Friedrich Theodor Vischer
Auch Einer
Friedrich Theodor Vischer

   weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Friedrich Theodor Vischer

Auch Einer

Eine Reisebekanntschaft

Auch Einer

von denjenigen nämlich – – – kurz, man versteht mich.

Wer es darf, hebe den ersten Stein gegen ihn auf! Ich meinesteils gedenke es nicht zu tun.

*

Ich traf ihn auf dem Dampfboot, mit dem ich auf einer Schweizerreise über den Zuger See fuhr. In der bunt zusammengewürfelten Gesellschaft, die sich auf dem Verdeck umtrieb, hätte ich ihn schwerlich bemerkt, wenn nicht ein besonderer Umstand mein Auge auf ihn gelenkt hätte. Es befand sich unter den Passagieren ein junger Mensch, jeder Zoll ein Geschäftsreisender in Baumwolle, Zigarren oder Rotwein, der sich durch sein vorlautes und eitles Wesen lästig machte. Er schien gekommen, um über alles zu spotten, was er sah und genoß; bald ging es über den Mittagstisch her, von dem er kam, bald über die Einrichtung des Boots, bald über den Schweizerdialekt, den er mit den halb gestoßenen, halb verschwommenen Lauten des eignen Idioms unglücklich genug nachzuahmen suchte; die Berge waren ihm nicht hoch, der See war ihm nicht breit genug, er verglich sie zu ihrem Schaden mit skandinavischen, irischen, amerikanischen, und die ganze Gesellschaft mußte hören, wie weit er in der Welt gewesen sei. Er spielte den Kunstkenner, sprach von Tinten, Lasuren, Clair-obscur, Konturen, versicherte übrigens, die »Schanga-Malachai« sei mehr sein »Pangschang«, als die Landschaftmalerei. Dabei wandte er sich öfters an einen ernsten Mann, den ich schon an der Wirtstafel in Zug bemerkt, der mit uns das Dampfschiff bestiegen hatte und der dem Lästigen ein beharrliches Schweigen entgegenhielt. Durch diesen Kontrast wurde meine Aufmerksamkeit auf die Erscheinung des stillen Fremdlings hingezogen. Man konnte seine Züge nicht eben interessant nennen, aber es war jenes Etwas darin, das man nicht häufig findet und das wenige zu bemerken pflegen, – jenes Etwas, wozu man sagen möchte: wieder einmal ein Mensch. Allerdings lag auch eine Art von Beschattung, etwas wie ein dunkler Flor darüber. Wenn sein Blick an den waldigen Ufern, am Rücken und steilen Gipfel des Rigi aufstieg, oder über die schimmernde Fläche des hellgrünen Sees hinlief, so meinte ich ihn öfters mit einem gewissen müden Ausdruck von seiner Bahn zurückkehren zu sehen, als wollte er sagen: das alles könnte schön sein, wenn nur – Was dem Wenn in seiner Seele folgte, war freilich aus dem Blicke nicht zu lesen. Der unbescheidene junge Mensch schien es auf den Schweigenden gemünzt zu haben und ließ einmal ziemlich hörbar etwas von katonischer Würde fallen, als derselbe einem erneuten Versuch, ihn ins Gespräch zu ziehen, mit der gewohnten Stummheit begegnete und ihm etwas auffallend den Rücken kehrte. In Immensee stieg ich in den Postomnibus, der damals nach Küßnacht führte, ein Teil der Dampfbootgesellschaft fand sich hier wieder zusammen, darunter der Geschwätzige, der dem Stummen gegenüber zu sitzen kam. Als wir durch die hohle Gasse fuhren, ließ er einige frivole Witze los, deren Wiederholung dem Leser billig erlassen wird, machte sich hierauf an die Telltradition, spielte sich als historischen Kritiker auf, indem er einige unverdaute Brocken von »bloßer Sage« vorbrachte, erklärte die Sage für eine pure Erfindung der schweizerischen Selbstgefälligkeit, kam von da auf die nächste politische Vergangenheit zu sprechen, spottete über die kriegerischen Rüstungen, die im Jahre 1856 die preußische Drohung hervorrief, und ergoß sich nun in einen Schwall von höhnischen und prahlerischen Reden, der mir solchen Widerwillen erregte, daß ich im Begriff war, den Schwätzer mit heftigem Wort anzulassen. Dieser aber wandte sich plötzlich an den stillen Mann gegenüber und fragte ihn frech: »Nun, was sagen Sie dazu?« Ueber dessen Gesicht war schon eine Zornröte gefahren, die Augen funkelten, er erhob sich, und mit mächtiger Stimme rief er: »Was ich dazu sage? Daß Sie nicht unter gebildete Menschen gehören, daß es gemein ist und Ekel erregt, ein ehrwürdiges Heldenbild, woran seit Jahrhunderten ein braves Volk hinaufschaut, mit Schmutz zu bespritzen; die verkehrte Politik eines an Macht überlegenen Staates um ein Nichts« – hier, mitten im Zug, Schwung und kräftigen Schall seiner Rede überfiel ihn plötzlich ein krampfhafter Hustenreiz, die Stimme überschlug sich in lächerliche Fisteltöne, knirschend vor Aerger fuhr er in die Höhe, riß den Wagenschlag auf, sprang hinaus, blieb am Tritt hängen und fiel zu Boden in den dichten Staub des Weges. Die langsame Bewegung des Wagens auf einer Steigung der Straße ließ unserm Geschäftsreisenden Zeit, den Kopf aus dem Fenster zu strecken und dem so peinlich unterbrochenen Gegner ein schallendes Hohngelächter nachzusenden; die Mitfahrenden, obwohl sichtbar teilnahmvoll für letzteren gestimmt, konnten sich des Lachens doch auch nicht ganz erwehren, und ich selbst, im stillen schnell sein Freund geworden, betroffen und stutzend und für ihn beschämt, konnte ein Zucken der Lachmuskeln nicht unterdrücken. Der Gefallene aber hatte sich schnell aufgerafft, über und über mit Staub bedeckt stand er und rief uns mit vernehmlicher Stimme nach: »Amplificatio, Ignoranten, amplificatio!« – Der Kondukteur hatte inzwischen halten lassen, der Bestäubte winkte ihm, weiter zu fahren, dann sah ich ihn umkehren und in entgegengesetzter Richtung forteilen. Das Wort gab mir zu denken; der nächste Sinn war unschwer zu finden, allein es schien auf einen Zusammenhang sonderbarer Art, auf eine Klassifikation, auf ein System zu deuten, gab zu raten, was für ein System das denn sein möchte, und von da weiter zu raten über den ganzen Mann, der mir so würdig und ernst erschienen war, den jetzt ein lächerliches Mißgeschick ereilt, der dessen offenbar schon viel erlebt hatte und dem das Erlebte längst ein Anreiz zu seltsamem Denken geworden sein mußte. Völliges Licht über den Zuruf sollte mir freilich erst in sehr später Zeit werden.

Inzwischen gab sich der Ungezogene ganz dem Genusse seines unverdienten Triumphes hin, unter gellendem Gelächter machte er sich in frechen Reden lustig über den unglücklichen Gegner. »Wo mag er nun wohl stecken? Ob er nun wohl seine Rede als Monolog hält, schreibt und herausgibt?« In diesem Tone ging es fort. Rasch hatte in mir über den augenblicklichen Lachreiz die Teilnahme den Sieg gewonnen, die Geduld ging mir aus, und ich fuhr den Menschen an: »Herr! nun ist es genug!« Alsbald bekam ich Beistand von der Gesellschaft, ein erster, zweiter, dritter stimmte ein, und als das Subjekt widerbellte, erklärte man ihm, daß es länger nicht im Wagen geduldet werde. Da nun wenig Aussicht vorhanden war, daß der Bedrohte freiwillig dieser Einladung oder eigentlich Ausladung folgen werde, so stand offenbar Geringeres nicht bevor, als jener tätliche Akt, den man mit dem Ausdruck »an die Luft setzen« zu bezeichnen pflegt. Unterdessen hatte der Kondukteur vom Bock aus, wo er neben dem Postknecht saß, längst unwillige Blicke durch das offene Wagenfenster hereingeworfen, er ließ plötzlich wieder halten, sprang herab, öffnete den Wagen und rief dem Friedensstörer zu, seine Vorschrift befehle ihm, ungesittete Personen, welche die Fahrgesellschaft beleidigen, aus solcher auszuweisen; er habe auch über die Schweiz gespottet und sei »einen unverschamten Mansch«. Da nun der »Mansch« nicht zweifeln konnte, daß der ehrsame Schirrmeister, wenn seinem Befehl nicht freiwillig Folge geleistet würde, in handgreiflichem Einwirken hinreichende Unterstützung bei der Gesellschaft fände, so blieb ihm keine Wahl, als weichen. Er stieg aus, der Kondukteur nahm, einige Worte vor sich hinmurmelnd, aus denen ich das minder gewählte »Lausbub« herauszuhören glaubte, seinen Platz auf dem Bock wieder ein, und bald waren wir in Küßnacht, wo ich das Dampfboot bestieg, um nach Luzern zu fahren und dort zu übernachten.

Der See funkelte im Feuer der Abendsonne, die Türme der Stadt leuchteten in ihrem Golde, eine Rosenwolke kränzte das Haupt des Pilatus. Ich vergaß das halb ärgerliche, halb lächerliche Abenteuer des Reisetags zugleich mit allen Dornen und Nesseln der menschlichen Lebensreise. Am andern Morgen reiste ich mit dem Dampfer ab, der nach Flüelen fuhr; meine Absicht war, den herrlichen See in seiner Ausdehnung zu beschauen, dann weiter zu Fuß bis zur Teufelsbrücke oder bis Andermatt zu gehen, um ruhig die vielgepriesene wilde Schönheit des Gotthardpasses zu betrachten. Halb und halb gedachte ich, schon in Brunnen auszusteigen und auf der kürzlich vollendeten Axenstraße nach Flüelen zu wandern. Eine der Stationen des Dampfschiffes ist, wie jeder weiß, der den See befahren oder seinen Bädeker studiert hat, Weggis am rechten Ufer. Ich stand am Geländer und sah zu, wie die einen aus-, die andern einstiegen. Da gewahrte ich unter den letzteren meinen Mann, den Mann der Tragödie von gestern. Er sah heute ungleich heiterer aus; mit rüstigen Schritten betrat er das Verdeck und grüßte mich ganz unbefangen, als er mir von ungefähr ins Gesicht sah und den Mitreisenden vom vorigen Tag erkannte. Dies ermutigte mich, ihn zu fragen, woher er komme. »Vom Rigi herunter,« war die Antwort. »Wie? in der kurzen Zeit?« – »Will nicht viel heißen; gestern abend hinauf, in der schönen Mondnacht herunter.« – »Wie war's? Schön, nicht wahr? Es war ja ein prächtiger Abend.« – »Wohl, wohl! Nur viel Bildungsvolk oben! Werden die Berge bald vollends wegätzen. Fehlt ein Abschreckungs-Bädeker, daß es wieder einsam würde und stille Menschen ein vertrautes Wort mit der Natur reden könnten oder von ihr anhören. Wollte auch morgens den Kerl nicht erleben, der in alter Schweizertracht den Kuhreigen bläst zum Sonnenaufgang, dann im Gasthof sein Trinkgeld einzieht; daher ab, fort, weg noch in der Nacht!« Damit wandte er sich, flüchtig grüßend, von mir und hielt sich seitab wie einer, der allein sein will. Er war nun wieder der trübernste Mann und saß so versunken in sich wie gestern. Am Tisch auf dem Verdeck entspann sich ein lebhaftes Gespräch über eine Umgestaltung des Rütli, die damals im Plane war; es handelte sich darum, saubere Wege anzulegen, die drei Quellen in irgend einer Weise zu fassen, und die Meinungen gingen darüber auseinander, ob es passender sei, nur mit schonender Hand die gegebene Natur einigermaßen zu regeln oder bei Fassung der Quellen architektonische Kunstformen anzuwenden, und wenn dies, in welchem Stil, klassisch, Renaissance, romanisch oder gotisch. Mein Mann wurde aufmerksam, blieb stehen und hörte mit sichtbarem Interesse dem wachsenden Eifer zu, womit die verschiedenen Ansichten sich aussprachen, wobei Schweizer und Deutsche, Herren und Damen in bunter Mischung sich beteiligten. Er nahm Platz am Tische, ließ sich sogar ein Glas Wein kommen, zündete eine Zigarre an, und man konnte sehen, daß er sich anschickte, sich lebhaft ins Gespräch zu mischen. Einer der Herren erklärte sich soeben für die Wahl klassischer Formen, für eine Säulenhalle. Jetzt begann der Ankömmling von Weggis: »Bitte, mein Herr, verzeihen Sie – Klassisch? ei, das wäre ja der reine –« Der Herr fiel ihm ins Wort, diesem ein zweiter, dem zweiten eine Frau, es gab ein krauses Durcheinander von Stimmen; eine augenblickliche Pause schien wieder Luft zu gewähren. Er setzte wieder an, das Wort wurde ihm wieder aus dem Munde geschnellt, so noch ein drittes Mal, dann fuhr er auf, mit einigen starken Schritten auf mich los, faßte mich ziemlich derb am Arm, zog mich hinweg und sagte: »Da haben wir wieder das Menschenvolk! Und darunter sind erst noch Schweizer, Republikaner! Selbstregierung bei Menschen, die nicht einmal warten können, bis ein Mitmensch ausgeredet hat? Reif für Tyrannenstock! Und Sie sind gewiß so klar, nicht zu meinen, ich sei bös um meinetwillen; ich empöre mich ganz gleich für jeden, der plump unterbrochen wird. Durch alle Nationen, durch alle Stände geht die Unart! Wenn die Schwätzschüssel aufgesetzt ist: wie junge Hunde sind sie, die mit den Pfoten in den Milchnapf tappen! Wie könnten solche Wesen je einen vernünftigen Staat bilden! Blindes, wirres Pack die ganze Menschenherde! Der Freiheit unwürdig!« Während ich ihn befremdet, nach einer Antwort suchend, ansah, schien sein Zorn schnell wieder dem stärkeren Interesse am Gegenstand des Gesprächs zu weichen. »Was sagen Sie zur Sache?« fuhr er nach kurzer Pause fort. Ich gestand, nicht darüber nachgedacht, mir keine Ansicht gebildet zu haben. Dies Wort versetzte ihn sichtbar in eine lehrhafte Stimmung. Mit dem Ausdruck und Ton, womit man zu gründlicher Behandlung eines Themas auszuholen pflegt, begann er: »Sie haben mir Zutrauen eingeflößt.« – Ich bewegte die Lippen zu einer Erwiderung, er schien zu merken, daß ich etwas von redlicher Teilnahme bei dem gestrigen Vorfall anzudeuten im Begriff war, und sagte kurz und scharf: »Lassen wir das,« dann knüpfte er an seine vorigen Worte wieder an: »Die vorliegende Frage ist eigentlich ohne Belang; ich meine im Grund auch, man sollte das Rütli lassen, wie es ist; da aber doch einmal Hand daran gelegt werden soll, so drängt sich die Stilfrage auf; ich beschäftige mich gern mit Kunstgeschichte, insbesondere Geschichte der Architektur; sie liegt noch ganz im argen; man hat den Begriff des Wesens der historischen Hauptstile noch nicht entdeckt, und wie will man einen neuen finden, wenn man solchen nicht aus dem rechten Grunde des Begriffes schöpft? Ich erlaube mir, Ihnen meine Idee vorzutragen; es macht eben jeder gern Propaganda für seine Gedanken, seine Entdeckungen. Ich unterscheide den rein katarrhalischen Baustil: dies ist der klassische; ferner den gemischt katarrhalischen oder den Katarrh- und Frostbeulenstil: dies ist der gotische, mit einer Vorstufe, dem romanischen, mit dessen Ergründung und schärferer Begriffsbestimmung ich noch beschäftigt bin; der Renaissancestil, wie er aus dem römischen hervorgegangen, gehört einerseits noch zur rein katarrhalischen Form – schon wegen seiner Vorliebe zu Hallen und Loggien –, enthält aber andrerseits Keime, um aus ihm den Zukunftsstil, den einzig richtigen, den absoluten Stil, das heißt den reinen Segensstil zu entwickeln.«

Ich starrte den eifrig Vortragenden in großer Verblüffung an; ich mochte unbeschreiblich dumm aussehen. Er ließ sich nicht stören, sondern fuhr sehr ernst fort: »Sie erkennen doch, daß im klassischen, das heißt rein griechischen Stil alles auf den Ausdruck des Satzes angelegt ist: hier, auf diesem windigen Peribolos, hier, in diesen zugigen Säulenhallen, hier, in diesem kühlen, lichtlosen oder (wenn der Tempel ein hypäthrischer ist) erst doppelt zugigen Heiligtum wirst du, mußt du – wenigstens gewiß, wenn du ein Nordländer bist – dich verkälten! – Glauben Sie mir, verehrter Herr, der Anblick solcher Räume in einem Gemälde kann allein schon gefährlich werden. Als ich in Paris zum erstenmal die Hochzeit zu Kana von Paolo Veronese sah, als ich nur in Gedanken mit dieser glänzenden Gesellschaft in der offenen, luftdurchzogenen Halle verweilte, habe ich mir einen meiner bösesten Schnupfen geholt. Wo soll man die Stimmung herbringen, ein solches Gemälde froh zu betrachten, zu bewundern? – Was wir dagegen aus dem klassischen Baustil allerdings entlehnen, wie das Entlehnte echt symbolisch weiterbilden sollen, darüber nachher, wenn ich in meiner Auseinandersetzung zum wahren Ideal- oder Segensstil gelange. Um nun zum gemischt katarrhalischen oder Katarrh- und Frostbeulenstil überzugehen – er ist für Nordländer geschaffen in einer Zeit der Roheit, da man nicht wußte, daß das Geschlossene noch nicht genügt, so –«

Er hatte schon bei den letzten Sätzen begonnen, langsamer, unterbrochener, zerstreuter zu reden, die Stimme sank, die Züge verfinsterten sich, und es fiel mir seltsam auf, daß er stark einwärts schielend auf seine Nasenspitze herniedersah. Bei den letztgenannten Worten hielt er plötzlich inne und sagte in gedehntem, tiefem, dumpfem, eigentlich tragischem Tone vor sich hin, als wisse er nicht mehr, daß er im Gespräch mit einem andern begriffen sei: »Sie glänzt.«

Er lief plötzlich weg, ließ mich ohne alle Entschuldigung stehen und wandte sich dem fast leeren Platz zweiter Klasse zu. Hier sah ich ihn heftig auf und ab gehen, dunkle Worte vor sich hinmurmelnd, von denen ich, behutsam mich nähernd, doch einmal deutlich den Satz heraushörte: »Den haben mir die Ungeheuer, die Kellner auf Rigi-Kulm hingelaufen; – also jetzt zum alten und halbalten ein neuer!« –

Ich konnte keinen Versuch machen, mit dem Manne noch einmal anzuknüpfen; alles sah danach aus, daß ich heftig abgewiesen würde. Was der gemischt katarrhalische Baustil, was der reine Segensstil sei, das sollte mir im Schoß des ewigen Dunkels verborgen bleiben, wenn nicht ein glücklicher Zufall mir noch zum Lichte verhalf. Ich stieg in Brunnen aus, um einen ruhigen Abend in dem freundlichen Dorfe zuzubringen, das in die Verengung des Sees so reizend sich einschmiegt, und entschloß mich nun gleichzeitig, den andern Tag bis Flüelen auf der neuen Axenstraße zu gehen, nahm ein Zimmer im nächsten Wirtshaus und suchte schnell wieder das Freie, um von der Landungsstätte den großen Blick aufwärts und abwärts über den See, über die wilden und doch am Fuße so anmutig bekränzten Ufer zu gewinnen. Auf der Bank vor dem Hause saß mein Mann; ich hatte nicht bemerkt, daß er mit mir ausgestiegen war. Er schien alles Leid vergessen zu haben, denn er spielte wie ein Kind mit zwei jungen Hunden, deren Hanswurstpossen ihm sichtbar ein volles, ungeteiltes Vergnügen bereiteten. Ich blieb stehen und hatte meinen Spaß an dem Anblick. »Sind Sie auch ein Hundsfreund?« fragte er ganz heiter; ich bejahte es, er erging sich in Bemerkungen über die Rasse der drolligen Gesellen, die von mehr als gewöhnlicher Kennerschaft zeugten, er zeigte mir an beiden eine Reflexbewegung, von der er behauptete, sie komme fast ohne Ausnahme bei allen Hunden vor; er kratzte nämlich scharf an einer Stelle der Brust, worauf alsbald der eine Hinterfuß in ein heftiges, unwillkürliches Scharren geriet; er erklärte dies für eine bloß physiologische Aktion, ich war der Ansicht, der Hund meine, scharren zu müssen, weil er durch das Kratzen gekitzelt werde; er bestritt mir dies heftig als eine seicht »rationalistische« Deutung, und ich bemerke gelegentlich, daß ich nach vielen seither gemachten Beobachtungen diesem Gelehrten recht geben muß; wir plauderten dies und das über den ehrlichen Gespielen, Diener, Wächter des Menschen, und mein Mitfreund des wackeren Geschlechts bedauerte schließlich lebhaft, daß er ein prächtiges Paar, einen großen Hatzrüd und einen Rattenfänger, habe zu Haus lassen müssen; der erste sei »ganz ein Charakter«, der zweite »Charakter mit Frechheit und Humor«. Ich fragte, ob ich ihn nicht zu einem kleinen Spaziergang einladen dürfe, die Abendbeleuchtung sei so schön; er schüttelte lächelnd den Kopf und sah mit erklärendem Blick auf seine zwei Hunde. Ich ging allein.

Später, beim Abendessen, sah ich den seltsamen Kauz nicht; als ich aber nachher im Vorbeigehen einen Blick in die allgemeine Wirtsstube warf, entdeckte ich ihn mitten unter breitschulterigen Bürgersleuten, größtenteils in Hemdärmeln; er lauschte mit glänzenden Augen den rauhen Rachentönen des lauten Gesprächs und den wiehernden Jodlern, die es unterbrachen, und das Durcheinander der Stimmen schien ihn diesmal durchaus nicht zu belästigen. Das Bild erschien mir so heiter naiv, daß ich fast bedauerte, nicht dasselbe Teil erwählt zu haben, denn ich war langweilig genug unter einigen steifen Teegesichtern in der »salle à manger« gesessen, wozu ich das früher einfache Landwirtshaus emporgeschraubt finden mußte.

Ich konnte lang nicht einschlafen, hörte meinen Wandnachbar in sein Zimmer treten, sich auskleiden und zu Bett legen. Das Haus war so hörsam, daß selbst das Nagen einer Maus im Nebenzimmer meinem Ohre nicht entging. Den unbekannten Bewohner desselben hielt ich für längst eingeschlafen, als ich die Worte vernahm: »Ach, es fängt an.« Es war die Stimme meines armen Verkälteten. Was denn auch wirklich anfing, war ein scharfes Husten und häufiges starkes Räuspern und Spucken, das, von tiefen Seufzern unterbrochen, zu meiner eignen Qual wohl eine Stunde dauerte, dann aber einem fürchterlichen Schnarchen Platz machte, das im ganzen Register einer Orgel sich hin und her bewegte, oft von stoßenden, plötzlich abschnappenden Tönen und bangen Pausen unterbrochen, worin der musikalische Schläfer nach Atem zu ringen schien. Ich hätte ernstlich für seine Lunge gefürchtet, wenn nicht seine Gesichtsfarbe, gewölbte Brust, Energie der Bewegungen, wie ich sie während des Tags beobachtet hatte, eine ausdauernde Widerstandskraft verbürgt hätten. Endlich schlief ich doch selbst ein, freilich nur, um sehr früh geweckt zu werden und zwar durch ein Auf- und Abgehen meines Nachbars, das mit Geräuschen wechselte, aus denen ich auf ein ungeduldiges Suchen in Schubladen, auf Tischen, in allen Geräten des Zimmers schließen mußte. Das Laufen, Stöbern wurde immer heftiger, ein Selbstgespräch, das diese wilden Bewegungen zuerst leis begleitete, wurde lauter und lauter und ging dann in wütende Ausrufungen, endlich in einen Hagel von Flüchen über, die in der Tat nicht christlich, vielmehr türkisch, ja heidnisch zu nennen waren und von einem wütenden Stampfen und Wettern begleitet wurden. Ich hielt es nicht mehr aus, der Mensch schien mir rein toll geworden, ich kleidete mich flüchtig an, klopfte an seiner Türe und trat, in meiner Aufregung die Form vernachlässigend, ins Zimmer, ohne auf das »Herein« zu warten. Mit zornsprühenden Augen, hochrot im Gesicht, fuhr der Bewohner auf mich zu, er schien mich an der Kehle packen zu wollen; plötzlich aber faßte er sich, stand unbewegt vor mir, sah mich mit durchdringendem Blick an und sagte ruhig streng: »Mein Herr, Sie führt ein Bildungsbedürfnis hierherein.« Es war mit meinem Gewissen nicht sonderlich bestellt, denn ich hatte doch eine Form-Verletzung begangen; dies machte mich wehrlos, ganz kleinlaut sagte ich: »Ja,« und fragte nun, was er denn aber ums Himmels willen eigentlich habe. A. E. – so wollen wir meinen Reisebekannten von nun an der Kürze halber nennen – fiel jetzt wieder in seinen Wutzustand und schrie mit Donnerlaut: »Meine Brille, meine Brille! Die Canaille hat sich wieder einmal verkrochen – vom Schlüssel, dem kleinen Teufel, vorerst nicht zu reden!«

»Also Ihre Brille suchen Sie? Ist dies Objekt es wert, daß man in solche Wut gerate? Kennen Sie denn auch gar keine Geduld?«

Er wollte gegen mich auffahren, faßte sich aber auch diesmal wieder, sah mich an und sagte: »Schraubenschlüssel? Pfropfzieher?«

»Was soll das?«

»Nun, neulich träumte mir schrecklicherweise, ich habe eine Frau; ich lachte sie aus, daß sie die Zeitung unaufgeschnitten lese und jahrelang eine Schublade dulde, die nicht geht. Hierauf hielt sie mir eine Geduldpredigt und verlangte, ich solle zur Uebung dieser Tugend an meinem Rock statt Knopflöcher und Knöpfe Schrauben und Schraubenmütter tragen, die sich ja ganz elegant von blau angelaufenem Metall herstellen ließen, oder auch Pfropfe, und ich könne jedesmal, wenn ich den Rock öffnen wolle, jene mit einem Schraubenschlüssel, diese mit einem Pfropfzieher aufmachen. – O was! ein Weib ist fähig, über einen Schrank einen Teppich so zu legen, daß er über die oberste Schublade überhängt und, so oft diese gezogen und geschlossen wird, sich einklemmt! Mein Herr, das Weib hat Zeit für den Kampf mit dem Racker Objekt, sie lebt in diesem Kampf, er ist ihr Element; ein Mann darf und soll keine Zeit hiefür haben, er braucht seine Geduld auf für das, was der Geduld wert ist. Ueber die Zumutung, beides zu verwenden an das Unwerte, kann, darf, soll er wüten! Sie können doch wissen, daß die elenden Objekte, diese Igel, diese Nickel, sich nie lieber einhaken, als wenn wir die höchste Eile haben, etwas fertig zu bringen, was nötig und vernünftig ist! Elender Bettel, nichtswürdiger Knopf oder Knäuel eines Bändels, Lorgnettenschnur, die sich um meinen Westenknopf wickelt, just, wenn es auf der Eisenbahn aufs äußerste eilt, einen klein gedruckten Fahrplan nachzusehen, ich hab' ja keine Zeit, keine Zeit für euch! Und wenn ich tausend Blutigel an die Ewigkeit setze, sie ziehen mir nicht eine Sekunde Zeit für euch heraus!«

»Was nützt aber die Wut?«

»O, geistlos! Hat es Luther nichts genutzt – falls von Nutzen die Rede sein soll –, wenn er den Teufel fortschalt? Wißt ihr denn nichts von Entlastung der armen Seele? Von der köstlichen Arznei, die im Fluchen liegt?«

Der böse Geist kam mit neuer Gewalt über ihn, er schoß wütend im Zimmer hin und her und ergoß eine Flut von Schimpfwörtern auf die arme Brille. Ich suchte inzwischen am Boden herum; ich hob ein paar Hemden weg, die blank, aber zerzaust umherlagen, und mein Blick fiel auf ein Mausloch in einem Bretterspalt; ich glaubte darin etwas schimmern zu sehen, strengte meine Augen an, die sich einer guten Sehkraft erfreuen, und die Entdeckung war gemacht; ich nahm den schwergeärgerten Mann leicht am Arm und deutete schweigend auf die Stelle. Er stierte hin, erkannte die vermißten Gläser und begann: »Sehen Sie recht hin! Bemerken Sie den Hohn, die teuflische Schadenfreude in diesem rein dämonischen Glasblick? Heraus mit dem ertappten Ungeheuer!«

Es war nicht leicht, die Brille aus dem Loch zu ziehen, die Mühe stand wirklich im Mißverhältnis zum Werte des Gegenstands, endlich war es gelungen, er hielt sie in die Höhe, ließ sie von da fallen, rief mit feierlicher Stimme: »Todesurteil! Supplicium!« hob den Fuß und zertrat sie mit dem Absatz, daß das Glas in kleinen Splittern und Staub umherflog.

»Ja, jetzt haben Sie aber ja keine Brille,« sagte ich nach einer Pause des Staunens.

»Wird sich finden, diese Teufelsbestie wenigstens hat ihre Strafe für jahrelange unbeschreibliche Bosheit. Kommen Sie, da, sehen Sie!« Er zog seine Uhr heraus; es war eines der ordinärsten, in der Tat gemeinsten Produkte der horologischen Industrie, ganz Zwiebel. »Statt dieses redlichen, treuen Wesens,« fuhr er fort, »fungierte früher eine goldene Repetieruhr, die, ich kann es sagen, ihr Stück Geld gekostet hatte; sie vergalt dieses Opfer jahraus jahrein mit Tücken jeder Art, ging nie recht, benützte arglistig jede Gelegenheit, zu fallen, sich zu verstecken, Gläser zerbrachen so viele, daß es mich bald an den Bettelstab gebracht hätte, endlich setzte sie sich mit dem Haken der goldenen Uhrenkette in Einverständnis, in Verschwörung. Mit den Haken, mein Herr, hat es nämlich eine eigne Bewandtnis. Das Tendenziöse, was im Objekt überhaupt liegt – darüber wäre einiges zu sagen, mein Herr, aber das ist von langer Hand – das Tendenziöse spricht sich so offenkundig in der Galgenphysiognomie der Haken aus, daß man im Umgang mit diesen hämischen Gesichtern leicht unvorsichtig wird; man denkt: dich kenne ich ja, dich verrät deine griffige, vor sich selbst warnende Bildung, du wirst mich nicht überlisten; eben darüber wird man im Gegenteil fahrlässig. Ganz umgekehrt verhält es sich bei so manchen andern Objekten. Wer sollte zum Beispiel einem simplen Knopf seine Verruchtheit ansehen? Aber ein solcher Racker hat mir neulich folgenden Possen gespielt. Ich ließ mich gegen alle meine Grundsätze zur Teilnahme an einem Hochzeitsschmaus verleiten; eine große silberne Platte, bedeckt mit mehrerlei Zuspeisen, kam vor mich zu stehen; ich bemerkte nicht, daß sie sich etwas über den Tischrand heraus gegen meine Brust hergeschoben hatte; einer Dame, meiner Nachbarin, fällt die Gabel zu Boden, ich will sie aufheben, ein Knopf meines Rockes hatte sich mit teuflischer List unter den Rand der Platte gemacht, hebt sie, wie ich schnell aufstehe, jäh empor, der ganze Plunder, den sie trug, Saucen, Eingemachtes aller Art, zum Teil dunkelrote Flüssigkeit, rollt, rumpelt, fließt, schießt über den Tisch, ich will noch retten, schmeiße eine Weinflasche um, sie strömt ihren Inhalt über das weiße Hochzeitkleid der Braut zu meiner Linken, ich trete der Nachbarin rechts heftig auf die Zehen; ein andrer, der helfend eingreifen will, stößt eine Gemüseschüssel, ein dritter sein Glas um – o, es war ein Hallo, ein ganzes Donnerwetter, kurz ein echt tragischer Fall: die zerbrechliche Welt alles Endlichen überhaupt schien in Scherben gehen zu wollen; mich ergreift die Stimmung des Erhabenen, ich fasse zunächst eine Champagnerflasche, trete ans Fenster, öffne es, schwinge sie empor, der Bräutigam fällt mir in den Arm, ich erzürne mich, es gibt bös Blut, die Braut war ohnedies halb ohnmächtig, kurz, – ich mag nicht weiter erzählen, denn nun wurde die Sache komisch.« –

»Ernst, wollen Sie sagen?«

Er staunte mich an wie einen Menschen, der alle gesunden Begriffe verwirrt; ich verzichtete auf weiteres Eingehen und bat ihn, das Trauerspiel von Haken und Uhr zu vollenden.

»Ja so, ja, also: der Haken schlich in einer Nacht über das Tischchen, worauf ich die Uhr achtsam gelegt, leise hinüber nach dem Bett, nestelte sich in eine Naht des Kissenüberzugs ein, das Kissen war mir überflüssig, ich hob es rasch und warf es an das Fußende des Bettes, die Uhr nun natürlich mit; in einem prächtigen Bogen schwang sie sich an die Wand und fiel mit zersplittertem Glase nieder. Es war genug. Ich zertrat sie feierlich wie diese Verbrecherin von Brille, der Kobold gab dabei einen Ton von sich, einen Pfiff wie eine verfolgte Maus, ich kann schwören, daß es ein Laut war, der nicht im Umfange der physikalischen Natur liegt. Nun, dann habe ich mir hier diese bescheidene Zeigerin der Zeit um niederträchtig geringes Geld gekauft; betrachten Sie die Gute: bemerken Sie den Ausdruck von Biederkeit in diesen schlichten Zügen; seit zwanzig Jahren dient sie mir, – unberufen, unberufen! – treu und ehrlich, ja ich kann sagen, nicht einen Verdruß hat sie mir bereitet. Die goldene Uhrenkette hat jetzt mein Bedienter, der Haken wurde zu schmachvollem Tod in der Kloake verdammt, und ich trage meine redliche Zwiebel an dieser sanftgearteten seidenen Schnur; Johann, der muntre Seifensieder.«

A. E. war während dieser Darstellung, in deren Breite er sich zu gefallen schien, ganz ruhig geworden und fuhr gelassen fort:

»Jetzt das übrige! Die übrige Geschichte dieser schwarzen Morgenstunde!

»Zuerst springen an drei Hemden die Knöpfchen ab, da ich sie anziehen will. Ja, ja, so ein Hemdknopf! Ein Bär stellt sich ehrlich zum Kampf; ich weiß, was ich zu tun, wie ich meine Waffe anzuwenden habe; einen hundertjährigen Eichbaum kann ich mit Kraft und Ausdauer umhauen; aber der Knirps! Ich soll Kraft anwenden, denn die Bestie will absolut nicht durchs Knopfloch, und ich soll sie zugleich ebensosehr gar nicht anwenden, sondern ganz fein und leicht mit den Fingerspitzen arbeiten, und indem ich mich placke, schinde, abrackere, foltere, töte, das Widersprechende zu leisten, – o lustig! springt die Schmachcanaille erst recht ab! Die Teufel nehmen Besitz vom Weibe, uns dies Scheußliche zu bereiten. Ich habe es von glaubwürdigen, wahrheitliebenden und besonnenen Ehemännern: wegen der Hemdknöpfchen heiratet man, und dann ist es erst recht nichts damit. – Weiter! – Nur im Vorbeigehen will ich anführen, daß mich zuerst beim Ankleiden ein höchst ränkesüchtiges Armloch gute fünf Minuten lang insultiert hat, – dabei blieb ich aber noch ganz ruhig – denn ich kann mich beherrschen, mein Herr! Nun aber sehen Sie diesen Schlüssel« – er zog einen kleinen Schlüssel hervor, der wohl zu seiner Reisetasche gehörte, – »und sodann diesen Leuchter!« – er hielt mir den metallenen Leuchter umgekehrt vors Auge, so daß ich in die Höhlung seines Fußes sah; – »was glauben, was denken, was sagen Sie?«

»Ja, was weiß denn ich?«

»Stark eine halbe Stunde lang habe ich heute morgen diesen Schlüssel gesucht, – es war zum Rasendwerden, da finde ich ihn endlich, sehen Sie, so!« Er legte den Schlüssel auf das Tischchen am Bett, stellte den Leuchter darauf; der Schlüssel fand just, wie ausgemessen, Platz unter dem Leuchterfuß.

»Wer kann nun daran denken, wer auf die Vermutung kommen, wer so übermenschliche Vorsicht üben, solche Tücke des Objekts zu vermeiden! Und dazu lebe ich! An solches hündische Suchen muß ich meine arme, kostbare Zeit verschwenden! Suchen, suchen, und wieder suchen! Man sollte nicht sagen: so und so lang hat A. oder B. gelebt, nein: gesucht! – Und ich bin sehr, sehr pünktlich, glauben Sie mir das!« –

»Jawohl ist das Leben ein Suchen,« sagte ich mit einem Seufzer, der scheinen konnte, den Mühen des Lebens zu gelten, während er in Wahrheit von der Langeweile ausgepreßt war, da die breite Beschäftigung mit dem Bagatell mich denn doch zu ermüden begann. Daher denn auch die flache Bemerkung selbst, die nur um jeden Preis nach einem Inhalt abzulenken suchte.

Ich kam schlecht an. »So, mein Herr, symbolisch?« sagte er. »Und das soll dann tiefer sein! Ah! O!«

»Nun, was denn?«

»Sehen Sie, mein Herr, suchen im bildlichen Sinn, darüber, daß das Leben so ein Suchen ist, darüber klage ich nicht, darüber sollen Sie nicht seufzen. Das Moralische versteht sich immer von selbst. Ein rechter Kerl sucht, strebt und beschwert sich nicht darüber, sondern ist glücklich in diesem Unglück der ansteigenden und nie anlangenden Linie des Lebens. Das ist unser oberes Stockwerk. Aber die Zugabe, die Hundenot gleichzeitig im untern Stockwerk des Lebens, – davon ist die Rede. Da ist also zum Beispiel das Suchen, das so toll, so nervös, so wahnsinnig macht. Man verfällt ja dabei immer in den Theismus. Der liebe Gott, der oben herunterschaut, der die Haare auf unserm Haupte zählt, der mich nun stundenlang meine Brille suchen sieht, – er sieht ja auch die Brille, weiß recht gut, wo sie liegt, – ist es zum Ertragen, nun denken zu müssen, wie er lachen muß? – Allgütiges Wesen! Meinen Sie, ein solches würde ferner den Katarrh zulassen? Leben – Suchen – Spucken! Da sagen die törichten Menschen von einem Ausgedienten, von einem Erlösten, von dem sie meinen, er gehe als Geist um, er spuke! Dummes Zeug, aus hat er gespuckt! O, wir sind geboren, zu suchen, Knoten aufzudröseln, die Welt mit Hühneraugen anzusehen, und ach! zu niesen, zu husten und zu spucken! Der Mensch mit seines Hauptes gewölbter Welt, mit dem strahlenden Auge, dem Geist, der in die Tiefen und Weiten blitzt, mit dem Fühlen, das mit Silberschwingen zum Himmel aufsteigt, mit der Phantasie, die ihres Feuers goldene Ströme ausgießt über Berg und Tal und sterblich Menschenbild zum Gott verklärt, mit dem Willen, dem blanken Schwert in der Hand, zu schlichten, zu richten, zu bezwingen, mit der frommen Geduld, zu pflanzen, zu pflegen, zu wachen, daß der Baum des Lebens wachse, gedeihe und Himmelsfrucht jeder sanften Bildung trage, der Mensch mit der Engelsgestalt des ewig Schönen im ahnenden, sehnenden Busen – ja, dieser Mensch verwandelt in einen schleimigen Mollusken, zur klebrigen Auster erniedrigt, ein Magazin, ein Schandschlauch für vergärenden Drüsensaft, eine Schneuzmaschine, im Hals ein zackig Kratzeisen, ein Nest von Teufeln, die mit seinen Nadeln nächtelang am Kehlkopf kitzeln, die Augen trübe, das Hirn dumpf, stumpf, verstört, der Nerv giftig gereizt, und dabei erst nicht als Kranker geltend, noch geschont – und da soll es einen Gott –!«

Hier geriet mein Gottesleugner in ein Niesen und Husten so teilnahmwerter Art, daß ich eine Bemerkung, die mir auf der Zunge lag: der Katarrh sei denn doch nicht der gewöhnliche Zustand des Menschen, gern unterdrückte; ich konnte freilich ohnedies ahnen, daß ich schlecht damit gefahren wäre. Dagegen wollte ich mich doch nicht enthalten, als der Paroxismus zu Ende war, vorzubringen: »Aber was machen Sie denn, wenn Sie ernstlich, schwer krank sind?«

A. E. war inzwischen daran, sich reisefertig zu machen, wurde über einem Hindernis, das sich an der Rückseite seiner Beinkleider zu befinden schien, noch einmal sichtlich aufgeregt, trat plötzlich hart vor mich, machte straff wie ein Soldat rechtsumkehrt und schrie sehr laut und schroff: »Hier!«

Ganz verdutzt, als ich nun so breit seinen Rücken vor mir hatte, dachte ich, ob denn dies der Anfang des versprochenen Bildungsunterrichts sein solle; er ließ mir ziemlich Zeit zur Betrachtung, bis der Aufschluß kam: »Sehen Sie die Lappen am Hüftgurt? sind fünfmal, sage fünfmal beim Schneider gewesen vor der Abreise; zuerst zu lang oder zu weit, dann wieder zu kurz oder zu eng, dann beides nocheinmal so – nun? wie steht's mit der Theologie?«

Ich verstand jetzt, daß ich sehen sollte, wie die Lappen einander zu nah angenäht waren, die Gürtung also nicht genug angezogen werden konnte; er war zufrieden, als ich mein Verständnis kund gab, und nun schien der Sturm ausgetobt zu haben. Meine vorige Bemerkung fiel ihm jetzt wieder ein.

»Was haben Sie von recht Kranksein gesagt? Nun, das ist ja Geduld wert. Das Moralische versteht sich immer von selbst.«

Er hatte inzwischen seine Reisetasche gepackt, wobei er, wie ich bemerkte, sehr geschickt zu Werke ging; es galt, viele Kleinigkeiten in engen Raum zusammenzufügen, und er brachte es ganz nett zustande; Ungeschicklichkeit, das sah ich, konnte nicht die Ursache des Kriegszustandes sein, in dem er mit dem Bagatell sich befand. Er sagte mir nun, er wolle seine Reise auf der Axenstraße am See zu Fuß fortsetzen. Leicht konnte er sich denken, daß ich wahrscheinlich ebendasselbe vorhabe, der Gedanke eines Zusammenwanderns lag, da wir denn doch schon Bekannte waren, nahe genug, aber es fiel ihm nicht ein, auch nur einen Wink zu geben, der entfernt einer Einladung gleichgesehen hätte. Ich dachte, er erwarte, daß ich mich ihm erst vorstelle, und begann: »Erlauben Sie, es ist doch wohl Zeit, daß ich mich Ihnen –«

Er unterbrach mich: »Bitte, danke, lieber nicht, – verzeihen Sie, es ist nicht Maske, nicht Geheimtuerei von mir, gewiß nicht, liebe aber, auf der Reise wenigstens, alles klar, frei. Name und Stand macht Nebengedanken, führt auf Namen-Etymologie und dergleichen, wir sind eben jeder ein Ich, eine Person oder, wie Fischart sagt, seelhaftes Lebwesen; wir befinden uns besser so.«

Ich war nun schon im Zuge, dem wunderlichen Kauz nichts übel zu nehmen, und da, wie ich gestehe, meine Neugierde nach Namen und Stand eben auch nicht groß ist, so ließ ich mir's unschwer gefallen, daß ich auch nicht erfahren sollte, wen ich eigentlich vor mir habe. Ich reichte auf der Schwelle die Hand zum Abschied, und A. E. wollte sie eben nehmen, als ihm einfiel, daß er doch erst frühstücken sollte; dieses Werk wenigstens noch gemeinsam zu verrichten, dagegen schien er denn doch nichts zu haben, und so stieg ich mit ihm in die »salle à manger« hinab.


   weiter >>