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Achtes Kapitel

Ejna saß in ihrem Zimmer am Fenster, wo sie über den verregneten Regimentsgarten hinweg das Meer sehen konnte, das wie ein tiefer dunkler Strom den bleischweren Himmel widerspiegelte. Fast den ganzen Tag hatte sie hier gesessen und über die entblätterten Baumkronen hingestarrt, während sich ihrer allmählich eine sonderbar erkältende Mattigkeit bemächtigte.

Es war der zweite Tag nach der großen Gesellschaft, und noch hatte sie Otto Brink weder gesehen, noch von ihm gehört. Am ersten Morgen war sie strahlend froh und glücklich erwacht, und der Tag war in freudevoller Erwartung vergangen. Gegen Abend, als Brink sich immer noch nicht eingestellt hatte, war sie einen Augenblick bange geworden, aber nur einen Augenblick; sie war es ja gewöhnt, ihre Macht auszunutzen und zu genießen, und Otto Brinks war sie sicher. Sie brauchte nur an sein leidenschaftlich bewegtes Gesicht zu denken, um genau zu wissen, daß er ihr treu blieb. Er kam ganz bestimmt noch an diesem Abend.

Aber er kam nicht, und in dieser Nacht schloß Ejna kein Auge. Rastlos wanderte sie in ihrem Zimmer hin und her und zermarterte ihr Gehirn, um den Grund seines Ausbleibens zu finden. Erst als der Tag graute, fiel sie in einen unruhigen Schlummer, in dem sie aber doch die ganze Zeit das Gefühl hatte, als lauere irgendwo etwas Schweres und Dunkles auf sie, und als sie die Augen aufschlug, war die angstvolle Spannung und Verzweiflung des gestrigen Tages mit einem Schlage wieder da.

Aber dann gewann der Mut doch einen Augenblick die Oberhand; gestern konnte ja mancherlei dazwischen gekommen sein – allerdings hätte er dann ja auch schreiben können –, aber heute mußte er kommen! Sie kannte ihn ja, er war der ehrlichste, anständigste, pflichtgetreueste Mensch auf Gottes weiter Erde; er würde sie nicht mit seinen treuen Augen so froh und glücklich angesehen, ihre Hand nicht so leidenschaftlich gedrückt haben, wenn er heute ohne weiteres fortbleiben wollte. Diese Schmach würde er ihr niemals antun.

Und wieder hatte sie Mut gefaßt und den Tag hoffnungsvoll angefangen. Aber auch dieser Tag verging, ohne den Ersehnten zu bringen. Daß sie sich auch bei den gemeinschaftlichen Mahlzeiten traurig und niedergeschlagen zeigte, fiel niemand auf; man war nun seit langer Zeit an ihr schwermütiges Wesen gewöhnt. Und jetzt saß sie wieder am Fenster, während die Dämmerung sich über die Landschaft herabsenkte und ein feiner Regen niederrieselte.

Die frohe Hoffnung, an die sie sich geklammert hatte, verschwand nach und nach und machte einer tiefen Trauer Platz, die dann wieder in matte Gleichgültigkeit überging. Still starrte sie in die zunehmende Dunkelheit hinaus.

Da ertönten Schritte auf der Treppe.

»Ein Brief für Fräulein Ejna,« meldete Laurine nach leisem Klopfen.

Ejna sprang auf und eilte zur Tür, und als sie endlich Ottos Brief in Händen hatte, rang sich ein tiefer erleichterter Seufzer aus ihrem Herzen los.

Endlich! Endlich kam der Brief! O, sie hatte ja gewußt, daß er kommen würde!

Mit zitternder Hand zündete sie die Lampe an, betrachtete einen Augenblick die steifen, gleichmäßigen Buchstaben der Adresse und erbrach dann den Brief. Er lautete folgendermaßen:

»Liebe Ejna!

Du mußt entschuldigen, daß diese Zeilen erst heute kommen, und ebenso mußt Du mir verzeihen, daß ich Dir zu meinem größten Leidwesen vielleicht eine Enttäuschung bereiten muß. Meiner Ansicht nach hast Du Dir vorgestern abend ganz und gar nicht geglichen, und ich wage es nicht, sicher anzunehmen, daß Du mehr als einer augenblicklichen Stimmung nachgegeben hast, und da ich eine nochmalige Enttäuschung nicht ertragen könnte, soll es lieber bei der einmal getroffenen Bestimmung bleiben. Da ich es fürs beste halte, wenn wir uns vorläufig nicht wiedersehen, habe ich heute Weihnachtsurlaub genommen und reise morgen ab. Du hast vielleicht schon selbst Deine neulich gesprochenen Worte bereut, und dieser Brief ist überflüssig; aber ich hielt es jedenfalls fürs richtigste, Dir meine Ansicht offen zu sagen. Lebe wohl und mögest Du glücklich werden; das wünscht niemand herzlicher als ich.

Otto Brink.«

Der Brief entfiel Ejnas Hand, und es war ihr, als drehe sich das ganze Zimmer vor ihr im Kreise. Sie empfand eine sonderbare Leere im Kopf und ein dumpfes Gefühl im Herzen, während alle ihre Glieder plötzlich wie zerschlagen waren.

Otto hatte ja im Grunde recht, an ihr zu zweifeln; er, der selbst eine so treue Natur war, dessen Gedankengang dem eines treuherzigen Kindes glich, konnte natürlich den plötzlichen Umschwung ihrer Gefühle nicht verstehen. Aber trotzdem – wie konnte er einen solchen Brief an sie schreiben! Sie hatte ja neulich abend gesehen, daß er sie doch noch lieb hatte. Aber natürlich, er traute ihr nicht mehr! Wenn sie ihn nur überzeugen könnte! An jenem Abend hatten sie ja keine Gelegenheit mehr gehabt, sich ordentlich auszusprechen – und morgen wollte er abreisen. Wie, wenn sie heute abend noch zu ihm ginge?

Sie versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen und sich selbst Vernunft zu predigen, aber es ging nicht. Ihr Gefühl für ihn war, nachdem sie selbst ihn verschmäht hatte, zu einer solchen Leidenschaft herangewachsen, daß sie ihn zurückerobern wollte – und gälte es ihr Leben.

»Ich gehe heute abend zu ihm,« murmelte sie halblaut. Und sobald dieser Beschluß gefaßt war, machte sie sich eiligst fertig. Sie band sich einen dichten Schleier vors Gesicht, löschte die Lampe, stand noch einen Augenblick lauschend still und ging dann leise die knarrende Treppe hinunter, durch den großen Flur und zur Haustür hinaus.

Unten vor dem Hause ging die Schildwache hin und her. Ejna hörte die Kasernenuhr acht schlagen, und sie wurde sich plötzlich bewußt, daß sie wohl kaum zur Teezeit um halb neun wieder zurück sein könnte. Doch das war gleichgültig, alles war gleichgültig, wenn sie nur mit Otto sprechen und ihr Glück zurückgewinnen konnte.

Das Blut stieg ihr in die Wangen bei dem Gedanken, was wohl ihr Vater sagen würde, wenn er wüßte, daß seine stolze schöne Ejna wie ein verliebtes kleines Nähmädchen hinter dem Manne herlief, dem sie das Wort gebrochen und der ihr jetzt den Rücken gekehrt hatte? Ihr Vater würde ja nur immer fragen, warum sie denn nicht an Otto festgehalten hätte, und das war es ja auch, was sie sich beständig vorwarf.

Nun hatte Ejna das Kasernentor glücklich hinter sich; sie war rasch gelaufen, denn als sie über den Platz ging, war es ihr gewesen, als trete aus einem der Nebengebäude ein Offizier heraus, und sie wollte ja weder gesehen noch gegrüßt werden.

Brink war, nachdem er den Adjutantenposten aufgegeben hatte, von der Kaserne in die Stadt gezogen, und dank Floras lebhaftem Verkehr mit der Familie From wußte Ejna, wo er wohnte. Glücklicherweise hatte sie nicht weit zu gehen. Erst ein Stück durch die recht öde Allee, dann rechts hinunter. An der nächsten Ecke der schmalen Straße stand sie still und sah zu den Fenstern des ersten Stockwerks hinauf. Alle waren erleuchtet. Ejna atmete erleichtert aus. Also war er zu Hause. Ob er wohl Besuch hatte? Ach nein, er wollte ja abreisen und packte jetzt natürlich seine Sachen.

Leise schlich sie sich die Treppe hinauf und klingelte an der Tür, auf der sein Name stand. Sie hörte ihn mit jemand sprechen, dann ertönte ein fester Schritt, die Flurtür wurde ungestüm geöffnet, und Otto stand vor ihr. Ejna war ganz außer Atem und konnte kein Wort sagen, versuchte aber, ihre Verlegenheit unter einem Lächeln zu verbergen.

»Du bist es, Ejna?« Otto war so erstaunt, daß er regungslos stehen blieb, aber als sie antworten wollte, hielt er warnend den Finger an den Mund, zog sie in den dunkeln Flur herein und flüsterte ihr, während er die Tür ins Schloß drückte, ganz leise zu: »Wart einen Augenblick!«

Darauf trat er in sein Wohnzimmer.

Ejna hörte ihn dem Burschen einen Befehl geben, hörte dessen schwere Schritte durchs Nebenzimmer und die Küchentreppe hinunter, und verstand, daß er fortgeschickt worden war. Jetzt öffnete sich die Zimmertür, und Otto trat ihr entgegen.

»Entschuldige, daß du warten mußtest,« sagte er ruhig, »aber ich mußte ihn erst los sein. Bitte, willst du nicht eintreten? Hier sieht's böse aus, paß auf, daß du dein Kleid nicht an der Kiste zerreißt – du weißt ja, ich packe.«

Sie nickte und blieb bei der Tür stehen, aber dann fiel ihr plötzlich ein, weshalb sie gekommen war; sie machte ein paar Schritte auf ihn zu – er stand noch mitten im Zimmer und sah sie verständnislos und fassungslos an – und rief: »Otto, wie konntest du mir einen solchen Brief schreiben? Ist es wirklich dein Ernst, daß alles zwischen uns aus sein soll?«

»Aber Ejna – du selbst –«

»Ja, natürlich,« unterbrach sie ihn heftig, »natürlich, ich selbst wollte es – aber jetzt, jetzt bereue ich es, Otto,« – diese Worte drängten sich gleichsam gegen ihren Willen hervor – »jetzt komme ich, um es wieder gut zu machen. Es ist ja erst einen Monat her – in der Zeit kannst du mich doch noch nicht vergessen haben – nicht wahr, Otto? Verzeih die harten Worte, die ich gesagt habe, laß uns alles für einen bösen Traum halten und laß alles beim alten bleiben!«

Otto schüttelte den Kopf.

»Ach, Ejna, warum hast du mit mir gebrochen? Warum hast du damals nicht so wie jetzt mit mir gesprochen?«

»Weil – ich es damals nicht konnte; ich mußte wohl erst erfahren, was dein Verlust für mich bedeutet; erst da wurde mir klar, wie lieb ich dich eigentlich habe.«

»Ja – vor einem Monat würden deine Worte mich glücklich gemacht haben – jetzt –«

»Jetzt machst du dir vielleicht nichts mehr aus mir?« sagte Ejna mit einem bittern, enttäuschten Lächeln.

»Doch – das tue ich – aber trotzdem! Siehst du, wenn du an jenem Abend so gesprochen hättest wie jetzt, dann hättest du mich zu einem glücklichen Menschen gemacht – aber wenn ich ehrlich sein soll, Ejna, so muß ich gestehen, daß sich meine Ansicht über dich und unser Verhältnis seitdem sehr geändert hat. Der Kleinmut, mit dem du unsre Zukunft ansahst, verpflanzte sich nach und nach auch auf mich. Es ist, als ob du Tag für Tag etwas, was ich lieb hatte, in mir vernichtet hättest. Ich hätte mit dir sehr gut ein glücklicher, wenn auch armer Mann werden können – aber du selbst hast Angst und Zweifel in mir wachgerufen. Ich weiß wohl, daß ich neulich abend durch das, was du sagtest, gerührt wurde, aber das dauerte nur einen Augenblick, dann war der Zweifel wieder da. Schon auf dem Heimweg wußte ich, daß ich das alte Verhältnis zwischen uns nicht wieder herstellen dürfte. Ich weiß nicht, ob ich dich weniger liebe, aber ich weiß, daß ich nicht mehr dasselbe Vertrauen zu dir habe.«

»Du kannst es aber haben, Otto,« sagte Ejna leise, und sie sah ihn dabei mit ihren schönen dunkeln Augen gerade an. »Ich liebe dich jetzt wirklich so innig, daß ich jegliches Schicksal mit dir tragen könnte.«

»Du glaubst es vielleicht selbst, Ejna,« erwiderte Otto kopfschüttelnd, »aber nur, weil du im Augenblick sehr erregt bist; später würdest du es aufs neue bereuen. Ich weiß wohl, daß du es ehrlich meinst, Ejna, aber – ich glaube gar nicht, daß du jemand wirklich lieben kannst. Sei mir nicht böse, aber ich habe in diesem letzten Monat viel über unsre Beziehungen während unsrer Verlobung nachgedacht – auch über dein Verhältnis zu deinen Eltern, hauptsächlich zu deinem Vater, und da habe ich erkannt, wie wenig wir dir eigentlich alle gelten. Das hat mir Angst gemacht; mir war, als würde der Mann, der dich heiratet, die Schneekönigin zur Frau bekommen. Du stimmst mich stets herab – du machst mich gleichsam frieren. Du hast mich gewiß mit deinem Kleinmut angesteckt – denn, Ejna, jetzt wage ich es nicht, mich mit dir zu verheiraten. Du siehst, ich bin ehrlich gegen dich und – es tut mir furchtbar leid, wenn dies eine wirkliche Enttäuschung für dich ist; aber mir ist, als hätte ich allen Lebensmut verloren – meine Energie, von der ich sowieso nicht allzuviel hatte, meine Lebenszuversicht, alles ist weg.«

»Und das ist meine Schuld!« tönte es leise von Ejnas Lippen.

»Nein, nein, das sage ich ja nicht. Aber verstehst du nicht, du hast nun einmal etwas in mir getötet, meinen Glauben an dich und das Vertrauen auf mein Glück; meine Natur ist nicht elastisch genug, sich so schnell wieder aufzurichten. Der Zweifel hat mich gepackt, und wenn ich es je einmal wagen sollte, mich zu verheiraten, so müßte es mit einer Frau sein, die mich unendlich lieb hätte.«

»Und du meinst, dies sei bei mir nicht der Fall?«

»Nein, Ejna, ehrlich gesagt, ich glaube, daß dies alles nur eine Stimmung bei dir ist. Ich glaube, wie ich schon vorhin sagte, gar nicht, daß du jemand so recht lieb haben kannst – und deshalb ist es am besten für uns beide, wenn es so bleibt, wie es ist.«

Ejna trat zu ihm und ergriff seine Hand. »Otto, du liebst eine andre, sag es lieber gerade heraus!«

»Nein,« antwortete er fest, »ich liebe keine andre, und werde niemals jemand so lieben, wie ich dich geliebt habe, aber – ich will ehrlich gegen dich sein, Ejna – ich kenne ein junges Mädchen, das ich in letzter Zeit oft gesehen habe und von dem ich weiß, daß es mich liebt. Sie ist gar nicht mit dir zu vergleichen, das weißt du ja selbst – denn ich sehe, daß du erraten hast, wer es ist. Im Grunde genommen ist mir eigentlich erst durch die Bekanntschaft mit ihr klar geworden, wie arm an Gefühl du selbst bist, Ejna.«

»Ja, du hast recht, Otto,« kam es bitter und leidenschaftlich von Ejnas Lippen, »gegen Ester Höjmark bin ich in mehr als einer Hinsicht arm.«

Otto biß sich auf die Lippen.

»Ich verstehe dich sehr gut; es ist ja natürlich, daß du meinst, das viele Geld habe mich verlockt. Und doch solltest du mich eigentlich besser kennen. Wenn ich dich noch so liebte wie früher, was würde mir Reichtum sein? Ich hätte ein reiches Mädchen heiraten können, ehe ich dich sah.«

»Bist du mit Ester Höjmark verlobt?«

»Nein. Seit dem Diner bei deinen Eltern habe ich nicht mehr mit ihr gesprochen, aber ich weiß, daß sie mich liebt, und ich will dich auch nicht täuschen – wenn ihr die Zuneigung, die ich ihr bieten kann, genügt, so werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, sie glücklich zu machen, denn sie verdient es. Sie gehört zu den Frauen, die sich selbst für andre aufopfern können.«

»Und das kann ich nicht?«

»Ich weiß es nicht, Ejna,« antwortete er müde, »aber ich wage es nicht – ich wage es nicht!«

Ejna stand einen Moment regungslos da. Ottos Worte waren ihr so überraschend, so unfaßlich, daß sie sie beinahe nicht glauben konnte. Und als sie nun ihren Blick auf Otto richtete, stieg bittere Scham in ihr auf. Er liebte sie nicht mehr! Das schwache Auflodern seiner Gefühle neulich abend war nur das letzte Zucken seiner Liebe gewesen, die sie selbst zu Tode gehetzt hatte! Ja, seine Liebe – seine treue, uneigennützige Liebe zu ihr war tot; nicht die kleinste Hoffnung blieb ihr mehr, das sah sie klar. Und wieder überkam sie dieselbe eigentümliche Mattigkeit wie beim Empfang seines Briefes. Das, was sie am meisten quälte, war der Gedanke: Du selbst, du ganz allein bist schuld daran, niemand anders als du selbst – und es ist nie wieder gut zu machen!

Jetzt sah sie ein, daß sie ein Kleinod besessen hatte, mit dem sie gleichgültig gespielt und das sie übermütig fortgeworfen hatte, weil sie sicher gewesen war, es, sobald sie nur die Hand danach ausstreckte, wieder an sich nehmen zu können. Und dann hatte sie sich so tief gedemütigt, wie sie es nie für möglich gehalten hätte; aber der Schatz, den sie besessen – die heiße, treue Liebe eines Mannes – die sie jetzt erst schätzen gelernt hatte – war ihr für immer verloren.

Alle diese Gedanken jagten ihr durchs Gehirn, während sie sich immer wieder sagte, daß sie nun gehen müsse, sich aber doch nicht vom Platz rührte.

Otto sah verlegen und verwirrt aus, und plötzlich verstand sie den Ausdruck seiner Augen – er hatte Mitleid mit ihr.

Das gab Ejna Kraft, sich zusammenzunehmen. Sie sah ihm fest in die Augen, neigte leicht den Kopf und sagte: »Lebe wohl!«

»Darf ich dich nicht begleiten – ich –«

»Nein, ich danke,« unterbrach sie ihn kurz und schroff. »Lebe wohl!«

Rasch war sie aus der Tür, und ehe Otto auf den Flur treten konnte, hörte er schon die Haustür hinter ihr ins Schloß fallen.

Ganz betäubt eilte Ejna die Straße entlang; der Regen schlug ihr entgegen. Ihr Gesicht brannte und ihre Füße waren eiskalt; als sie um die Straßenecke bog und der Wind an ihren Kleidern zerrte, schauderte sie vor Kälte. Sie senkte den Kopf, um gegen den Wind anzukämpfen, und lief gerade gegen einen Herrn, der aus dem Kasernenweg kam. Es war Ström. Er blieb stehen und grüßte höflich. Ejna konnte sich nicht erklären, woher es kam, daß ihr dieses Zusammentreffen heute, wo sie doch am liebsten mit keinem Menschen mehr ein Wort gesprochen hätte, nicht unangenehm war und sie es auch nicht einmal störend empfand, als Ström umkehrte und es für selbstverständlich zu halten schien, daß er sie nach Hause begleitete.

Zuerst dachte Ejna, ihr Begleiter ahne nicht, wo sie gewesen sei, aber schon nach ein paar Sekunden war sie vom Gegenteil überzeugt, obgleich er kein Wort darüber gesagt hatte; sonderbar, daß es ihr gar nicht unangenehm war! Sie dachte darüber nach, woher es wohl kommen könnte, daß sie sich in seiner Gesellschaft immer so sicher fühlte, vielleicht weil er sie einmal lieb gehabt hatte, ja sie jetzt noch liebte? Fühlte sich ihre Eigenliebe und Eitelkeit geschmeichelt?

Damals hatte sie seinen Antrag abgelehnt, weil sie ihn nicht liebte und weil er nicht dem Bild entsprach, das sie sich als achtzehnjährige gefeierte Schönheit von ihrem zukünftigen Gatten gemacht hatte. Bewundert hatte Ejna ihn zwar immer und auch stets das Gefühl gehabt, daß er sie wie kein andrer verstünde, ja daß er sie ganz durchschaute und ihm kein Zug ihres Charakters verborgen bliebe; wahrscheinlich war das – ohne daß sie sich selbst recht klar darüber geworden wäre – der eigentliche Grund, warum sie seine Liebe nicht erwidert hatte.

Jetzt fand sie geradezu ein wenig Trost in dem Gedanken, daß Ström, dieser kluge und ihr so weit überlegene Mensch, einmal beinahe an seiner Liebe zu ihr zugrunde gegangen war.

Und er liebte sie gewiß noch heute – er hatte sich ja nicht verheiratet, trotzdem er vor einigen Jahren von seiner alten Patin ein schönes Vermögen geerbt hatte, das ihm eine sorgenlose Zukunft sicherte. Niemals hatte Ström seine Werbung wiederholt oder je eine Anspielung darauf gemacht.

»Jetzt bin ich verschmäht worden, wie er damals von mir,« dachte Ejna. »Ob er es wohl ebenso tief empfunden hat, wie ich jetzt?« Sie konnte nicht mit ihm von gleichgültigen Dingen reden, ja plötzlich überkam sie eine eigene Lust, ihm von ihrer Begegnung mit Otto zu erzählen. Schon wandte sie ihm das Gesicht zu, als er plötzlich sagte: »Sie brauchen mir nichts zu erzählen, Fräulein Staal. Ich weiß, wo Sie gewesen sind, und kenne auch das Ergebnis Ihrer Unterredung mit Otto Brink.«

»Meinen Sie, es sei verkehrt von mir gewesen – daß ich – versuchte –« sie konnte nicht weitersprechen.

»Nein, aber ich verstehe nur nicht, daß Sie, wo Sie doch Brink so genau kennen, nicht einsehen konnten, daß es ganz vergebens war. Er hat Sie sehr geliebt, Fräulein Ejna, aber Sie haben den Bogen so straff gespannt, daß er brach. Darf ich Ihnen einen Rat geben? Nehmen Sie all Ihre Kraft zusammen und versuchen Sie, den Schmerz auf die rechte Art und Weise zu bekämpfen. Sie leiden, denn Sie haben Otto Brink wirklich lieb gehabt, soviel Ihr kleines gefühlsarmes Herz überhaupt lieben kann.«

»Arm, warum brauchen nun auch Sie diesen Ausdruck?«

»Sie sind ungewöhnlich gefühlsarm, Ejna. Nichts ist vollkommen in dieser Welt, und Sie haben ja so viele andre Vorzüge – Schönheit, Klugheit und Charakter – um nur etwas zu nennen; daher ist es nicht zu verwundern, wenn Sie in andrer Weise von der Natur stiefmütterlicher behandelt worden sind als andre Frauen. Aber selbst wenn eine Fähigkeit von Anfang an nur schwach entwickelt ist, kann man sie pflegen und fördern. Das haben Sie versäumt; im Gegenteil, Sie haben diesen kleinen Keim, der trotz allem in Ihrer Seele lebte, vernachlässigt und mißhandelt. Ihre Liebe zu Otto Brink ist mir nämlich ein Beweis, daß wirklich ein wenig Liebe in Ihnen wohnt; und über den Schritt, den Sie heute abend getan, bin ich um Ihrer selbst willen froh, denn er bedeutet meiner Ansicht nach einen Wendepunkt für Sie. Ja, Sie finden es wohl sonderbar, daß ich so mit Ihnen rede, aber ich habe doch wohl ein gewisses Recht dazu – und außerdem habe ich ja dieselbe Erfahrung gemacht wie Sie jetzt, Ejna. Sie dürfen sich nicht mehr unnütz quälen. Trauern Sie nicht über das, was nicht zu ändern ist. Selbst wenn Sie sich heute abend mit ihm versöhnt hätten, so wären Sie und er doch nicht glücklich geworden. Ja, wenn Sie nicht von Anfang an Zweifel bei ihm erweckt hätten – aber das haben Sie getan, und von dem Augenblick an hatten Sie ihn verloren. Sie dürfen jetzt nicht mehr an das Vergangene denken, sondern müssen sich den Pflichten zuwenden, die Ihrer harren.«

»Pflichten?« wiederholte Ejna errötend. »Was meinen Sie damit?«

»Ich meine die Pflicht, das Gefühl, an dem Sie, wie ich vorhin sagte, so ungewöhnlich arm sind, zum Wachsen zu bringen und groß zu ziehen. Sie haben Ihrem Vater gegenüber eine große Aufgabe zu erfüllen, Fräulein Ejna. Er vergöttert Sie, und da er keinen Sohn hat, sind Sie sein ganzer Ehrgeiz; durch Sie hofft er alles zu erreichen, was das Leben ihm selbst versagt hat. Sie könnten ihn sehr glücklich machen, er ist ein ausgezeichneter Vater, gerade Ihnen gegenüber. Ach, Sie werden hoffentlich nicht böse über alles, was ich Ihnen hier sage? Als alter Freund der Familie habe ich mir erlaubt, Ihnen ein paar Wahrheiten vorzuhalten. Ich habe Sie ja schon als Schulmädchen gekannt und möchte gerade jetzt so gerne ein wenig helfen.«

Sie waren durchs Kasernentor gegangen, und die Schildwache präsentierte vor dem Hauptmann.

»Kommen Sie nicht mit hinauf?« fragte Ejna, als er ihre eiskalte Hand ergriff.

»Doch, wenn Sie es erlauben.«

Die Familie saß um den Teetisch, und Ejna und Ström nahmen ohne weitere Erklärung auch Platz. Ström plauderte unbefangen mit dem Oberst über einige dienstliche Neuigkeiten, über das Wetter und dergleichen. Frau Oberst Staal sann darüber nach, wo Ejna wohl gewesen sein könnte, fragte aber nicht, und Petersen sah ganz verstört aus, weil Ström und Ejna jetzt so spät am Abend zusammen nach Hause gekommen waren. Sie fühlte sich sehr zurückgesetzt. Alles drehte sich um Ejna – immer Ejna – nur weil sie so schön war. Sie konnte ungerecht, stolz, kalt und egoistisch sein – trotzdem lagen ihr alle zu Füßen; sie hingegen wollte gerne alles tun, was in ihren Kräften stand, um ein wenig Aufmerksamkeit und Freundlichkeit zu ernten – nur von einer einzigen Person – – aber an sie dachte niemand!

Sie war dem Weinen nahe, und in ihrer Geistesabwesenheit schenkte sie die Teetasse so voll, daß sie sie abgießen und eine neue Untertasse nehmen mußte.

»Ach Gott, ich werde doch Ejna nicht schließlich noch hassen!« dachte sie, indem sie ihr ohne ein Wort zu sagen den Tee reichte. Aber dann fühlte sie Ejnas nasses Kleid auf ihrem Fuß, und als sie wieder auf ihrem Platz saß und der Schwester blasses, starres Antlitz sah, sowie ihre Augen, aus denen ein unendlicher Schmerz sprach, da vergaß Petersen ihren Haß.

»Sie hat natürlich keine Gummischuhe angehabt,« dachte sie. Um sich zu vergewissern, stand sie leise auf und ging in den Flur hinaus. Richtig, da hing der durchnäßte Mantel der Schwester, aber – die Gummischuhe fehlten. Also war sie mit ihren leichten Schuhen im Regenwetter herumgelaufen! Ja, sie sah auch aus, als sollte sie vor Kälte sterben!

Darauf ging die gute Petersen hinunter in die Küche und füllte eine Wärmflasche für Ejnas Bett, für die Schwester, die sie eben noch fast hatte hassen wollen.

 


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