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Vierzehntes Kapitel

Sieben lange Monate sind vergangen. Sommerliche Lüfte wehen durchs Land, und der Wald hat gerade zu Pfingsten sein schönstes hellgrünes Kleid angezogen.

Am hohen blauen Himmel ziehen kleine weiße federleichte Wolken hin. Das Meer ist blank wie ein Spiegel und die Luft verlockend mild und warm.

In Ströms Garten stehen die Kirschbäume in voller Blütenpracht; sie sehen aus, als seien sie in große weiße Schleier gehüllt, und wenn Frau Ida über den Grasplatz wandelt, rieseln die feinen weißen Blumenblätter wie Schnee auf ihr dunkles Haar herab. – – –

Ejna ist mit Blumen zu ihres Vaters Grab gegangen, und Ström macht mit seiner Ida einen Spaziergang den Waldweg entlang, aber Frau Staal sitzt mit einer Handarbeit in der Veranda auf der Südseite des Hauses. Sie ist bald nach dem Tod des Obersts mit Ejna nach der Hauptstadt gezogen, aber in allen Ferien besuchen sie Ströms, und Frau Staal freut sich jedesmal wie ein Schulmädchen auf das Wiedersehen mit ihrer Jüngsten. Erst als Ida sich verheiratete und nicht mehr bei ihr war, hatte Frau Staal ihren wahren Wert erkannt. Sobald sie mit Ström allein ist, erzählt sie ihm auch jedesmal, daß ihr »Petersen unersetzlich sei«, und jedesmal stimmt er ihr eifrig bei, was sie sehr zu trösten scheint. Das heißt, ganz so schlimm ist es nicht – Ejna gibt sich wirklich die größte Mühe, eine gute, aufopfernde Tochter zu sein, und Frau Staal dankt jeden Tag ihrem Schöpfer für die große Veränderung, die mit ihr vorgegangen ist; aber natürlich muß alles seine Zeit haben, und wenn Ejna jetzt auch auf dem rechten Wege ist, so wird es doch noch eine Weile dauern, bis sie bei ihrer Mutter Petersens Platz ausfüllen kann.

Ja, das hätte sich wohl kein Mensch gedacht, daß es einmal Ejnas Streben sein könnte, ihrer Schwester Petersen zu gleichen, und daß es ihr so schwer fallen würde, dieses Ziel zu erreichen.

Frau Staal läßt die Arbeit in den Schoß sinken und sieht nachdenklich vor sich hin; vor ihrem innern Auge steigt eine Erinnerung nach der andern auf an die Zeit, als noch alle drei Töchter zu Hause waren.

Wie merkwürdig sich doch alles gestaltet hat!

Ejna, die voll stolzer Träume gewesen war und die größten Aussichten gehabt hatte, sie verwirklicht zu sehen, sie, mit ihrem schönen Äußern, ihren reichen Gaben und ihrem stolzen, vornehmen Wesen, sie, die gefeierte Schönheit, von der man geglaubt hatte, das Glück würde ihr sofort in die Arme fliegen, sie hatte eben das Glück einmal ums andre an sich vorübergehen lassen, und dadurch war ihr die Jugend zu einer Reihe von Enttäuschungen und bittern Demütigungen geworden.

Und Flora, die immer die Wirklichkeit von sich geschoben und ihr Glück in einer eingebildeten Welt gesucht hatte – sie, deren lebendige, flimmernde Phantasie sie die Dinge stets durch einen verschönernden oder entstellenden Schleier hatte sehen lassen – war sie wirklich glücklich dort drüben in dem gelobten Sonnenlande?

Das war nicht leicht zu sagen.

Nach den langen begeisterten, überschwenglichen Briefen zu urteilen, war sie immer noch dieselbe gutmütige, aber oberflächliche, flüchtige Flora, die sie von jeher gewesen war. Immer wieder sandte sie der Mutter Bilder von sich selbst und ihrer Umgebung, aber die abenteuerlichen Kostüme und theatralischen Stellungen überzeugten Frau Staal, daß Flora in ihrem neuen Heim gewiß noch seltener »sie selbst« war, als sie es im Elternhause gewesen war.

Aber Petersen – Ida – das kleine, bescheidene Mädchen, die am wenigsten hervortretende, am wenigsten schöne Tochter, sie, die nie an sich selbst gedacht, die niemals große Ansprüche ans Leben gemacht hatte – sie hatte das Glück ohne Mühe und Kampf gefunden.

»Und warum? – Ja, warum?« fragt Frau Staal sich selbst; aber diese Tochter kennt sie so genau, daß sie die Antwort gleich bereit hat.

Weil Petersen immer sich selbst über andern vergaß – und das zu können, ist des Weibes größtes Glück.

* * *

Jetzt ertönen Stimmen unten auf dem Wege. Frau Staal steht auf und verbirgt das kleine zarte Kleidungsstück, an dem sie gearbeitet hat, unter der Decke des Nähkorbes. Sie hofft, noch vor Weihnachten das Erstgeborene ihrer jüngsten Tochter damit schmücken zu können; Ejna und sie sind schon längst zu dessen Paten ernannt.

Und langsam geht Frau Staal den sonnenbeschienenen Gartenweg entlang – ihren Kindern entgegen.

 

Ende


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