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Neuntes Kapitel

Über dem Hause des Regimentskommandeurs lag eine eigene erwartungsvolle Stimmung. Ejna, von deren Wesen sich ja alle beeinflussen ließen, hatte sich etwas beruhigt. Man merkte ihr nicht an, daß es sie einen schweren Kampf gekostet hatte, Otto Brink aufzugeben; höchstens hätte man eine gewisse Nervosität, die aber hauptsächlich ihrem guten Vater gegenüber zutage trat, dieser Ursache zuschreiben können.

Wenn das Wetter es erlaubte, begleitete sie jetzt ihren Vater täglich auf seinen Spazierritten, und sehr häufig war Ström dabei der Dritte im Bunde. Von diesen Ausflügen kam Ejna stets sehr angeregt nach Hause. Die gesunde Bewegung rötete ihre Wangen und verjüngte sie so sehr, daß die »Stadt« bald zu tuscheln anfing, ob nicht doch schließlich Ström noch derjenige sein werde, der die schöne Oberstentochter heimführte. Und wenn er seine Werbung wirklich wiederholte, so war das nur zu begreiflich, denn nicht nur die Herren, nein, auch die Damen im Ort mußten einräumen, daß Ejna Staal zu Pferd hinreißend schön aussah. Und überdies war sie eine verwegene Reiterin – was Wunder, wenn ihr alter Vater vor Stolz strahlte, so oft er an ihrer Seite durch die Stadt ritt.

Auch er dachte sich sein Teil, wenn er sah, wie lebhaft sich Ejna mit Ström unterhielt, und der alte Sanguiniker träumte schon von einem neuen Glück für seinen Liebling.

»Wer weiß, wer weiß!« dachte er, wenn er sah, wie Ström Ejna aus dem Sattel hob. »Vielleicht war es doch gut, daß sie Otto nicht bekam. Ejna müßte einen ernsten und recht männlichen Gatten bekommen – Otto war zu weich und schwach; das größte Glück ist ihr vielleicht noch vorbehalten. Jetzt weiß sie Ström zu schätzen.«

Ström war nun ein häufiger Gast im Hause des Obersts, und Ejna fühlte sich offenbar sehr wohl in seiner Gesellschaft. Er selbst aber machte ihr in keiner Weise den Hof. Er war ebenso freundlich und aufmerksam gegen sie wie gegen die andern beiden Töchter und unterhielt sich mit allen dreien in einer liebenswürdig neckenden Weise, zu der seine Stellung als Freund der Familie ihn vollständig berechtigte. Allerdings unterhielt er sich am meisten mit Ejna, aber das kam wohl daher, daß sie die Älteste war und auch stets seine Gesellschaft suchte. Einem unbefangenen Beobachter wäre nie der Gedanke gekommen, Ström ziehe Ejna ihren Schwestern vor. Aber bei Oberst Staal gab es eben keinen unbefangenen Beobachter.

Der Oberst war in bezug auf die von ihm vergötterte Tochter auffallend wenig scharfblickend, und daher sah er nur das, was er zu sehen wünschte. Frau Staal bemerkte mit Staunen, wie schnell Ejna ihr Gleichgewicht zurückgewann. Sie schüttelte den Kopf, wenn sie sah, wie lebhaft ihre älteste Tochter mit Ström plauderte und wie fröhlich sie mit Petersen und Flora scherzen und lachen konnte. Dieser plötzliche Umschwung war ihr unbegreiflich. Hin und wieder war Ejna jetzt aufmerksam und liebevoll gegen alle, wie man sie nur selten gesehen, aber es waren – wie Frau Staal sagte – sicher doch »nur Stimmungen«. Und wenn der Oberst seiner Frau gegenüber die Hoffnung äußerte, daß nun aus Ejna und Ström doch noch ein Paar werden könnte, machte Frau Staal stets ein ungläubiges Gesicht.

»Nein, Ström wird sicher nicht noch einmal um Ejnas Hand anhalten,« sagte sie zu ihrem Mann. »Er gehört nicht zu den Menschen, die zweimal um etwas bitten – aber daß Ejna ihn jetzt lieb hat, kann man deutlich sehen. Manchmal glaube ich fast, sie will sich dadurch zwingen, Otto zu vergessen. Ich kann sie nicht recht verstehen, aber soviel ist gewiß, sie ist jetzt weit ruhiger und froher als früher.«

Anfang Dezember traf eine überraschende Nachricht ein. Otto Brink und Ester Höjmark hatten Hochzeit gemacht, und er war um einen halbjährigen Urlaub eingekommen, den das junge Paar im Auslande verbringen wollte. Aber zu aller Erstaunen machte diese Nachricht gar keinen besondern Eindruck auf Ejna; und jetzt sahen alle Familienglieder es als Tatsache an, daß sich Ejna in Ström verliebt habe und daß ihre Verlobung mit ihm nur noch eine Frage der Zeit sei.

Bei Froms, wo sich Flora jetzt beinahe den ganzen Tag aufhielt, wurde dieses Thema mit dem größten Interesse verhandelt; und Frau Poulsen, die sich als Frau des Adjutanten verpflichtet fühlte, für die Familie des hohen Chefs ein ganz besonderes Interesse zu zeigen, lag ihrem Mann von früh bis spät in den Ohren, um etwas Neues von ihm zu erfahren.

»Worauf warten denn die beiden eigentlich noch?« sagte Frau From ganz ärgerlich zu Flora, als sie die Nachricht von Brinks Heirat hörte. »Jetzt sollten sie sich wirklich beeilen und endlich Ernst machen, sonst werden sie doch viel zu alt! Ejna nähert sich stark den Dreißigern, siebenundzwanzig ist sie ja schon. Großer Gott, wie dumm war es doch von ihr, daß sie Ström nicht gleich nahm! Nun wird er doch noch der Auserwählte – und sie hat zwei Jahre geradezu vergeudet.«

Und wie Frau From dachte auch die ganze Stadt, Ejnas Eltern mit eingeschlossen. Ja, selbst Petersen dachte dasselbe.

Petersen! Wie ging es ihr denn eigentlich? Das wußte sie wohl selber kaum. Sie wanderte umher wie im Traum, hatte jeden Tag die gleichen Pflichten zu erfüllen, ging im Haushalt der Mutter zur Hand, bereitete den Kaffee und Tee, plauderte mit ihrer Mutter, ging spazieren, nähte und stickte, alles ganz wie sonst, und doch war sie beinahe nicht wiederzukennen. Es war ein Glück für sie, daß sie so wenig aus sich machte und daß man im Hause nicht viel auf sie achtete, sonst hätte sie gewiß manche Bemerkung über ihr stilles Wesen, ihre blassen Wangen und den traurigen Ausdruck ihrer Augen hören müssen.

Frau Staal war indes das veränderte Wesen ihrer Jüngsten doch nicht entgangen, sie meinte aber, Petersen sei wohl ein wenig bleichsüchtig, und so oft Petersen blaß und still am Kaffeetisch saß, erklärte die Mutter, jetzt müsse man wirklich mit dem Doktor reden, damit er ihr Stahlpillen verschreibe, vergaß diese Absicht aber regelmäßig im Lauf des Tages wieder. Und Petersen fiel es natürlich niemals ein, sie daran zu erinnern, denn sie gehörte zu den wenigen Menschen, die nicht immer von ihrem eigenen lieben Ich reden mögen.

Ihre sowieso schmächtige Gestalt wurde allmählich unheimlich schlank, und ohne die langen Kleider hätte man sie mit dem dicken Zopf, der ihr lang über den Rücken hinunterhing, für ein Schulmädchen halten können.

Sonst hatte sie das Haus mit ihrem frohen Gesang und Lachen erfüllt; jetzt glitt sie wie ein schmaler kleiner grauer Schatten umher und sah aus, als verkröche sie sich am liebsten in ein Mauseloch.

Aber was fehlte denn Petersen eigentlich? Ja, ein scharfsichtiger Beobachter würde es leicht herausgefunden haben, aber, wie schon gesagt, im Hause des Obersts gab es keinen scharfsichtigen Beobachter.

Petersen war verliebt! Mit schamroten Wangen und scheuen Augen hatte sie es sich selbst eingestehen müssen. Sie war verliebt – verliebt in einen Mann, der sich nicht das geringste aus ihr machte und der überdies jeden Tag ihr Schwager werden konnte.

Wenn Petersen des Abends auf ihr Zimmer kam, stellte sie sich oftmals vor den Spiegel und hielt sich selbst eine kleine Strafpredigt. Sie erinnerte ihr Spiegelbild daran, wie häßlich sie im Vergleich mit der schönen Ejna sei. Sie rief ihre eigene Vernunft auf und fragte sich, ob es denn möglich sei, daß ein Mensch von gutem Geschmack (und einen guten Geschmack hatte Ström) sie vorziehen würde, wenn er Ejna bekommen könnte?

Ejna hatte das schönste Profil, während das ihrige – na, es war schon das Beste, gar nicht davon zu reden. In sie – mit der schiefen Nase (denn ein wenig schief war diese, obgleich sie stets daran dachte, sie nach der entgegengesetzten Seite zu drücken) und dem großen Mund konnte sich doch unmöglich jemand verlieben – wenigstens nicht, wenn er Ejna daneben sah! Und jetzt, wo sie zudem noch so bleich und mager geworden war, sah sie sogar noch häßlicher aus als vorher!

Aber alle Vernunftpredigten, die Petersen sich selbst hielt, halfen nichts. Diese Selbstgespräche vor dem Spiegel endeten alle auf dieselbe Weise: Petersen warf sich auf ihr Bett und weinte bitterlich, bis der Schlaf sich schließlich ihrer erbarmte und sie ein Weilchen alles das vergessen ließ, was sie den Tag über so unsagbar quälte, ja oftmals zu einer wahren Tortur für sie wurde.

Wie weh, ach wie weh tat es doch, wenn Petersen hinter den Gardinen des Wohnzimmers verborgen zusah, wie Ström Ejna in den Sattel hob und an ihrer Seite zum Kasernentor hinausritt!

Zuweilen meinte Petersen, Sterbenmüssen könnte nicht schwerer sein als das mit anzusehen; dann nahm sie sich vor, Ström und Ejna nie mehr zu beobachten, wenn sie es irgend vermeiden konnte. Aber wer stand lange vor der Zeit, wo sie zurück sein konnten, am Fenster und wartete? Niemand anders als Petersen!

Ach, und die Abende, wenn Ström mit heraufkam und wenn er zum Tee blieb! Wie oft hatte Petersen sich fest vorgenommen, sich das nächste Mal mit Kopfschmerzen zu entschuldigen und auf ihrem Zimmer zu bleiben! Aber wenn das nächste Mal kam – wer schlich leise die Treppe hinunter, sobald Ströms Stimme im Flur erklang? Niemand anders als Petersen!

Und wie sehr schalt sie sich selbst und schämte sich ihrer Schwäche! Aber wieviel Mühe sie sich auch gab, um über ihr Gefühl Herr zu werden und es zu unterdrücken, es nutzte alles nichts. Im Gegenteil, von einer verzweifelten Eifersucht genährt, in die sich indes doch nie ein böser Gedanke gegen die Schwester mischte, wuchs ihre Liebe zu Ström von Tag zu Tag, daß das arme Kind sich fast selbst davor entsetzte.

Wenn sie Ström begrüßte, zitterte ihre Hand heftig, und es wurde ihr todesangst, er könnte es bemerken. Früher hatte sie ihm ja immer recht derb die Hand geschüttelt.

Petersen wagte auch nicht, seinem Blick zu begegnen; aber wenn sie dann in einer dunkeln Ecke saß – sie hatte neuerdings eine Vorliebe für dunkle Winkel gefaßt – ertappte sie sich darauf, daß sie ihn anstarrte. Ström mußte das bemerkt haben, denn schon mehrmals hatte er sich plötzlich nach ihr umgewandt und sie angesehen, und dann war es Petersen gewesen, als müßte sie in Ohnmacht fallen. Eiskalt war sie geworden und deutlich hatte sie gefühlt, wie sie vor Schreck erblaßte, und doch war es ihr vorgekommen, als hätten seine schwarzen Augen einen sehr freundlichen Ausdruck gehabt. Aber das war natürlich nur Einbildung!

Am allermeisten jedoch verachtete sie sich, weil es ihr nicht möglich war, im Flur an seinem Degen vorüberzugehen, ohne liebkosend darüber hinzustreichen und die Hand um den Griff zu legen, gerade da, wo seine langen, schlanken Finger ihn zu halten pflegten.

Aber dann noch das Allerschlimmste! Jedesmal drückte sie heimlich ihre Wangen an seinen Mantel. Mit geschlossenen Augen stand sie da, verbarg ihr Gesicht in dem Mantel und atmete den schwachen Tabaksgeruch ein, den er ausströmte, während sie alles um sich her vergaß und erst erschreckt zusammenfuhr, wenn eine Tür geöffnet wurde oder ein Fußtritt sich näherte.

Zuweilen sann Petersen darüber nach, ob sie nicht versuchen sollte, weit fortzukommen und irgendeinen Beruf zu ergreifen, der ihr Leben ganz ausfüllen würde – so etwas meinte sie irgendwo gelesen zu haben. Aber wenn sie an ihre Mutter dachte, war dieser Gedanke sofort abgetan.

Zum Glück ereignete sich etwas, das wenigstens eine Zeitlang die Gedanken aller von Ejna, Ström und einer voraussichtlichen Verlobung der beiden ablenkte.

Bei Oberstleutnant From, der die wohlbegründete Vermutung hegte, daß er nicht weiter befördert werden würde – was seine Frau allerdings mehr ärgerte und beunruhigte als ihn – war unter der Hand angefragt worden, ob er eventuell die Stellung als Gouverneur auf St. Maria (einer kleinen Insel der überseeischen Kolonieen) annehmen würde. Da dieses Amt sehr bequem war und gut bezahlt wurde, hatte er selbst nichts dagegen, und seine Frau, die es ganz schrecklich fand, in der Stadt bleiben zu müssen, wenn ihr Mann übersprungen wurde, redete ihm eifrig zu, die Stellung anzunehmen, durch die sie als Frau des Höchstkommandierenden gewissermaßen Königin auf St. Maria wurde.

Indessen hatte sie sich so sehr an Flora Staal angeschlossen, daß ihr eine Trennung von dieser ganz unmöglich erschien. Frau From konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, allein in die fremden Verhältnisse zu kommen, und da sie wohlhabend genug war, dieser Laune nachgeben zu können, ging sie, schon ehe die Ernennung ihres Mannes Tatsache geworden war, zu Frau Staal und fragte, ob sie deren Zweitälteste Tochter mit in ihre neue Heimat nehmen dürfe.

Frau Staal war über diesen Vorschlag zuerst ganz bestürzt. Noch nie war eine ihrer Töchter länger als auf einer kleinen Ferienreise von Haus abwesend gewesen, und nun sollte Flora ein ganzes Jahr von ihr fortgehen! Eine kürzere Zeit würde sich natürlich gar nicht lohnen. Es war ihr ganz unbegreiflich. Flora selbst aber war im siebenten Himmel.

»Mutter,« sagte sie feierlich, als Frau From fortgegangen war, »ich habe euretwegen einen Strich durch meine Künstlerpläne gemacht; aber nun dürft ihr nicht verlangen, daß ich aus lauter Rücksicht auch noch das Glück an meiner Tür vorbeigehen lasse. In meinem Herzen glüht eine so große Sehnsucht, die ihr gar nicht verstehen könnt. Und jetzt, wo sich mir eine Gelegenheit bietet, wo ich, ohne daß es mich einen Pfennig kostet, in die weite Welt hinauskommen und etwas erleben kann – jetzt müssen wir das Glück festhalten.«

Frau Staal sah ihre Tochter verständnislos an, als sie von ihren Künstlerträumen redete, und Oberst Staal sagte laut: »Unsinn, Flora!«

Zum erstenmal seit langer Zeit glitt ein Lächeln über Petersens Gesicht. Nein, was doch Flora alles faseln konnte! Ihre Redensarten klangen genau wie die Tiraden aus einem Leihbibliotheksroman! Ja, Petersen amüsierte sich immer unglaublich über Floras pathetischen Schwung.

Im übrigen waren alle im Hause darüber einig, daß man Froms auf ihr freundliches Angebot keine abschlägige Antwort geben dürfe und daß Flora Erlaubnis bekommen müsse, mit ihnen nach der kleinen Tropeninsel zu reisen.

Darauf entwickelte sich eine unglaubliche Geschäftigkeit im Hause. Floras Garderobe war – ausgenommen in ihrer Phantasie – nicht sehr reichhaltig, auch sahen ihre Kleider immer sehr schnell abgenutzt aus, weil sie ewig daran herumänderte. Und nun glich das Haus des Regimentskommandeurs bis gegen Weihnachten einer wahren Schneiderwerkstätte, denn es war dem Oberst Ehrensache, seine Tochter einigermaßen standesgemäß zu dieser Reise auszustatten.

Zuerst sollte es nach Paris gehen, wo Froms einen Monat zu bleiben gedachten, dann wollten sie sich in Cherbourg auf einem eleganten Ozeandampfer einschiffen, der sie direkt nach St. Maria bringen sollte. Wenn alles planmäßig verlief, würden sie im März dort eintreffen.

Frau From versicherte allerdings, sie würde Floras Reiseaussteuer in der Wunderstadt Paris vervollkommnen; aber trotz dieses liebenswürdigen Versprechens wollte Frau Staal als die treusorgende Mutter, die sie nun einmal war, so gut sie irgend konnte selbst für ihre Tochter sorgen, und deshalb waren Ejna und Petersen den ganzen Tag in voller Tätigkeit.

Die Emsigkeit tat Petersen wohl und zerstreute ihre trüben Gedanken. Nach des Tages Arbeit warteten ihrer freilich trotzdem traurige einsame Stunden, aber die abwechslungsreiche Arbeit, die Geschäftigkeit, die jetzt im Hause herrschte, das stete Zusammensein mit den Schwestern munterte sie doch ein wenig auf. Daß Ejna des Schneewetters wegen ihre Ausritte mit dem Vater aufgeben mußte und man auch zu stark beschäftigt war, um Besuch bei sich zu sehen, trug vielleicht auch zu Petersens fröhlicherer Stimmung bei. Ström hatte sich in letzter Zeit überhaupt nicht sehen lassen, und Petersen fand es immer noch leichter, wenn sie ihn gar nicht sah, als wenn sie ihn immer mit der Schwester zusammen sehen mußte.

Eines Tages, kurz vor Weihnachten, erzählte der Oberst am Frühstückstisch, Ström sei um einen halbjährigen Urlaub eingekommen und wolle schon am dreiundzwanzigsten Dezember abreisen.

Petersen schenkte gerade Kaffee ein, und als sie Ströms Namen hörte, zitterte sie so sehr, daß das heiße Getränk ihr über die Hand floß, und dann erinnerte die kleine Brandwunde, die sie dadurch bekam, sie lange Zeit täglich an den, den sie, wie sie sich einbildete, mit Gewalt vergessen wollte.

Seit Jahren hatte Ström den heiligen Abend bei Oberst Staats zugebracht, und heuer hatte sich Petersen schon lange halb auf diesen Abend gefreut, halb sich davor gefürchtet. Aber als sie jetzt hörte, daß er gar nicht kommen würde, war sie dem Weinen nahe.

Verstohlen schaute sie zu Ejna hinüber, die blaß dasaß und ihren Vater mit starrem, fragendem Blick ansah.

»Es ist doch sonderbar,« sagte sie langsam, »davon hat er gar nichts zu mir gesagt. Kommt er nicht wenigstens noch zum Adieusagen?«

»Doch,« bestätigte der Oberst, »selbstverständlich! Er hat mich gerade gebeten, euch zu sagen, er werde am dreiundzwanzigsten zwischen zwei und halb vier kommen; mit dem Vieruhrzug will er nämlich abreisen.«

»Am dreiundzwanzigsten zwischen zwei und halb vier – am dreiundzwanzigsten zwischen zwei und halb vier,« wiederholte Petersen sich selber ins Unendliche, als sei es eine Aufgabe, die sie auswendig lernen müßte. Wenn das der Fall war, konnte sie ihre Aufgabe jedenfalls ausgezeichnet, denn am dreiundzwanzigsten Punkt zwei Uhr zog Petersen ihren Mantel an, setzte ihre kleine Biberfellmütze auf, und ohne irgend jemand etwas zu sagen, schlich sie sich wie ein Dieb aus dem Hause, ging durch den verschneiten Garten auf einen Feldweg hinaus und war bald darauf ein gutes Stück vor der Stadt draußen.

Ohne einem einzigen Menschen zu begegnen, erreichte sie das kleine Wäldchen, das der »Buchenhain« genannt wurde. Ein schmaler Weg führte den Waldessaum entlang zu einer Aussichtsbank, die gerade dem Bahndamm gegenüberstand.

Zolldick lag der Schnee auf der Bank; Petersen entfernte ihn mit ihrem Muff und setzte sich dann, um zu warten.

Auf was denn?

Immer kamen ihr solche ungerufenen Fragen in den Sinn. Auf was warten?

Auf nichts, natürlich!

Sie fühlte zu ihrem Ärger, daß sie rot wurde. Es war doch zu dumm! Wie konnte man rot werden, wenn man ganz allein war! Sie brauchte doch nicht durchaus auf etwas zu warten, wenn sie hier saß! Sie durfte doch noch spazieren gehen! Ein bißchen frische Luft tat ihr wirklich not!

Um alles in der Welt hätte sie nicht zu Hause bleiben können! Ihm zu Hause in Gegenwart der andern Lebewohl zu sagen, das hätte sie nicht fertig gebracht. Nein, nein, sie hätte gewiß irgendeine Dummheit begangen. Vielleicht hätte sie zu weinen angefangen, oder sie wäre dunkelrot geworden, oder am Ende gar in Ohnmacht gefallen! Gott weiß, was die andern dazu gesagt hätten?

Nein, das Davonlaufen war entschieden besser, wenn es auch ein bißchen feige war!

Übrigens diese plötzliche Abreise war doch unbegreiflich; das fand Ejna doch sicher auch. Als der Vater damals von Ströms beabsichtigter Reise erzählte, war auf Ejnas Gesicht deutlich zu lesen gewesen, daß sie fand, Ström hätte diese teure Reise auch bis nach der Hochzeit aufschieben können. Und das wäre auch wirklich das Natürlichere gewesen.

Bis nach der Hochzeit!

Ob es wohl wirklich zur Hochzeit kommen würde? Ob sie, Petersen, wirklich Ströms und Ejnas Hochzeit erleben mußte?

Petersen drückte den nassen Muff an ihr Gesicht und schloß mit einem tiefen Seufzer die Augen.

Ach – wie deutlich sah sie das Paar vor sich! Seine hohe, männliche Gestalt in Galauniform! Er sitzt vor dem Altar und wartet auf seine Braut. Deutlich sieht sie das flüchtige frohe Lächeln, mit dem er zu Frau Staal und den Schwestern hinüberschaut – dann beginnt der alte Solberg zu präludieren – die breite Tür öffnet sich, und an ihres Vaters Arm schreitet Ejna im Brautgewand durch den mittleren Gang zum Altar hin. Ach, wie gut ihr das Brautkleid steht! Ja, ja, Petersen sieht alles deutlich vor sich. Das feine Profil, die schöne gerade Nase – denn Ejnas Nase war gerade (Petersen gab ihrer eigenen einen kleinen Schubs nach links), das zarte kleine Kinn – das ganze wunderhübsche Gesicht unter dem verschönernden duftigen Schleier! – – –

Und er hat sich erhoben und seiner Braut zugewandt; er begrüßt sie mit dem zärtlich strahlenden Blick, den Petersen so oft im Traum gesehen hat, und dann – –

Ein schriller Pfiff entriß sie ihren Träumen. Der Zug kam; in ein paar Minuten mußte er hier sein!

Sie sprang auf und eilte dem Bahndamm zu; aber plötzlich machte sie kehrt – vielleicht war es doch besser, sie ging davon? Wenn er sie sähe!

Sie sähe?

Er ahnte ja gar nicht, daß sie hier war. Nein, sich den Zug, der ihn forttrug, ansehen, das durfte sie sich doch gönnen.

Mit beiden Händen umfaßte sie das Geländer und beugte sich weit vor.

Da – jetzt kam er unter der Brücke hervorgezischt, noch ohne große Geschwindigkeit. Petersen starrte bewegungslos auf die daherrasselnden Wagen. Dort – sie stößt einen Schrei aus und beugt sich noch weiter vor und – sie kann nicht anders – sie schwingt ihren Muff aus Leibeskräften. Dortdort in einem der letzten Wagen war er. Er hat sich weit aus dem Fenster gebeugt und schwingt den Hut, indem er ruft – ja – was ruft er? – –

»Adieu und auf Wiedersehen!«

Petersen winkt, lacht und weint; aber das letztere kann er ja glücklicherweise nicht sehen, denn das Ganze dauert nur einen Moment – einen einzigen herrlichen Augenblick!

Jetzt ist der letzte Wagen hinter dem Walde verschwunden, Petersen geht zurück und sinkt matt auf die Bank nieder.

So – nun ist er fort! Morgen, übermorgen, viele Tage und Wochen – sechs lange Monate wird sie ihn nicht mehr sehen, seine Stimme nicht mehr hören! Ihr Herz wird nicht mehr vor Freude klopfen wie sonst, wenn sie seinen Schritt hört, oder schmerzlich zucken, wenn sie ihn mit Ejna zusammen sieht. Er ist fort!

»Wie kam es nur, daß er hier heraufsah?« fragte sie sich. »Ob er geahnt hat –?«

Ein kleiner Freudenschimmer leuchtet in ihrem Herzen auf. Aber die »vernünftige Petersen« ist sofort bei der Hand: »Ach, du dummes Ding, das war natürlich nur ganz zufällig! Alle Menschen, die reisen, gucken ja zum Fenster hinaus, wenn sie an der Aussichtsbank im Walde vorbeifahren! Aber ich war doch die, die seinen letzten Gruß bekam!« tröstete sie sich selbst. Daß es nur ein armer Trost ist, fühlt sie wohl, aber sie ist genügsam, sie ist damit zufrieden.

Und tapfer bekämpft sie die aufsteigenden Tränen.

Was würden sie wohl zu Hause sagen, wenn sie verweint von ihrem Spaziergang zurückkäme?

Einen langen Seufzer sendet Petersen dem fernen Walde zu, hinter dem der Zug verschwunden ist, und begibt sich darauf mit eiligen Schritten auf den Heimweg.

 


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