater Euch geheiratet hätte,« erwiderte Marja ruhig, »Aber ob seine arme Seele jetzt Frieden hat?«

»Warum sollte sie jetzt wohl nicht Frieden haben?« wollte Laurina hervorstammeln; doch die Worte erstarben ihr auf den Lippen. Sie beeilte sich, etwas Speise für den Gast zusammenzutragen; aber Marja mochte nichts anrühren – »Nein, keinen Bissen!«

Sie wollte ihren ehemaligen Spielgefährten suchen.

»Er soll ja wohl ein Narr geworden sein?«

Seine Mutter nickte heftig und begann zu schluchzen.

»Er hat Euch sehr lieb gehabt, ebenso lieb, als ich meinen Vater,« sagte das blasse Mädchen und ging. Vom Walde her kam ihr Vater ihr entgegen. Sie blieb stehen und ließ ihn bis dicht zu sich herankommen. Wie lange das dauerte!

»Ich habe drinnen mit meiner neuen Mutter, die Laurina heißt, gesprochen. Sie wird Euch wohl sagen, was.«

»Wie du mich ansiehst! – Was haben sie im Kloster aus dir gemacht?!«

»Nichts anderes, als was Ihr wolltet, daß sie aus mir machen sollten, Vater.«

»Willst du wieder heraus? Sag's nur.«

»Ich will nicht wieder heraus. Ich will eine fromme Nonne werden und für Euch beten, Vater.«

»Ja, das thu!«

»Freilich thu' ich das. Deshalb habt Ihr mich ja auch hineingethan.«

»Auch für deine Mutter mußt du beten.«

»Für welche? Für die tote oder für die lebende? Die lebende ist Euch die liebere, die bedarf es wohl auch am meisten.«

Marco schien sie nicht verstanden zu haben.

»Aber wenn du wieder heraus willst –«

»Was sollte ich wohl hier draußen? Meine neue Mutter lieb haben und mit dem armen tollen Salvatore Blumen pflücken? Damit ist's vorbei. Da ist's denn besser, ich bleibe drinnen, habe nur die guten Heiligen lieb und winde Kränze für die Gottesmutter. Das will ich auch, bis mir die Hände davon schmerzen; meine Seele thut mir ohnedies weh genug. Wenn's Euch nur zu gute kommt.«

Er wollte etwas sagen, irgend etwas; aber sie unterbrach ihn und sah ihn wieder unverwandt an.

»Ach, Vater, armer Vater! Wie seht Ihr aus! Euch wär's auch besser, Ihr büßtet im Fegefeuer Eure Sünden, als daß Ihr meine neue Mutter küßtet. Jeder Kuß muß Euch ja ärger in der Seele brennen, als eine Flamme das kann. Gott sei Euch gnädig!«

Sie schlug beide Hände vor das Gesicht und ging langsam davon. »Marja!« rief er ihr nach und noch einmal: »Marja!« Da blieb sie stehen und ließ die Hände sinken.

»Ich bin heraufgekommen, um Abschied von Euch zu nehmen. Morgen werde ich Novize, und übers Jahr kleiden sie mich ein. Dann legen sie mich in einen Sarg; dann bin ich für die Welt und für Euch tot und begraben. Ihr seht mich heute zum letztenmal als eine Lebendige. Lebt wohl!«

»Marja! Marja!« schrie er wieder. Aber diesmal ging sie fort ohne sich umzusehen.


Salvatore lag im griechischen Theater auf der höchsten Stufe und sah zu, wie auf den Treppen und in dem Halbkreis des einstmaligen Chores die Lacerten ihr anmutiges Spiel trieben. Sie jagten einander, schnellten die Stufen hinab und hinauf, huschten durch das hohe Kraut und die Blumen, ein lustiges glänzendes Sonnenvölklein.

Dasselbe thaten in der Luft Scharen gelber und braunroter Schmetterlinge. Sie hingen sich in dichten Schwärmen an die Kelche und das Gestein, stoben wieder auf und auseinander wie sprühende Funken.

Es war im Frühling. Die großen, dunkelvioletten, stark duftenden tusculanischen Veilchen quollen aus allen Fugen und Spalten. Um den alten Opferstein mitten im Chore, der durch ein tief eingemeißeltes Kreuz dem Christentum überliefert worden war, blühte ein Teppich blauer Anemonen; und der ulmenbeschattete Weg mit den antiken Pflastersteinen, der vom Forum her auf die Scena führte, schimmerte von Tazetten und Sternblumen, als sei mitten in den römischen Frühling Schnee gefallen.

Die hohe Brüstung, die den Zuschauerraum ringsum abschloß, trug auf ihrem grauen Gemäuer eine Bekränzung von Goldlack.

Was man über den Bergrücken hinweg sehen konnte: Gebirge, Meereslüfte und Campagna, die ganze ungeheure Weite, war Schimmer und Glanz.

Sogar Salvatores verworrenes und umdüstertes Gemüt empfand die bacchantische Stimmung der Natur an einem dumpfen schmerzlichen Sehnen: er sehnte sich, die Augen schließen zu dürfen und nichts mehr empfinden zu brauchen, nicht Haß und nicht Liebe, nicht Müdigkeit und nicht Schmerz. Selbst eine Bewegung zu machen, kostete ihn Mühe; selbst das Gefühl der Sonnenwärme, das bis dahin immer sein liebstes Lebensbewußtsein gewesen war, fing an, ihm zu viel zu werden. Er sehnte sich nach Schlaf; aber nach einem Schlaf ohne Traum. Seine Träume mit ihren Bildern und Gesichtern waren schrecklich. Er fürchtete sich vor dem Leben wie vor einem blutigen Gespenst, das ihn ohne Unterlaß reizte, eine fürchterliche That zu begehen. Wenn er dem Gesang der Lerchen und Drosseln zuhören wollte, so hörte er eine Stimme donnern: »Gelobe!« Und in jedem Glockenklang vernahm er den Ruf: »Salvatore!«

Hätte er gewußt, was Selbstmord sei – keinen Tag würde er länger gelebt haben.

That er es nicht: rächte er nicht, so war seine Mutter verflucht – in Ewigkeit!

An sich selbst dachte er noch immer nicht ...

Heute hatte er wieder eine seiner Visionen: Durch den knospenden Ulmengang, über den grüngoldige Schleier niederzusinken schienen, sah er es auf sich zukommen, langsam, langsam: eine hohe schlanke Gestalt, im blauen Kleide, in einen weißen Schleier gehüllt. Er sah nicht, daß sie dahin schritt. Sie schien durch die schneeigen lichten Blüten zu schweben, von Scharen lichter Schmetterlinge umflattert, die wie Sonnenstrahlen von ihr aufstoben. Der Glanz des Tages umfloß sie.

Er fürchtete sich gar nicht. Wäre er nicht so matt gewesen, er hätte sich aufgerichtet, beide

Arme nach ihr ausgestreckt und sie angerufen wie damals: »Marja! Marja!«

So blieb er liegen und grüßte sie nur mit den Augen.

Sie kam näher und näher! Sie betrat die Scena, wandelte langsam um den Altar durch den Chor, stieg die Stufen hinauf und blieb dicht vor ihm stehen.

Er rührte sich nicht.

»Kennst du mich nicht? Ach, Salvatore. Salvatore, was fehlt dir?«

»Du bist es, Marja? Ich weiß es auch nicht, Marja! Aber ich soll meinen Vater rächen. Mein Vater ist nämlich ermordet worden – im Schlaf, Marja!«

»Von wem?«

»Weißt du das nicht? – Du hast deinen Vater ja schrecklich lieb; so sagtest du damals: schrecklich lieb. Ich habe es ganz gut behalten. Ich bin nicht so toll, als sie meinen.«

»Und du hattest deine Mutter lieb.«

»Hab' ich das damals gesagt? Ich weiß es nicht mehr. Aber es wird gewiß so sein. Ach, Marja, Marja, warum bist du von uns gegangen?«

»Ich habe gelobt, dem Himmel angehören zu wollen.«

»Gelobt hast du's? Weißt du auch, daß du dein Gelöbnis halten mußt?«

»Das weiß ich.«

»Sonst wird dein Vater verflucht – verflucht in Ewigkeit, Marja!«

»Ich kann ihn losbitten.«

»Was kannst du?«

»So lange beten und bitten, bis der Fluch von ihm genommen wird.«

»Wie kannst du das?« »Eben dadurch, daß ich mich dem Himmel gelobe. Du solltest es auch thun.«

»Ich auch? Kann ich denn zweimal geloben?«

»Wenn du dich Gott gelobst, so hat kein anderes Gelöbnis mehr Macht über dich. Das habe ich mir für dich von dem Pater Kapuziner sagen lassen; der Pater Kapuziner will es dir selbst sagen.«

»Aber das Fegefeuer, Marja? Die schrecklichen Flammen –«

»Grad' von dem Fegefeuer kannst du deine Mutter losbitten. Gelobe dich dem Himmel an!«

Sie bat ihn flehentlich mit aufgehobenen Händen.

Er mußte sich erst lange besinnen, bis er es zu fassen vermochte. Doch seit sie vor ihm stand, war in ihm etwas wie aus langem bangem Schlummer erwacht.

»Wenn ich mich dem Himmel gelobe, so kann ich meine Mutter von den ewigen Flammen losbitten.« Er begriff es. Plötzlich begriff er's!

»Ach, mein Salvatore, das kannst du gewiß! Du kannst bitten, daß sie selig werde. Die Heiligen sind so gut.« Wiederum schwieg er eine lange Weile, sie unverwandt ansehend. Seine Lippen zuckten, über seine bleichen eingefallenen Wangen rollten langsam schwere Thränen.

»Neige dich zu mir herab, ich will dir etwas sagen.«

Sie that es sogleich, am ganzen Leibe zitternd, und mit einem Ausdruck von Schreck und Entsetzen, als erwarte sie etwas Furchtbares zu hören. Mit ersticktem Schluchzen flüsterte er ihr zu:

»Denke dir, er schlägt meine Mutter!«

Da warf sie sich zu ihm nieder, faßte mit beiden Händen seinen Kopf, drückte ihn gegen ihre Brust und weinte mit ihm.


Marja hatte ihn wieder verlassen, nachdem er ihr versprochen hatte, sich Gott geloben zu wollen. Der alte Mönch sollte ihn holen: gleich am nächsten Tage, schon früh morgens.

Er war wie verwandelt, fühlte sich neu belebt. Die Thränen, die er am Herzen seiner ehemaligen Spielgefährtin geweint, hatten ihn erlöst.

Hoch aufgerichtet, festen Ganges schritt er über den blühenden Berg. Er hörte die Lerchen über sich singen, unter sich die Glocken läuten und vernahm keine gespenstischen Stimmen mehr. Wie ein Auferstandener atmete er den Hauch der auferstehenden Natur ein. Sein Gesicht belebte sich, ein Schimmel alten Glanzes kehrte in seine Augen zurück. Er hätte gern gesungen; aber ihm fiel kein Lied ein, außer jenem einen. Und das war von jetzt an für ihn verklungen.

Plötzlich blieb er stehen, den Atem anhaltend, wie festgebannt. Seine Augen wurden starr, die eben noch so friedlichen Züge nahmen einen schrecklichen Ausdruck an, ein Schauer durchlief seinen Körper, es überkam ihn wieder jenes entsetzliche Gefühl, als ob sich Gesicht und Hände mit gerinnendem Blut bedeckten. Im Grase, das über ihm zusammenschlug, ruhte Marco Mariani, fest schlafend; daneben lagen sein langer Hirtenstab und sein Dolchmesser – es hatte dem Gemordeten gehört.

Einen Augenblick war's, als wolle Salvatore sich herüberbeugen, das Messer ergreifen und zustoßen – aber nur einen Augenblick, Dann rief er laut:

»Marco Mariani!«

Der Schläfer fuhr in die Höhe, sah den Jüngling vor sich stehen, sah dessen wilden Blick, griff nach seinem Messer und sprang auf.

Über Salvatores Züge glitt es wunderbar hin: Trauer, Gram, tödlicher Schmerz, Verachtung – Vergebung.

»Ich morde nicht im Schlaf!«

Noch einmal sah er in das erblaßte Gesicht des Mörders, sah ihm fest in die Augen, die vor Grausen aus ihren Höhlen zu treten schienen. Dann wandte er sich langsam ab, schritt er langsam davon.

Er brachte die Nacht wachend in der Ruine zu; früh am andern Morgen ging er dem Pater Kapuziner entgegen. Von seiner Mutter nahm er nicht Abschied.


In Frascati war wieder eine große Kirchenfeierlichkeit.

Auf dem Platz drängte sich in ungewöhnlicher Menge das Volk. Die Straßen, durch welche die Prozession ziehen sollte, waren mit Buchsbaumzweigen bestreut; und die Kinder hatten auf dem Pflaster aus Blumen Namenszüge gebildet. Aus den Fenstern hingen rote Seidendecken herab, hier und dort hatte man Madonnen- und Heiligenbilder aufgestellt, vor denen Kerzen brannten. An verschiedenen Stellen waren aus blühendem Ginster Triumphbogen geflochten.

Der Dom glich einer ungeheuren prunkenden Gruft. Bis zum Ansatz der Wölbungen bekleideten schwarze Draperieen die Säulen und Wände; schwarz behangen war auch der Altar, auf dem dreizehn hohe Wachskerzen brannten. Es mußte ein Totenamt gehalten werden.

Die Thüren des tusculanischen Kapuzinerklosters und des Heiligtums Sant Augustins waren bekränzt. Rosen lagen auf der Schwelle.

Aus Rom traf am Morgen der Bischof ein.

Gegen Mittag näherten sich von zwei verschiedenen Seiten dem Dom zwei Züge: vom Kapuzinerkloster herab die Mönche, brennende Kerzen haltend, eine Sterbelitanei singend. In ihrer Mitte schritt in einer schwarzen Kutte, die Abbildung eines Totenschädels auf der Brust, ein Jüngling. Er trug das Haupt, das bald die Tonsur schmücken sollte, tief gesenkt. Hinter ihm wurde ein offener Sarg getragen.

Der andere Zug begab sich in dem nämlichen feierlichen Pomp vom Kloster des heiligen Augustinus nach dem Dom. Schwarze Schleier verhüllten Gestalt und Antlitz der Himmelsbraut. Auch hinter ihr wurde ein Sarg mitgeführt und die Nonnen trugen Grabkerzen und sangen Sterbelieder.

Sie zogen in den Dom, stellten sich zur Rechten und Linken des Hochaltars auf: die Weihen – die Mysterien begannen.

Vor dem Altar standen, von Mönchen und Nonnen umringt, die beiden Särge. Braut und Bräutigam legten sich hinein. Sie konnten sich dabei ansehen: und thaten es ruhig und hoffnungsvoll, fast freudig.

Während der schauerlichen Klänge des Miserere erlosch am Altar eine Kerze nach der andern. Bei der letzten großen Lamentation, welche die Herzen aller Hörer erbeben machte, ward es ganz dunkel.

Sie waren für die Welt gestorben und begraben.

Sie wurden für den Himmel, zum Leben erweckt.

Triumphierende Trompeten schmetterten, jubelnd fiel der Chor ein, überall sanken die schwarzen Verhüllungen, in rotem Seidenglanz erstrahlten die Wände, erstrahlte der Altar. Glorie schien sich über die beiden Auferstehenden zu ergießen: blendendes Sonnenlicht!

Die Kerzen flammten wieder auf, das ganze Heiligtum erleuchtete sich. Beim Geläute aller Glocken vermählte der Bischof die beiden dem Himmel.

Mit fester Stimme thaten sie die Gelübde.

Wieder begegneten sich ihre Blicke: glanzvoll, verklärt.

Im Triumph führte man sie durch die Stadt. Die junge Nonne schritt in weißen Schleiern dahin, der junge Mönch trug seine Kutte.

In einer engen Gasse stockte der Zug, geriet er in Verwirrung. Ein trunkener Campagnole hatte sein Weib, das sich vor dem frommen Zuge auf die Kniee geworfen, emporgerissen und dann mit einem Faustschlag niedergeschlagen. Man mußte die Frau besinnungslos forttragen.

Sowohl die Nonne als der Mönch hatten die Mißhandlung mit angesehen. Gern hätten beide gerufen:

»Seid getrost, Mutter, Vater! Für diese Welt ist euer Leben Schuld und Jammer – für jene wird es Vergebung und Gnade sein. Eure Kinder bitten für euch!«

Dann gingen die beiden Züge auseinander: jeder seinem bekränzten Heiligtum zu ... dann trennten sich die Geschwister.


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