Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Na, Mutter, was sagst denn du zu der Verlobung?« fragte Oberst Staal, während er Froms Brief zu den beiden andern legte. »Es ist wirklich, als sollte man seine Mädchen nur aus diesem Nest hinauslassen, und sofort sind sie verlobt,« fügte er scherzend hinzu. »Flora kann tatsächlich behaupten: ich kam, ich sah, ich siegte!«

Frau Staal sah ihren Mann mit müden Augen unsicher an.

»Ja, ich bin nun einmal nicht für solche übereilte Verlobungen. Es ist ja unmöglich, daß sie einander in der kurzen Zeit richtig kennen gelernt haben.«

»Ach,« sagte der Oberst tröstend, »dort drüben sind die Verhältnisse ja ganz anders als hier. Flora schreibt ja, daß sie jeden Tag in Gesellschaften und auf Bälle gehen, und da haben sich die beiden jungen Leute natürlich immer getroffen.«

»Die jungen Leute,« wiederholte Ejna. »Frau From schreibt ja, er sei hoch in den Vierzigern.«

»Ach, wir kennen ja Frau From,« fiel Petersen ein, »es wäre viel schlimmer gewesen, wenn sie ihn gelobt hätte; wenn sie unliebenswürdig wird, kann man immer sicher sein, daß sie neidisch ist. Das bedeutet also, daß er brillant ist. Er sieht auch auf dem Bild ausgezeichnet aus – und was für einen schönen Namen er hat! James O'Brian. Nein, wie das nach Walter Scott klingt – nicht wahr? Und bedenke doch, Mutter, daß er aus königlichem Geblüt ist! Seid ihr nicht stolz, in eine so feine Familie hineinzukommen? Wie das Flora ähnlich sieht, eine solche Partie zu machen! Sie ist wirklich großartig!«

»Ja, Ejnar,« nahm Frau Staal wieder bekümmert das Wort, »das mit der königlichen Abstammung ist mir auch ein bißchen verdächtig. Glaubst du, daß es wahr ist?«

»Darüber will ich mir wirklich kein Kopfzerbrechen machen, liebe Meta,« erklärte Oberst Staal, indem er aufstand und die Briefe zusammenlegte. »Die Hauptsache ist, daß der Mann, mit dem Flora jetzt wahrscheinlich schon verheiratet ist, ein guter Mensch ist und sie lieb hat; nach allen drei Briefen zu urteilen, ist diese Sache ja in Ordnung.«

»Ich kann nur nicht begreifen,« fing Frau Staal wieder an, »daß er sich so schnell in sie verlieben konnte. Flora ist nicht reich, und man kann sie nicht eigentlich schön nennen, und überdies hat sie ja dieses entsetzlich theatralische Wesen.«

»Nun, es ist ja möglich, daß es dort zu der ganzen Umgebung paßt,« meinte Ejna. »Und wenn auch Flora nicht nach allen Regeln schön ist, so kann sie doch großartig aussehen. Hier auf dem Bild ist sie ja geradezu prachtvoll. Dazu hat Frau From sie mit eleganten Pariser Toiletten versehen, und Flora hat in großer Toilette immer gut ausgesehen. In einem dunkeln Winterkleid dagegen oder im Hausgewand sah sie immer recht unbedeutend aus. Sie hat eine elegante Figur und ist auch nicht ohne Talent, sie kann ihren Platz wohl ausfüllen. Es wundert mich gar nicht, daß sie in dem Umgangskreis dort einen Mann bezaubern konnte, und ich freue mich von Herzen, daß sie nun ein eigenes Heim hat.«

»Ein Heim, wo es durchs Dach regnet!« meinte Frau Staal seufzend. »Großer Gott, wie mag es in den Zimmern aussehen!«

»Ach, Mutter,« fing Petersen wieder an, »das schreibt Frau From nur, damit du nicht allzu stolz und hochmütig auf deinen königlichen Schwiegersohn wirst. Flora schreibt ja, daß sie lange nicht so viel Regen haben, als sie wünschen und brauchen könnten, und glaub mir, das Dach wird schon gemacht werden. O, wie herrlich muß es dort sein, wo man nicht einmal Glasscheiben in den Fenstern braucht!«

»Das Schlimmste aber ist meiner Ansicht nach, daß die Jalousieen keine Haken haben,« murmelte Frau Staal kopfschüttelnd. »Daß jemand in so einem Haus zu wohnen wagt! Es kann sicher nicht einmal ordentlich geschlossen werden.«

»Na ja, liebe Mutter,« versuchte der Oberst sie zu trösten, »dann ist es doch wenigstens kein ›verschlossenes Paradies‹. Komm, wir wollen uns nun freuen, daß Flora ein Heim bekommen hat, wie Ejna sagt. Auf die Dauer hätte es ihr vielleicht doch bei Froms nicht gefallen. Ich meine, bei Frau From, denn er ist ein Edelstein, das geht aus seinem treuherzigen Brief deutlich hervor. Floras Theatergrillen haben mir schon immer viel Sorge gemacht, und ich bin froh, daß sie sich dieses Zeug aus dem Kopf geschlagen und andre, bessere Interessen bekommen hat – nämlich einen Mann zu pflegen und ein Haus in Ordnung zu halten.«

»Ja, ich bin wahrlich auch nicht von Floras Theatersucht erbaut gewesen,« seufzte Frau Staal. »Aber als Hausmutter wage ich sie mir erst gar nicht vorzustellen. Sie ist ein gutes Mädchen, das nett Klavier spielt und hübsch tanzt, außerdem hat sie dein Sprachtalent geerbt, Ejnar; ja, ein bißchen Komödie spielen kann sie auch noch – und die herausforderndsten Kostüme mit verblüffender Dreistigkeit tragen; aber über das hinaus kann sie gar nichts. Sie hat keine Ahnung vom Führen eines Haushalts; ja, ich muß mich schämen, das von meiner eigenen Tochter zu sagen – aber ich glaube nicht, daß sie das einfachste Gericht kochen kann.«

»Aber, Mutter, du hast bei Floras Brief gar nicht ordentlich zugehört,« sagte Petersen vorwurfsvoll. »Sie schreibt ja nichts davon, daß die Frauen sich dort um den Haushalt kümmern. Ganz im Gegenteil, gerade das, was du eben an ihr anerkannt hast, Spielen, Tanzen und so weiter, ist ja, soviel ich verstehe, das einzige, was man in jenem Land von den Damen verlangt. Ich stimme deshalb ganz mit Flora überein und meine, wir sollten uns mit ihr über die Verlobung freuen. Dagegen bin ich der Ansicht – doch das geht mich ja nichts an – –«

»Was meinst du?« fragte der Oberst kurz.

»Ich bin der Ansicht, daß wir Flora etwas zur Hochzeit schenken müssen – meinst du nicht, Vater? Es ist doch recht beschämend, daß Froms ihr alles geben, was sie braucht.«

»Daran habe ich auch schon gedacht,« sagte Frau Staal.

»Ja, Petersen hat recht, Vater,« meinte auch Ejna. »Flora muß als Mitgift eine Summe Geld bekommen, und wenn sie noch so klein sein sollte.«

»Ob wir ihr nicht lieber einige Kleider oder Silbersachen schicken? Flora kann nicht mit Geld umgehen.«

»Nein, Mutter, glaub mir, sie werden sich am meisten über Geld freuen,« sagte Petersen, die entzückt war, daß ihre Idee allgemeinen Anklang gefunden hatte. »Vater kann es ja an ihn – unsern Schwiegersohn – schicken; dann braucht er vielleicht das Zuckerfeld nicht zu verkaufen, wie Frau From schrieb.«

»Ja, die Idee ist gar nicht schlecht,« sagte der Oberst vergnügt. »Und es ist jedenfalls nicht alltäglich, seiner Tochter als Hochzeitsgabe ein neues Hausdach und Haken für die Fensterjalousieen zu schenken. Und Mutter wird auch ruhiger schlafen, wenn sie weiß, daß das Haus ordentlich zugeschlossen werden kann, nicht wahr, Meta? Natürlich muß ich sehen, wo ich etwas Geld flüssig machen kann; mit ganz leeren Händen soll sie nicht in ihr zukünftiges Heim kommen. Aber es wird ja immer, hauptsächlich für die Verhältnisse drüben, nur eine sehr bescheidene Summe sein.«

* * *

Floras Brief hatte also, selbst wenn er im Anfang mehr Erstaunen als eigentliche Freude erregt hatte, doch etwas Leben und Frische ins Haus gebracht, und das konnte man wohl gebrauchen.

Frau Staal meinte noch nie einen so langen und traurigen Winter erlebt zu haben wie den letzten. Ihr fehlte nicht allein Flora, sondern auch Frau From, die ja zu ihrem intimsten Umgangskreis gehört hatte; und Ström, der sozusagen mit zur Familie gerechnet worden war, befand sich schon lange auf Reisen.

Was Frau Staal aber am meisten Sorge machte, war das stille, schwermütige Wesen ihrer beiden Töchter. An Ejnas bitteres und kühles Benehmen war sie längst gewöhnt, und außerdem kannte sie ja auch den Grund davon; aber daß Petersen so verändert war, machte ihr wirklichen Kummer.

Nun erst begriff sie ganz, wieviel ihr dieses kleine vergnügte und uneigennützige Mädchen gewesen war. Nicht daß Petersen ihr jetzt keine Stütze und Hilfe im Hause mehr gewesen wäre. Dazu war Petersen zu pflichtgetreu; sie vergaß über ihrem Kummer keineswegs ihre häuslichen Arbeiten. Aber ihre sprudelnde Lebensfreude, ihr frischer Jugendmut und ihr unverwüstliches Vertrauen, daß »alles noch gut werden würde« – die waren verschwunden.

Petersen war jetzt beinahe ebenso still und verschlossen wie Ejna, und oft mußte Frau Staal ohne das ihr so lieb gewordene gemütliche Plauderstündchen mit ihrer jüngsten Tochter zu Bett gehen.

Frau Staal ahnte nicht, daß Petersens veränderte Stimmung einen tiefen seelischen Grund hatte. Ihrer Meinung nach war ihre Jüngste bleichsüchtig, und sie bot alles auf, Petersen zu bewegen, Stahlpillen zu nehmen und recht viel Milch und Eier zu genießen.

Petersen sah auch in der Tat nicht mehr so gesund und kräftig aus wie früher. Ihr rundes, rotbackiges Gesicht war länglicher geworden, die Wangen hatten eine blasse, durchsichtige Farbe bekommen, die Augen hatten dunkle Ränder, und anstatt der funkelnden Lebensfreude, die früher aus ihnen leuchtete, hatten sie jetzt einen träumerischen Ausdruck, der, wenn sie sich beobachtet glaubte, scheu und ängstlich wurde.

Oberst Staal meinte, es würde Petersen gut tun, wenn sie eine Zeitlang von Hause wegkäme; aber seine Frau war dagegen, sie konnte sich nicht entschließen, ihren Liebling von sich zu lassen. Und Petersen selbst war es nicht wohl bei dem Gedanken, mit ihrem heimlichen Herzenskummer unter fremden Menschen leben zu sollen. Hier war sie doch wenigstens noch in derselben Umgebung, wo sie ihn so oft getroffen hatte! Hier konnte sie auf ihren Spaziergängen den Waldweg einschlagen, der an seinem Haus vorbeiführte, oder im Buchenhain zu der Aussichtsbank gehen, wo sie seinen letzten Gruß empfangen hatte!

Petersen glaubte übrigens selbst, sie gebe sich die größte Mühe, Ström, den sie ja halbwegs als Eigentum ihrer Schwester ansah, zu vergessen; aber wenn sie im Walde auf der Bank saß oder abends in ihrem Bett lag, schalt sie oftmals mit sich selbst, weil sie in der schweren Kunst, nicht mehr an den zu denken, von dem ihr Herz voll war, so wenig Fortschritte machte, und dann weinte sie wieder vor Kummer, daß sie nicht lernen konnte, zu vergessen.

In der letzten Zeit war ihr indes manchmal ein Zweifel aufgestiegen, ob sich Ström auch wirklich noch etwas aus Ejna mache.

Frau Staal selbst hatte sie auf diesen Gedanken gebracht. Sie hatte Petersen eines Abends ihre Angst anvertraut, denn ihr ahnte, daß ihrer Ältesten eine große Enttäuschung bevorstünde. Und die Beobachtungen, die Petersen dann später auf eigene Hand machte, bestätigten ihr diese Befürchtungen der Mutter.

Ejna war in den letzten Monaten wieder in die alte Schwermut zurückverfallen, aus der Ströms häufige Besuche vor Weihnachten sie doch etwas herausgerissen hatten. Sie hatte mit Ström verabredet, während seiner Reise französisch mit ihm zu korrespondieren, aber Petersen hatte bemerkt, daß Ejna wenigstens drei Briefe schrieb, ehe sie einen von Ström erhielt. Ja, in den letzten drei Wochen war überhaupt kein Brief mehr von ihm eingetroffen.

Niemand wußte, wo er war oder wann er zurückkäme. Beim Abschied hatte er zu Oberst Staal gesagt, er werde wahrscheinlich nicht während seines ganzen Urlaubs auf Reisen sein, aber dieser Urlaub dauerte bis zum Juli, und das war ja noch eine lange Zeit.

Petersen hatte keinen einzigen von Ströms Briefen an die Schwester gelesen, aber es hatte sie jedesmal die größte Überwindung gekostet, ruhig am Tisch sitzen zu bleiben, während Ejna von Ströms Erlebnissen erzählte und den Eltern seine Grüße ausrichtete.

»Es ist doch ein Glück, daß nie jemand an mich denkt,« sagte sie sich zum Trost und ohne jegliches Bedauern mit sich selbst, wenn sie sich abends müde geweint hatte. »Nun kann ich die arme Ejna verstehen; welch eine Qual muß es ihr damals, als sie mit Otto brach, gewesen sein, wenn sie unsre verständnisvollen und mitleidigen Gesichter um sich sehen mußte. Es ist doch manchmal ein Vorteil, wenn man, wie ich, die Jüngste und Häßlichste in der Familie ist.«

Der letzte Brief indes, den Ejna von Ström bekam – ach, an den erinnerte sich Petersen immer wieder – enthielt einen speziellen Gruß für Petersen. Ejna hatte den Brief während des Frühstücks erhalten, ihn auf ihres Vaters Ersuchen gleich geöffnet und zum Teil vorgelesen. Zum Schluß sagte sie, indem sie zu Petersen hinübernickte: »Hier in der Nachschrift steht ein Gruß für dich.«

Ein freudiger Schreck hatte Petersen durchzuckt, und um ihre Aufregung zu verbergen, war sie aufgestanden und hatte sich vom Serviertisch eine neue Tasse Kaffee geholt. Dann beugte sie sich, mit der Tasse in der Hand, über Ejnas Schulter und fragte so gleichgültig wie möglich: »Wo steht der Gruß?«

Ejna hatte unten auf den Brief gedeutet. Dort stand ganz richtig:

»Wie geht es Fräulein Ida? Wollen Sie ihr nicht einen freundlichen Gruß von mir ausrichten?

Ström.«

Petersen war dunkelrot geworden, und mißtrauisch stieß sie hervor: »Was meint er damit?«

»Mit seiner Frage nach dir?« sagte Ejna. »Ach, ich habe in meinem letzten Brief geschrieben, du seiest nicht ganz wohl, und wir möchten dich zu deiner Erholung aufs Land schicken.«

»Warum hast du das auch geschrieben?« fragte Petersen beinahe heftig.

»Das schadet doch nichts,« antwortete Ejna gleichgültig. »Er hat oft nach euch allen gefragt, und im März war ja davon die Rede, dich wegen deiner Bleichsucht aufs Land zu schicken. Ich muß doch antworten, wenn der Mann so höflich ist und sich nach meiner Familie erkundigt.«

Darauf hatte Petersen keine Antwort gegeben, aber die ganze Nacht hatte sie wach gelegen und darüber nachgegrübelt, warum er sie wohl »Ida« und nicht »Petersen« genannt hatte. Zuerst hatte sie es sehr hübsch gefunden, daß er sie bei dem Namen genannt hatte, mit dem niemand sonst sie anredete (den Pastor bei ihrer Konfirmation ausgenommen, und dann ihren Vater, wenn er böse mit ihr war), aber später meinte sie, es klinge doch recht fremd.

Durch ein unsagbar schlaues Manöver war es Petersen gelungen, diese Nachschrift zu stehlen. Es fiel ihr gar nicht ein, den Brief zu lesen, obgleich sie Zeit genug dazu gehabt hätte; immerhin wunderte sie sich ein wenig, daß er nur anderthalb Seiten lang war. Da die Nachschrift allein stand, konnte sie sie leicht abschneiden; sie verwahrte sie sorgfältig, ja sie trug sie stets bei sich.

Mit Schrecken dachte sie jetzt oft daran, wie es werden sollte, wenn Ström zurückkam und wieder der tägliche Gast im Hause sein würde? Auf Ejna war sie nicht mehr eifersüchtig; ganz instinktmäßig betrachtete sie die Schwester als Leidensgefährtin, und Ejnas Leid ging ihr beinahe näher als ihr eigenes.

»Arme Ejna,« dachte sie, »jetzt kommt wieder eine schwere Zeit für sie! Wie schrecklich muß das für sie sein, jetzt liebt er sie nicht mehr, und sie weiß doch, daß sie ihn einmal hätte haben können, wenn sie gewollt hätte. Es muß furchtbar sein, wenn man sich eines solchen Irrtums bewußt wird. Und sie kann ihre Trauer und Enttäuschung nicht einmal für sich allein behalten und sich im verborgenen grämen, denn ihrer Schönheit wegen ist sie ja immer gleich der Mittelpunkt der Gesellschaft. Mit mir ist es etwas ganz andres. Ja, ja, ich habe es ja schon immer gesagt: es ist manchmal nicht das Schlimmste, die Häßlichste der Familie zu sein.«

 


 << zurück weiter >>