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Dreizehntes Kapitel

Der Sommer war längst vergangen, und der Novembersturm hatte an den Bäumen und Büschen im Garten des Regimentskommandeurs gezerrt und gerüttelt, bis auch das letzte Blatt von den Zweigen gefallen war, die nun schwarz und kahl zum dunkeln, regenschweren Himmel aufragten.

Heulend fuhr der Wind über den großen Kasernenplatz und wirbelte Staub und vermodertes Laub hoch in die Luft.

In einer der tiefen Fensternischen des Wohnzimmers stand Ejna mißmutig am Fenster und schaute über den Platz, der gänzlich menschenleer war. Sie starrte in die Luft, während sie mechanisch auf den taktfesten Schritt der Schildwache lauschte, die auf den Fliesen vom Schilderhaus neben der Haustür bis zum Kasernentor immer hin und zurück wanderte.

Und wie immer, wenn sie allein war, tauchten die Ereignisse des letzten Jahres vor ihr auf, und alles stand wieder deutlich vor ihrer Seele.

Voriges Jahr um diese Zeit hatte sie ihre Verlobung mit Otto Brink aufgehoben; das Gerücht erzählte, er sei mit seiner kleinen verliebten Frau außerordentlich glücklich. Damals hatte sie, Ejna, noch auf eine schöne, helle Zukunft hoffen dürfen; aber jetzt – wie schrecklich hatte sich doch alles verändert! Wie reich an Umwälzungen und Veränderungen war dieses Jahr für sie alle gewesen!

Flora hatte sich verheiratet, und jede Post brachte jubelnde, frohe Briefe von ihr, mit phantastischen Beschreibungen des herrlichen Lebens, das sie drüben in dem warmen und wunderbar schönen Sonnenland, wo sie ihr Glück gefunden hatte, führte.

Petersen behauptete allerdings, man dürfe getrost etwas von Floras überschwenglichen Berichten abziehen; aber Flora glaubte doch jedenfalls selbst an ihr Glück, und das war ja schließlich die Hauptsache.

Petersen und Ström waren verheiratet. Mitte August, eine Woche nachdem Petersen achtzehn Jahre alt geworden war, hatten sie Hochzeit gehabt. Ejna sah die kleine zarte Braut mit dem langen schwarzen Zopf im Nacken und dem glücklichen Gesicht unter dem Schleier noch deutlich vor sich. Zugleich aber sah sie auch den rührend bescheidenen Ausdruck, den das Gesicht der Schwester angenommen hatte, so oft sie Ejnas Blicken begegnet war. Eine stumme Bitte um Verzeihung hatte darin gelegen.

Und Ström? Ejnas Wangen färbten sich dunkel, wenn sie an den liebevollen, zärtlichen Blick dachte, mit dem er seine Braut begrüßt hatte, als diese in ihrem weißen Tüllkleid ohne Schmuck und ohne Schleppe, wie ein blutjunges, eben konfirmiertes Mädchen eingetreten war.

Deutlich sah Ejna das Ganze vor sich, peinlich genau erinnerte sie sich an jede Kleinigkeit dieses Festes, das für sie ja eine schwere Prüfung gewesen war; sie konnte sich von der Erinnerung nicht losmachen.

Für sie war es eine Erleichterung gewesen, daß das junge Paar eine kurze Hochzeitsreise nach Norwegen machte, und sie hatte diese Zeit gut benutzt. Sie hatte sich selbst erzogen, hatte ihre Enttäuschung niedergezwungen und ihren Stolz zu Hilfe genommen, so daß sie den Neuvermählten freundlich und liebenswürdig begegnen konnte, als sie Anfang September ihren Einzug in das gemütliche Haus am Waldweg hielten.

War es nicht sonderbar, daß die beiden einander gefunden hatten! Petersen (oder Ida, wie Ström sie ja immer mit einem eigenen zärtlichen Klang in der Stimme nannte) war nicht mehr blaß und niedergeschlagen – nein, sie strahlte wie in alten Tagen. Ja, ja, soviel war gewiß, das Glück verschönte, denn die frische, natürliche, zufriedene junge Frau konnte beinahe schön genannt werden. Und wie gut ihr ihre Verliebtheit stand! Wie zum Beispiel an jenem Tag, wo der jüngste Leutnant in ihres Mannes Kompanie Petersen erzählte, er werde die Ehre haben, während der Übung mit dem Herrn Hauptmann zusammen zu wohnen – wie reizend hatte sie da ausgesehen, als sie mit einem kleinen Seufzer in die Worte ausbrach: »Ach, wenn ich das doch wäre!«

Bei dem allgemeinen Gelächter, das diesen Worten folgte, war sie dunkelrot geworden, hatte aber dann lustig mitgelacht.

Und Ström! Selbst wenn er nicht so glühend verliebt war, wie sie, Ejna, selbst ihn einmal gesehen hatte, so sah er jetzt doch froher und zufriedener aus als seit vielen Jahren.

Die Männer waren doch oft unbegreiflich bei der Wahl ihrer Frauen! Wie war es möglich, daß Ström sich an der allerdings ganz netten, aber doch recht unbedeutenden Petersen genügen ließ? Denn er hätte es ja nicht nötig gehabt, sich genügen zu lassen.

Ejna wurde noch immer rot, wenn sie daran dachte, wie deutlich und ungeduldig ihre Aufforderungen an ihn gewesen waren. Sie hatte immer gemeint, in gewissem Sinne gehöre Ström ihr zu eigen, und deshalb war es ihr ganz natürlich erschienen, bei ihm Zuflucht und Stütze zu suchen, als sie die bittere Enttäuschung erlebte, daß Brink ihr eine andre vorzog. Als sie dann endlich ihren Schmerz überwunden und Otto Brink vergessen hatte, war in ihrem Herzen für ihren einst verschmähten Bewerber langsam ein warmes Gefühl erwacht, das sie froh und sicher machte, in dem Bewußtsein, daß er sie nicht verlassen würde. Und dann hielt er um ihre jüngste Schwester an, die kleine, unbedeutende Petersen, die man gar nicht mitrechnete!

Ejna war nicht neidisch, sie konnte nur nicht begreifen, was die Männer denn so Anziehendes an dieser Art kleiner, gutmütiger, aufopfernder Frauen fanden, die alle gleich waren. Daß Otto Brink Ester Höjmark ihr vorziehen konnte, war schließlich noch erklärlich; sie war ja reich – aber Petersen und sie selbst waren in dieser Beziehung ja gleichgestellt. Was mochte die Schwester denn vor ihr voraus haben? Ejna konnte es nicht verstehen; aber irgendeine zauberische Anziehungskraft mußte Ströms Ida haben, denn selbst ihr Vater war seit der Rückkehr des jungen Paares ein beinahe täglicher Gast bei ihnen, obgleich er früher gerade seine jüngste Tochter am wenigsten beachtet hatte.

»Selbst Vater verläßt mich,« dachte Ejna mit einem bittern Lächeln, das besser als viele Worte von dem heimlichen Kummer, der an ihr nagte, erzählte. »Ester Höjmark nahm mir Brink, Petersen hat mir zuerst Ström und nun auch meinen Vater genommen.«

Ja, aber ihren Vater konnte sie doch wohl zurückgewinnen, wenn sie ernstlich wollte! Er liebte sie ja über alles. Er verstand sie ja vollkommen und tat alles, sie zu erfreuen und aufzumuntern. Und doch konnte sie sich nicht dazu zwingen, ihm den kleinsten Beweis zu geben, daß sie seine Güte empfand, geschweige denn ihm ihr Zutrauen schenken, obgleich sie wußte, daß er sich unsagbar darüber gefreut hätte.

Wie war es doch? Hatte Ström nicht einmal zu ihr gesagt, sie solle ihren Vater mehr schätzen und versuchen, ihm etwas zu sein, anstatt seiner Liebe mit dieser demütigenden und verletzenden Gleichgültigkeit zu begegnen?

Aber sie hatte seinen Rat leider nicht befolgt. Sie war keine Petersen! Nicht der »Sonnenschein« im Hause, wie Ström auf der Hochzeit in seiner Dankesrede seine junge Frau genannt hatte!

Sie war allen nur eine Last und Bürde. Ihr kaltes, verschlossenes Wesen übte einen Druck auf alle im Hause aus, und Ström hatte mit seiner damaligen Bemerkung recht gehabt: es war wirklich, als sei mit Petersen aller Sonnenschein aus dem Vaterhause verschwunden.

Im Anfang hatte Ejna zuweilen den Versuch gemacht, die Schwester bei den häuslichen Arbeiten zu ersetzen; aber sie merkte bald, daß sie ihrer Mutter noch fremder geworden war als dem Vater.

Die vielen Jahre des Kampfes und der Sorgen ums tägliche Brot hatten Frau Staal gleichsam ausgetrocknet, und ihr einstmals frohes und sanguinisches Wesen hatte einer steten Niedergeschlagenheit und Unruhe Platz gemacht; Ejna sah bald ein, daß Petersen bei der Mutter unersetzlich war. Zuweilen hatte Ejna den Wunsch, ihren einsamen alten Eltern das Leben ein wenig heiterer zu machen; sie hatte endlich das Gefühl, als erwache tief in ihrem Innern die Sehnsucht nach Verständnis und Hingabe. Dann nahm sie sich vor, ihr verschlossenes Wesen abzulegen und den Eltern eine liebevolle Tochter zu sein; aber ihr Eigensinn, ihr Stolz und ihre Eitelkeit waren stärker und unterdrückten die besseren Gefühle. –

Ejna beugte sich vor und sah nach dem Kasernentor, ob denn der Vater noch nicht käme. Er war mit dem Adjutanten ausgeritten, aber Poulsens Pferd war schon seit einer Stunde zurück.

Nun war der Vater natürlich wieder bei Ströms eingekehrt. Im Sommer konnte man den Besuch noch verstehen, ihr Garten war ja wunderschön. Ström und Petersen waren gleich eifrig, ihn beständig zu verschönern; daher hatten sie auch immer irgendeine seltene Pflanze oder Blume, die der »Schwiegervater« durchaus sehen mußte, wenn er vorbeiritt. Aber jetzt war es ja bald Winter, und Ströms Garten war ebenso öde und kahl wie ihr eigener. Was der Oberst jetzt noch Tag für Tag dort wollte, konnte Ejna nicht begreifen.

Ob vielleicht Petersens »großartiger« Kaffee oder ihr »herrlicher Frühstückstisch« (um den, wie Ström sagte, ein König ihn beneiden könnte) den Vater so sehr anzog?

Ejnas Mund verzog sich zu einem kleinen spöttischen Lächeln. Ja, für die Fleischtöpfe Ägyptens hatten die meisten Männer eine angeborene Schwachheit!

Endlich erklang Pferdegetrappel unter dem Tor. Die Schildwache blieb stehen. Doch nein, es war nur Ströms Bursche mit »Hakim«. Wenn der Oberst das Pferd zurückschickte, so war das ein Zeichen, daß er wieder den ganzen Tag bei Ströms bleiben würde. Nun, dann blieb ihr nichts andres übrig, als zur Mutter zu gehen und ihr zu sagen, daß sie auch heute wieder allein essen müßten.

Ejna sah aufs neue zum Fenster hinaus. Aber weshalb brachte der Bursche das Pferd nicht in den Stall? Dort stand er noch immer groß und breit und unterhielt sich mit der Schildwache, und zwar gerade unter den Fenstern des Kommandeurs! Und weshalb sahen beide immer wieder verstohlen nach den Fenstern des Obersts mit so ernstem, unruhigem Ausdruck, als besprächen sie etwas, was die Familie anginge? Die Schildwache machte ein ganz bestürztes Gesicht.

Jetzt erklang vom Tor her Wagenrollen. Ejna stand wie festgenagelt am Fenster; mit heißem Schmerz durchfuhr sie plötzlich die Gewißheit, daß etwas Schreckliches geschehen sei.

Ein geschlossener Wagen fuhr im Schritt über den Platz und hielt vor dem Eingang zur Kommandeurswohnung. Die Schildwache kam herbei und öffnete die Tür. Petersen sprang zuerst heraus und eilte die Treppe hinauf. Ejna sah gerade noch einen Schimmer von ihrem Gesicht; es sah verweint aus.

Ejna war es, als schreie sie laut auf, aber kein Laut drang über ihre Lippen. Sie wollte hinunterlaufen, kam aber nicht von der Stelle. Sie hörte der Mutter und Petersens angstvolle Stimmen im Vorzimmer, aber sie konnte sich nicht rühren – sie sah nur unverwandt durchs Fenster, was nun geschehen würde.

Nach Petersen stiegen der Regimentsarzt und Ström aus, und zusammen mit der Schildwache hoben sie nun vorsichtig eine leblose Gestalt aus dem Wagen, die sie langsam ins Haus trugen.

Was war das? War der Vater plötzlich krank geworden? Das war doch kaum glaublich, er war ja ganz gesund gewesen, als er heute morgen fortritt. Er hatte sie wie gewöhnlich gefragt, ob sie Lust hätte, mit auszureiten, und sie dabei mit dem freundlichen, ein wenig mitleidigen Lächeln angesehen, das sie jedesmal ärgerte; deshalb hatte sie nur eine kurze abschlägige Antwort gegeben und ihm auch, als er im Vorbeireiten zum Fenster heraufgrüßte, nur kühl zugenickt. Und jetzt wurde er so nach Hause gebracht! Was mochte geschehen sein? Er war doch wohl nicht – ach, nein – der Gedanke wäre allzu schrecklich – so plötzlich ereilt der Tod doch selten vollständig gesunde Menschen! Aber sie mußte hinunter zu den andern – sie mußte zu ihm – sie war es ja, die er liebte – und sie – ach, sie hatte ja nie geahnt, daß sie ihren Vater, diesen guten, treuen, vornehmen Charakter, so innig liebte, bis sie ihn hilflos in den Armen dieser drei Männer sah!

Sie wandte sich vom Fenster ab, hatte aber kaum einige Schritte gemacht, als die Tür hastig geöffnet wurde und Ström und der Arzt den leblosen Körper des Obersts an ihr vorbei ins Schlafzimmer trugen.

Als sie das blasse Antlitz ihres Vaters sah, war es ihr, als stehe ihr das Herz still. Sein linker Arm hing schlaff herunter, und er rührte sich nicht. Frau Staal ging voran, um den Weg zu zeigen; ihr Gesicht war wie im Schmerz erstarrt, und große Tränen liefen ihr unaufhörlich über die Wangen.

Ejna schritt hastig auf den Vater zu; sie wollte sprechen, wollte fragen, aber nur ein halberstickter Schrei drang über ihre Lippen. Sie fühlte, wie ihr das Weinen die Kehle zusammenschnürte, ein wahnsinniger Schrecken überkam sie. Jetzt wußte sie, was geschehen war. Ein wilder Schmerz stieg jäh in ihrem Herzen auf, sie rang nach Luft und griff nach einem Halt. Das ganze Zimmer drehte sich vor ihren Augen; da fühlte sie sich von ein paar Armen umschlungen, und wie durch einen Nebel sah sie Petersens vom Weinen geschwollenes Gesicht vor sich. Matt fiel ihr Kopf an Petersens Schulter. Diese drückte ihre nasse Wange an der Schwester Gesicht und flüsterte: »Ejna – Vater ist tot – o Ejna, komm zu dir!«

Aber Ejna antwortete nicht, ihre Augen hatten sich geschlossen, und bewußtlos lag sie in den Armen ihrer Schwester.

* * *

Als Ejna aus ihrer Ohnmacht erwachte, saß Petersen an ihrem Bett. Zuerst erinnerte sich Ejna nicht an das, was geschehen war, aber plötzlich stand alles wieder klar vor ihrer Seele; leise jammernd schlug sie die Hände vors Gesicht und fiel in die Kissen zurück.

»Nein, das kann ich niemals – niemals verwinden,« stöhnte sie, und die dunkeln starren Augen hatten einen so verzweifelten Ausdruck, daß Petersen angst und bange wurde.

»Ejna!« flüsterte sie, indem sie sich über die Schwester beugte und ihre Hand ergriff. »Liebe, liebe Ejna – dein Name war das letzte, was Vater sagte, und ich habe noch so viel Gutes von ihm zu erzählen! Seine letzten liebevollen Gedanken galten dir.«

Ejna setzte sich im Bett auf und sah die Schwester ungläubig an.

»Er dachte voller Liebe an mich, an mich, die so schlecht, so schlecht gegen ihn gewesen ist?« rief sie leidenschaftlich aus. »Ach Gott – ach Gott, daß ich ihm doch vor seinem Tode nicht noch ein einziges freundliches Wort sagen durfte!«

Und wieder verbarg sie das blasse starre Gesicht in ihren Händen.

»Du bist nicht schlecht gegen ihn gewesen, Ejna,« sagte Petersen leise, »wenigstens hat Vater es nicht so aufgefaßt. Und du darfst dich nicht mit solchen Vorwürfen quälen. Hörst du! Ich will dir erzählen, wie alles gekommen ist – das heißt, wenn du es ertragen kannst, es zu hören.«

Und als die Schwester matt nickte, fuhr sie in ihrer einfachen und ruhigen Art fort: »Gegen elf Uhr kam er zu uns geritten, und er willigte gleich ein, als ich ihn bat, zum Frühstück zu bleiben. Er war dann auch so freundlich und redselig, wie ich ihn nur selten gesehen habe, und beinahe die ganze Zeit sprach er von dir, Ejna. Er erzählte kleine Züge aus deiner Kindheit und sagte, daß wir andern dich gewiß oft mißverständen, aber er täte das nie, sagte er. ›Selbst wenn es euch vorkommt, als machte sie sich nichts aus ihrem alten Vater‹ – sagte er – ›so weiß ich es doch besser. Sie ist nur so – weil sie weiß, daß sie sich gerade mir gegenüber gehen lassen und das herauslassen darf, was sie quält, weil sie weiß, daß ich sie ganz verstehe. Ich bin nicht böse, wenn sie hart und kalt gegen mich ist, denn ich weiß, sie meint es nicht so schlimm, und ich bin froh, wenn ich meiner lieben Ejna helfen kann.‹ Das sagte er, und er meinte es auch wirklich, Ejna, denn er sah froh und hoffnungsfreudig dabei aus. Dann sprach er davon, daß ihr drei jetzt recht einsam hier wäret – und daß er in den letzten Tagen darüber nachgedacht hätte, ob ihr nicht eine Reise nach dem Süden machen solltet. Er sagte scherzend, jetzt könne er sich diese Ausgabe wohl erlauben, da er ja zwei Töchter weniger zu versorgen hätte – dann sprach er davon, wohin ihr wohl reisen könntet, und daß es euch allen dreien gewiß gut täte, ein wenig in die Welt hinauszukommen. Und während er so redete, faßte er sich plötzlich nach der Schulter und sagte, er hätte ein sonderbar beengendes Gefühl in der Brust. Kaffee wollte er keinen haben, sagte aber, er wolle sich einen Augenblick auf die Chaiselongue im Nebenzimmer legen, denn er fühle sich plötzlich furchtbar müde. Ich ging mit ihm, um ihn zuzudecken. Als er sich auf die Chaiselongue setzte, kam er mir plötzlich ganz verändert vor; er bewegte die Lippen, und dann sagte er ganz leise, nur wie ein Seufzer: ›Mutter und Ejna!‹ Dann sank er zusammen. Wir bekamen einen furchtbaren Schreck und telephonierten nach dem Arzt; aber wir hatten gleich gesehen, daß alles vorbei war. Der Doktor sagte, es sei ein Herzschlag gewesen. Wir müssen froh sein, Ejna, daß er nicht gelitten hat. Sein Tod war leicht und schön, und das letzte Wort, das er sagte, war dein Name.«

Petersen schwieg und sah die Schwester an, deren Gesicht jetzt zwar einen ruhigeren Ausdruck angenommen hatte, aber noch immer leichenblaß war, während die Augen starr und brennend geradeaus blickten.

»Wenn sie doch weinen könnte!« dachte Petersen, und sie sah die stille, unbewegliche Schwester besorgt an.

»Willst du ihn sehen, Ejna?« fragte sie.

Und jetzt plötzlich kam Leben in Ejna.

»Ja – ja – laß mich zu ihm!« rief sie klagend. »Ich will ihn sehen.«

Und mit zitternden Händen kleidete sie sich hastig an.

Petersen ging mit ihr in das Schlafzimmer der Eltern; sie führte Ejna an das Bett und nahm vorsichtig das Tuch vom Gesicht des Toten. Dann drückte sie die Schwester sanft auf den Stuhl nieder, der neben dem Bett stand.

»Sprich du jetzt ein wenig allein mit Vater, Ejna, dann wirst du Ruhe bekommen!«

Petersen ging hinaus, und Ejna blieb mit ihrem Vater allein. Sie wagte es nicht gleich, ihn anzusehen, sie fürchtete, einem vorwurfsvollen Blick zu begegnen. Zuerst hefteten sich ihre Augen auf seine magere, wohlgeformte Hand, die ihr so oft liebkosend übers Haar gestrichen hatte. Dann glitt ihr Blick zu seinem Gesicht hinauf, und da öffneten sich ihre Augen weit vor Verwunderung.

Wie schön doch ihr Vater war! Und wie gut und lieb er aussah! Daß er tot sein sollte, war fast unfaßlich! Er sah ja aus, als ob er schliefe, als ob er gleich aufwachen und sie verwundert fragen würde, warum sie hier sitze? Jetzt war er nicht mehr so blaß wie vorhin, als man ihn herauftrug, auf seinen Wangen lag eine schwache Röte, und die Lippen waren leicht geöffnet, als atme er noch. Ein unbeschreiblicher Frieden lag auf den feinen, regelmäßigen Zügen.

Ejna sah ihn unverwandt an.

Nein, aus dem Schlaf wachte keiner wieder auf.

Ihr Vater war tot.

Niemals, niemals mehr würde er zu ihr kommen und sie in seine Arme schließen und liebkosend über ihr Haar streichen, oder sie mit seinem milden, liebevollen Blick, der sie immer gereizt hatte, ansehen! Ach, jetzt hätte sie gerne ihr Leben hingegeben, um nur noch ein einziges Mal diesem Blick zu begegnen! Niemals würde sie ihm sagen können, wie lieb sie ihn habe, niemals ihn um Verzeihung bitten können, für all den Kummer, den sie ihm gemacht! In ihrer Hand hatte es gelegen, ihn froh und glücklich zu machen, aber selbstsüchtig und gleichgültig hatte sie sich von ihm gewandt.

Noch heute morgen wäre es Zeit gewesen.

Ach – wie heiß wünschte sie, daß sie mit ihm ausgeritten wäre oder ihm doch weniger kurz geantwortet, ihm nur ein bißchen freundlicher zugenickt hätte!, Ach, niemals, niemals konnte sie wieder gut machen, was sie verbrochen hatte! Ihr ganzes Leben lang, bis sie alt und grau geworden war, würde der Gedanke sie verfolgen, daß sie ihrem Vater Kummer gemacht hatte, und daß ihr letztes Wort zu ihm hart und kalt gewesen war! Unbarmherzig geißelte Ejna sich mit Vorwürfen und Selbstanklagen. Unaufhörlich wiederholte sie sich das kleine, aber so unerbittlich harte und traurige Wort – zu spät!

Sie warf sich vor ihres Vaters Bett auf die Kniee und ergriff seine kalte Hand. Ihr Herz war jetzt nur von dem einen innigen Wunsch erfüllt, daß ihr Vater doch noch einmal aufblicken, daß er ihr nur ein ganz kleines Zeichen seiner Verzeihung geben möchte!

Zum erstenmal in ihrem Leben hatte Ejna es gewagt, sich selbst zu sehen, wie sie war; zum erstenmal war sie demütig und voll bitterer Reue.

Und während sie verzweifelt am Boden lag und in das Gesicht des Toten starrte, war ihr, als nehme der große Schmerz, der sie beinahe wahnsinnig gemacht hatte, plötzlich ab, als rühre eine warme, weiche Hand an ihr Herz; sie lehnte den Kopf an ihres Vaters Brust, und ihr armes, zermartertes Gemüt machte sich endlich in wohltuenden Tränen Luft.

Lange lag sie so da, während nach und nach ein unbeschreiblicher Frieden in ihre Brust einzog. Ihr war, als flüsterte ihr der Tote milde, verzeihende Worte und liebevolle Ermahnungen zu, und da war es, als sollte die kleine verkrüppelte Pflanze der Liebe in ihrem Herzen doch noch zur Blüte kommen.

Die Tür wurde leise geöffnet, und Frau Staal trat an das Lager des Toten.

»Ja, liebe Ejna,« sagte sie sanft und legte dabei die Hand auf das Haupt ihrer Tochter, »jetzt sind wir beiden allein – ganz allein!«

Ejna richtete sich auf, und die Mutter sah den tief bewegten Ausdruck in ihrem Gesicht.

»Mutter,« sagte Ejna schlicht, »ich habe Vater um Verzeihung gebeten, und ich habe ihm versprochen, daß ich versuchen will, an dir gut zu machen, was ich an ihm verbrochen habe.«

Zum erstenmal seit vielen Jahren hatten Mutter und Tochter einander gefunden, und an ihrer Mutter Herzen weinte Ejna nun ihres Lebens ersten tiefen Schmerz aus.

 


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