Friedrich Theodor Vischer
Auch Einer
Friedrich Theodor Vischer

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Nachdem Stille geboten war, erfolgte nun durch Angus die feierliche Vorstellung der Barden bei der Gemeinde und an den Seanacha Feridun Kallar die Einladung, seinen Vortrag zu beginnen. Er schlug den Vortritt aus. »Nicht ich,« sprach der freundliche Mann, »der Sänger sei gebeten, voranzugehen! Es ist billig, daß die helle, jugendliche Dichtung den Reigen führe, daß sie in den Seelen den schönen Stimmungsgrund für die ernsten Wahrheiten lege, welche die Wissenschaft vorzutragen hat.« Nach kurzem Widerstreben gegen die Ehre, die ihm der ältere Freund erwies, trat ein jugendlicher Mann vor und bestieg die Kanzel. Sie war vor dem Dolmen errichtet, ihre Brüstung mit Tannenreisern geschmückt, darin war eine Oeffnung gelassen für eine Harfe. Ein Diener trug das hochgebaute Instrument, die Telyn, hinauf und stellte sie zurecht. Mit feierlicher Verbeugung, die Hand auf die Brust gelegt, begrüßte der Dichter die Versammlung. Erwartungsvolles Flüstern ging durch die Reihen. »Groß ist er nicht,« sagte Bürger Porree zum Nachbar Ferrex. »Aber sieh, was für ein edles Haupt,« erwiderte dieser und hatte recht, denn unter der klaren Stirne wölbten sich in feinem Bogen die Brauen über den lichtvollen dunkeln Augen, die Adlernase deutete auf Feuer und Schwung, und auf die süße Gabe des rhythmischen Wortes die wohlgeformten, nur leicht geschlossenen Lippen. »Und wie schön er den Kopf trägt,« ergänzte Bürger Liwarch die beiden andern, denn ungesucht stolz aufrecht stand das bärtige Haupt auf dem schwungvoll gezeichneten Halse. Der Mond war jetzt über dem See aufgegangen und warf seinen ersten, noch matten Schein auf den Filea, den Sängerbarden, Guffrud Kullur. Er griff einige einleitende Töne auf der Harfe und begann seinen Vortrag. Seine Dichtung war auf eine uralte Melodie gesetzt, die nur den Aelteren in den Gemeinden noch geläufig war; im musikalischen Geschmack war seit einiger Zeit eine Wandlung eingetreten, man liebte bewegtere Weisen, doch bedurfte der Sinn für den Wert der alten ernsten Gangart nur einer Weckung, und der Barde war der Mann, solche ins Werk zu setzen:

»Sehe dich im Dunkeln leuchten,
Sehe dich im grauen, feuchten
Nebel sanft und stille brüten,
Samen alles Werdens hüten:

Willkommen, Auge du der Nacht,
Die auf den Wassern träumend liegt,
Gegrüßt im Kranz der Sternenpracht,
Die spielend sich im Weltraum wiegt!

Weiße Schleier seh' ich wehen,
Lispeln hör' ich heil'ge Feen,
Tauchen auf und tauchen nieder,
Singen dunkle, alte Lieder:

Sie wissen, was da ist und war,
Eh' noch ein Menschenkind gelebt.
Dem Geisterblick ist offenbar,
Was werdend in den Nebeln schwebt.

Urgebirge seh' ich ragen,
Aus der Schöpfung ersten Tagen,
Felsenkämme breit geschichtet,
Hörner himmelan gerichtet:

Das schimmert von der Ferne her
Tiefschweigend wie ein Nachtgebet,
Dahinter höre ich das Meer
Im Geist und wie die Brandung geht.«

Hier griff der Sänger gewaltig in die Saiten, denen er bis dahin am Schlusse der Strophen nur leise, zitternde Akkorde entlockt hatte; eine stürmische Tonflut brauste durch die stille Nacht und durch die erschütterten Seelen der Zuhörer, die noch tiefer schwiegen, als der kaum bewegte Spiegel des Sees im Strahle des Mondes. Der Barde ließ die mächtigen Laute noch fortrollen, während er die nächste Zeile sang, dann ging er wieder in die zart gegriffenen Töne über, denen er Pausen ließ, um noch hörbar unter dem gleich sanften Plätschern der Wellen im Röhricht und dem leisen Rauschen des nahen Haines zu verschweben und zu verhauchen:

»Brausen hör' ich's allerwegen
Einem neuen Tag entgegen,
Durch die weiten Geisterbahnen
Geht ein Träumen, geht ein Ahnen.

Wir sinnen, wo in weiter Welt
Die Tore wohl geöffnet sind
Und wann wohl seinen Einzug hält
Das längst ersehnte Heldenkind.

Brüte, Nebel, wärme, brüte
Dunkler Keime Wunderblüte!
Einst gelangt die Welt zum Worte
In der Göttin keuschem Horte:

Schon weicht der letzte, leise Spott
Und Zweifel aus des Herzens Grund;
Es ist, als tät' der alte Gott
Mir endlich seinen Namen kund.«

Es folgte eine lange Pause allgemeiner Stille, nachdem die letzten Töne der Harfe fernhin verzittert waren. Dann begann ein Flüstern und man hörte aus demselben da und dort ein tief aus der Brust geholtes: »O!«, das nicht nach Schmerzlaut klang oder, wenn nach einem solchen, dann war es der Seufzer, der sich der Brust entringt, wenn sie in ihren Tiefen von Sehnsucht und Ahnung erregt ist. Dagegen auf einer Seite des Halbkreises begannen andre Töne hörbar zu werden, Laute von jener Gattung, die man ein Munkeln nennt. Diese Töne mehrten sich, wuchsen, man bemerkte dann eine Bewegung unter den Leuten, man sah, wie sie, auf den Druiden weisend, einander anstießen, hierauf sammelten sich einige um ihn und das Ergebnis war, daß er die Rednerbühne bestieg.

Der Hymnus war eigentlich der Gemeinde zur Entscheidung darüber vorgelegt, ob er ihr gefalle und sie ihn am Feste gern singen möge. Daß der Druide sie als ihr Sprecher vertrat, war nur natürlich, dagegen immerhin etwas vom Zaun gebrochen, daß er nun die Stimmen der Bürger, die ihn da umstanden, nur so ohne weiteres für den Ausdruck der Meinung aller nahm, wiewohl übrigens streng parlamentarische Formen der Abstimmung allerdings noch nicht im Gebrauche waren; kurz, der ziemlich parteiische Obmann betrat nun die Kanzel und sprach:

»Hochgeachtete Gäste, insbesondere hochgeachteter Herr Bardensänger! Ich weiß, daß ich im Sinne der ganzen Gemeinde spreche, wenn ich erkläre, daß sie in Eurem Festgedichte ein Erzeugnis sowohl der religiösen Gefühlsbegeisterung, als auch der tiefen poetischen Stimmung begrüßt, im Inhalt höchst bedeutend, in der Form fließend, korrekt, geisterhaft. Nur ganz unmaßgeblich, weit entfernt von aller Absicht, diese Blüte der Dichterphantasie irgend verkleinern zu wollen, möchte ich mir einige bescheidene kritische Bemerkungen erlauben. Dürfte es nicht vielleicht denkbar sein, daß ein Festgesang als Hymnus mehr ausdrückliche verherrlichende Anrede an die Gottheit, zugleich auch und eben im Zusammenhang damit mehr eigentlichen religiösen Glaubensgehalt in sich schlösse? Nicht als Dichter darf ich mich für befugt erachten, diese leisen Ausstellungen vorzubringen, ich rühme mich nicht, mit der Gabe der Poesie gesegnet zu sein; jedennoch sind in diesen Tagen weihevoller vorfestlicher Stimmung Augenblicke für mich gekommen, wo es mir war, als fühle ich ein Wehen von oben, vom Gestirn Selinur, und wieder ein Wehen von den Wassern her, und vernehme eine Stimme, die da rief: ›Wage es, mein Knecht Angus, dichte, dichte mir ein hohes Lied aufs Fest!‹ – Ich habe gehorcht, ich habe es versucht. Ich bin bereit, die Frucht dieser schüchternen, doch innigen und mutigen Beflissenheit dem Urteil der Gemeinde zu unterbreiten, nicht als gehässiger Nebenbuhler des geistvollen Barden, den ich verehre, sondern in der Meinung, es dürften vielleicht zwei Festgedichte in lieblicher Eintracht nebeneinander bestehen können und es wäre nicht unpassend, das eine zum Beginn, das andre zum Schluß der heiligen Handlung des Opfers zu singen.«

Barde Kullur sprang sogleich, als Angus herabgestiegen, auf die Bühne und beteuerte in heiterem Tone, daß er gern bereit sei, ganz zurückzutreten, er sei tief durchdrungen von der Ueberzeugung, daß ein Druide besser wissen müsse, was in einem geistlichen Festliede zu sagen sei, als ein Laie, ein Barde; auch glaube er im Sinne der ganzen achtbaren Versammlung zu handeln, wenn er ihn ergebenst und dringlich bitte, das Erzeugnis seiner Inspiration nicht länger den gespannt Harrenden vorzuenthalten, sondern unverweilt vorzutragen.

Jetzt stieg wieder der Druide empor und versicherte, das lasse einesteils seine Bescheidenheit nicht zu, daß er mit seinem schlichten Werke sich so unmittelbar neben den berühmten Dichter dränge, und andernteils bedürfe es zum Vortrag noch einiger Vorbereitung. Im Bewußtsein nämlich, daß man in gegenwärtiger Zeit an der Poesie einen gewissen träumerischen Charakter liebe – (er sandte bei diesen Worten dem Barden einen Blick zu, Kultur bemerkte ihn und lächelte leicht) – und im Bewußtsein, daß sein Produkt dagegen durch einen gewissen deutlichen, mehr nur verständigen, weil dogmatisch klaren Charakter in seiner Wirkung verlieren könnte, habe er für gut erachtet, diesen Mangel durch eine größere Fülle musikalischen Schmuckes zu ersetzen; in der Tat, er lege fast mehr Wert auf diese Begleitung als den Text, indem er – hierin vielleicht fast unbescheiden – sich schmeichle, durch seine Komposition möglicherweise eine neue Aera in der Musik hervorzurufen. Die Exekution sei aber nicht leicht, fordere noch weitere Einübung, und es sei jedenfalls noch eine Generalprobe vorzunehmen.

Niemand widersprach und so blieb denn dieser Genuß vorbehalten. Angus stellte jetzt den älteren der zwei Ehrengäste, Feridun Kallar, den Versammelten vor und bat ihn, die Kanzel zu besteigen.

Ernst und doch freundlich ließ der Mann, wie er nun oben stand, die Augen auf der harrenden Gemeinde verweilen, ein mildes Lächeln spielte um seine Mundwinkel, die hohe, von krausen grauen Locken umgebene Stirne verkündigte einen Mann des Sinnens und Forschens, die etwas gelbliche Gesichtsfarbe störte nicht im mindesten den Ausdruck von Güte und feiner Laune, der auf diesen Zügen lag, sondern ließ nur schließen, daß anhaltende Geistesarbeit die Verrichtung der Leber etwas beeinträchtigt haben dürfte.

Er begann: »Hochwürdiger Herr Druide! Hochachtbare Gemeindeältesten, achtbare und ehrsame Mannen! Pfahlbürger! Pfahlkerle, Pfahlekarlier! (Bravo!) Ihr habt mir die Ehre erwiesen, mich zu einem Vortrag über die merkwürdigen Fünde einzuladen, die euer Seegrund zutage gefördert hat. Glücklicherweise bin ich nun in der Lage, euch melden zu können, daß an unsrem See, nur ein paar Stunden von Turik entfernt, gerade dieselbe Entdeckung gemacht worden ist; nämlich an der Stelle, wo jetzt die ehrenwerte Gemeinde Milun auf ihren Pfählen wohnt, legte die große Dürre einen Teil des Grundes trocken, man sah uralte schwarze Stümpfe hervorragen, Kinder fanden Scherben von Töpfen, brachten sie nach Hause, die Alten wurden aufmerksam auf die rohe Form, die arme und ungeschickte Art der Verzierung – es waren, wie ihr es hier gefunden, bloße Reihen von Eindrücken mit Fingernägeln, während man jetzt doch einige feinere Linien, ein Zickzackornament einritzt oder aufmalt –, ebenso auf den zerbrechlichen Ton, der nicht mit feinem Staub aus hartem Gestein verdichtet war, wie man es jetzt tut; man grub weiter, fand in Milun wie in Robanus Knochen von unbekannten ungeheuern Tieren, insbesondere einen Stoßzahn von einem fürchterlichen Geschöpf, das wie ein trampelnder Berg ausgesehen haben muß; Enden vom Geweih des Riesenhirsches Schelch, Wirbel und Schenkelknochen des Ur fehlten so wenig, daß man leicht sah, die beiden gewaltigen Tiere müssen damals weniger selten gewesen sein als jetzt, wo man ihre Gehörne und Köpfe, bringt einmal das Glück die rare Beute, an die Rathaustüre nagelt, wie man das in Turik tut und ich heut auch hierorts gesehen habe. Die menschliche Kunst, – das konnte man leichtlich schließen, – muß damals noch weit zurückgewesen sein; wir haben jetzt angefangen, unsre Flintswaffen glatt zu schleifen; deren fanden sich nur roh gespaltene; man entdeckte keine Spur von Weberei, die Leute von damals werden wohl nur das Gerben verstanden haben, also in lauter Pelz und Leder dahergestiegen sein, und da das Zeug im Sommer doch arg heiß gibt, so mußten sie entweder sehr schwitzen oder sie gingen um diese Jahreszeit eben fast nur so um, wie Selinur den Menschen erschaffen hat. Doch ohne Putz müssen sie nicht gewesen sein, denn von jenem Rötel, womit sich jetzt nur noch wenige alte Leute das Gesicht malen –« (Gelächter – man hört leiser, dann lauter den Namen Urhixidur nennen – Angus blickt finster) – »von jenem Rötel hat man auch dort gar viele Stückchen entdeckt. Und das läßt schließen, daß es an allerlei anderm Schmuck, wie Federn auf dem Kopf, buntem Pelzbesatz an Kleidern und Mützen nicht werde gefehlt haben. Nähen und ein bißchen Steppen und Sticken konnte man schon, aber man sieht aus den Stichen, daß die Nadeln, die wir jetzt aus Vogel- und Mausbeinchen, Fischgräten, ja aus Erz so fein herzustellen und handzuhaben wissen, noch sehr grob gewesen sein müssen. Auch Halsschnurkugeln und Wirtel aus Ton hat man gefunden, sogar mit eingeritzten, freilich sehr uranfänglichen Verzierungen. Man hat keine Wagenreste entdeckt, sie werden nur grobe Schlitten zum Lastführen gebraucht haben; daß aber keine Trümmer von Pflügen vorkamen, das kann nicht beweisen, daß jene unsre Ahnen kein Getreide bauten, kein Brot aßen, das wißt ihr, denn auch bei euch hat man ja die groben Pumpernickel gefunden, wie dort. Und endlich führte man im alten Milun kein so armseliges Leben, daß es nicht so gut wie im alten Robanus schon Schnitzli gegeben hätte. (Heiterkeit.)

»Nun aber, hochwürdige, hochachtbare und achtbare Zuhörer, ist das eigentlich kein so gar besonderer, sondern ein ganz einfacher Fall, und hättet ihr keines auswärtigen Gelehrten bedurft, ihn euch zu erklären, wenn sonst nichts dabei wäre. Ich kann euch weiter nichts Neues sagen, als daß wir in Turik durch unsre vergleichenden Knochenmessungen herausgebracht haben, die Haustiere: Rind, Ziege, Schwein, Hund, müssen dazumal dieselben gewesen sein wie jetzt. Es haben eben vor uns Menschen mit allerhand Getier zusammengelebt wie wir auch, Menschen, die aber nicht so weit waren wie wir; daran ist ja nichts Wunderbares. Wie lang es her ist, wer weiß es? So eine Seeschlammschichte von drei, vier und mehr Fuß Dicke, die braucht schrecklich lange, bis sie fertig ist. Viel Hunderte von Jahren kann's her sein, daß das alte Pfahldorf tief unter dem jetzigen über dem damaligen Seespiegel stand. Es muß verbrannt sein, vielleicht durch Zufall, vielleicht durch Feindeshand. Still flutete dann der See darüber und ungezählte Zeitläufe lang schien die flammende Sonne und der sanfte Mond auf seine Wasser, und still war alles und stumm und öde, während in der Tiefe langsam, langsam eine dünne Lage Schlammes um die andre sich ansetzte und tiefer und tiefer die Zeugen eines untergegangenen Lebens begrub. Da kamen einmal Leute, die suchten sich – wir wissen nicht warum: vielleicht war denen auch irgendwo ihr Pfahldorf abgebrannt – suchten sich einen stillen, guten, fischreichen Platz zum Wohnen, und wählten die Stelle von Milun und wußten nicht, was da unten begraben sei, und schlugen Pfähle und vermehrten Jahr um Jahr ihre Familien und Häuser, und gaben sich Mühe, ihre Geräte, Waffen, Kleider immer besser und feiner, ihre Speisen immer schmackhafter zu bereiten, und lernten auch von Mannen aus andern Städten und Dörfern, mit denen sie im Verkehr waren, und so ist es hier in Robanus auch gegangen und in Turik selbst wohl auch und anderwärts auch, und so sind wir nun miteinander auf der Höhe der Bildung angekommen, auf der wir stehen.

»Nun aber hier kommt der Punkt. Die Sache ist eben nicht wichtig, aber das ist wichtig, was sie zu denken gibt, und hievon zu reden ist nun freilich der Mühe wert und will ich's versuchen, so gut ich kann.

»Auf der Höhe der Bildung habe ich gesagt. Ja, wir glauben, darauf zu stehen, ihr glaubt's auch, nicht wahr? So recht auf der Spitze, dem Giebel, Gipfel, Wipfel der Bildung, und lächelt über die Geschlechter, deren arme Ueberbleibsel wir nun zu Gesicht bekommen haben?

»Seid versichert: genau dasselbe glaubten jene Geschlechter auch und sie standen auch auf dem Gipfel, denn die Höhe, worauf sie standen, war für sie Gipfel. (Stimmen: ›Oho!‹)

»Ihr stutzt. Jetzt wartet, jetzt wollen wir einmal vorwärtsschauen! Vor kurzer Zeit haben wir unsre Webstühle ungleich kunstreicher als früher gebildet, wir weben die schönen gemusterten Stoffe. Feiner schleifen wir den Flintstein für unsre Aexte, Speer und Pfeilspitzen. Noch viel Wichtigeres hat sich ereignet. Wir haben durch Austausch und Verkehr mit den Seen der Nachbarstämme vor kurzem den neuen Stoff, das Erz, kennen gelernt, von dem ihr seit gestern erst wißt, da Odgals Vetter Sachen davon hergebracht hat. Es wird nicht mehr lang anstehen, so wird man alles Geräte, Schmuck, Waffen daraus bilden. Ein andres, ganz absonderliches Ding hat euch wohl der Gast auch schon gezeigt: die kleinen Erzstückchen, die künftig im Handel und Wandel für Tauschware gelten sollen. (Lachen rechts und im Zentrum, Stimmen: ›Lumpenzeug! Windige Bröcklein!‹)

»Man lacht; aber ich bitte: möchtet ihr nicht die Güte haben, darüber nachzudenken, welche Umständlichkeiten euch dadurch erspart werden? Stier, Ochs, Kuh, Kalb dahertreiben, um so und so viel Getreide, gegerbte Häute, Waffen dafür zu bekommen; geht's nicht kürzer und leichter mit Stückchen Erz, deren einer leicht ein paar Hundert im Rucksack trägt? (Stimmen: ›Tür und Tor für Betrug! Werden leicht nachzumachen sein!‹) Ei, habt ihr nicht gesehen, daß man den Stückchen sehr künstliche Stempel gibt, die nicht leicht jemand nachmacht? Und noch dient zu wissen: die fremden Männer haben geheimnisvoll herumgeflüstert, daß sie noch ganz andre Wunderdinge bald bringen werden: Tauschstücke aus einem weiß und aus einem hochgelb glänzenden Körper, der aus den Tiefen der Erde gegraben wird, aber so selten, daß ein Stückchen davon in Form gebracht wirklich ganz wohl so viel Wert hat, als ein Hammel, eine Kuh, die man dagegen eintauscht. – Nun, ich sehe wohl, daß euch das Ding noch zu fremd ist, überlassen wir's der Zukunft, aber noch etwas andres laßt mich erwähnen. Denkt! schon haben die wandernden Männer von jenseits der Alpen, die uns das Erz gebracht und gezeigt haben, wie man es aus Kupfer und Zinn bereitet, uns erzählt, man sei auf einen andern noch besseren Stoff gekommen, der sich fertig in den Bergen finde, nur mit allerhand Erde vermischt, so daß er durch Feuer aus diesen Zusätzen herausgeschieden werden müsse; der gebe, wenn man ihn tüchtig schmiede, Waffen und Geräte, die noch weniger leicht brechen, als die von Erz, er sei zäher und lasse sich doch aufs Aeußerste härten. Er sehe nicht so schön gelb aus, nur schlicht grau, blinke aber doch, wenn er geglättet sei, in einem Glanze, daß man ihm seine Tugend wohl ansehe. Sein Name sei Eisen. Bereits haben auch die fremden Händler Sachen aus diesem Stoffe an den See Leman gebracht, deren einige zu uns herübergelangt sind. Ich hab' etwas hier.«

Er winkte seinem Freunde Kullur und dieser ließ ihm einen bereitgehaltenen Korb reichen. »Was meint ihr, daß das sei?« rief er, indem er einen Gegenstand herauszog und emporhielt, dessen Gestalt den Zuhörern ein reines Rätsel war. Er trat an die nächste Eiche, stemmte ein Brettchen, das er aus dem Korbe nahm, gegen ihren Stamm, fing an zu bohren, griff dann einen Nagel und eisernen Hammer heraus, nagelte das durchbohrte Brett an den Baum und sprach, indem er das erstere Werkzeug wieder vorzeigend in die Höhe hielt: »Seht, meine lieben Pfahlemannen, das nennt man einen Bohrer; das ließe sich von Erz nicht so gut herstellen, es bräche zu leicht; das übrige, Nagel und Hammer, kennt ihr, ihr habt es bis jetzt von Holz und Horn gehabt, aber das da – was meint ihr? – das battet doch anders! Denkt nun, was man alles wird machen, was alles aneinander befestigen können, nachdem man diese Sachen hat! Mir ist unter anderm der Gedanke gekommen, um wieviel haltbarer man die Wägen machen könnte, wenn man auf die Stirnseite der Räder, mit der sie am Boden laufen, ein Beschläg von derselben Masse, einen Reif nagelte; mit einem solchen Gestell könnte man doch wohl sicherer fahren, als mit unsern Rumpelkarren auf den wackligen, zusammengeflickten Rädern! Und also wieviel schneller! Da wird's gehen! Das wird hinsausen! Und so in tausend Dingen! Denkt euch nur zum Beispiel das Sägen! Stellt euch vor: Sägen von diesem hartzähen Stoff, richtig und scharf gezahnt! Braucht nicht jetzt ein Mann drei Wochen, bis er aus einem Stamm sechs Bretter gespalten hat? Das werden Leute sein, die das alles erfinden, was sich aus dem Zeug noch machen läßt! In den Köpfen wird's aussehen! Und wenn's weiter und immer weiter getrieben wird, wenn's am Ende gar blitzschnell geht –«

Er stockte und seine Augen starrten aufgerissen, glänzend ins Weite. Dann lächelte er, er schien sich durch einen Spaß aus der Wirrnis vorschwebender und doch unvollziehbarer Bilder befreien zu wollen. »Zeit,« fuhr er fort, »Zeit – Zeit – o, das wird ein Geschlecht sein, da wird man meinen, noch Zeit herausbekommen zu müssen, wenn man von Robanus nach Turik fährt! – Ueberhaupt: Zeit! – Was ist Zeit? (Stimme: ›Zeit ist eben Zeit!‹) – Nein! mir scheint: Zeit ist eigentlich – doch halt, daran kommen wir nachher noch einmal. Jetzt denkt euch erst, versetzt euch in die unglaublich schnellen, hand- und gedankenschnellen Menschen, die es dann geben wird, an all die kunstreichen Sachen, die sie hervorbringen, treiben, haben werden, und fragt euch: wie müssen wir denen vorkommen, wenn unsre Städte und Dörfer einmal drunten im Seeschlamm liegen und sie ausgraben, was von unsern Sachen noch erhalten sein wird, und sinnen und grübeln und ungefähr herausbringen, wie es bei uns ausgesehen haben mag?«

Er schwieg. Es wurde eine lange Stille. Die Zuhörer sahen etwas verblüfft vor sich nieder.

»Grämt euch nicht viel darum! Braucht euch nicht zu schämen! Die Leute, die uns herausscharren: wir, unsre Geister werden sie nicht allzu gelb und grün beneiden! Ueberklug werden sie sein, diese späten Enkel, hastig, unruhig, fahrig, immer eilig, immer gedrängt. Wie gemütlich ist unser Abschiedsgruß, wenn einer geht: Lassen's Zeit! Wie schrecklich ist das Pressieren, das Pressiertsein! So ein Mensch wird nichts mehr geruhig betrachten, bei nichts mehr mit stillem Sinnen verweilen! Sein Leben wird ein Jagen sein! Er wird raffen und raffen, um zu genießen! Was für Köche, was für Zuckerbäcker wird's dann geben! Und es wird den Menschen dann erst nichts recht schmecken, weil sie ja doch immer aufs Folgende spannen Sie werden endlich nicht mehr raffen, um zu genießen, sondern um zu raffen! Es wird keine Gegenwart mehr für sie geben! Und wenn sie sich vormachen, sie haben eine Freud' am Mädel, so werden sie sich nur anlügen, denn auch da wird ihnen nichts genug sein! Und Schneider wird's geben! Denkt euch: die Kleider! die Klunker! das Geflunker! O, die Kerle werden kleine Türme auf den Kopf setzen, und wenn ihnen der runde Turm nicht mehr gefällt, viereckige Schubladen! Die Weiber werden sich Haarhörner in die Höhe aufstapeln, wie drüben der Tödi, der Titlis und der Glärnisch mit Vrenelis Gärtli. Und werden noch ganze getrocknete Vögel drauf setzen und Fuchsschwänze, Schinken und Hasenschlegel! Röcke werden sie tragen, bald weit wie das runde Haus unsrer vornehmen Herren, bald so eng, daß sie gehen wie in Knieschellen, und am Ende gar noch ein Gebausch und Gerausch auf den Hintern nesteln wie einen rasend gewordenen Hahnenschwanz, denn die Scham wird zum Grippo sein! (Stimmen: ›O! O! Pfui!‹ Gelächter.) Aber halt! halt! Nun seht noch einmal, noch weiter vorwärts, und fragt euch, wenn dann diese Menschengeschlechter auch hinunter sein werden und noch viel Spätere graben ihre Trümmer aus (– wer weiß: vielleicht nicht mehr auf den Seen, denn es werden sich ja die Lebwesenscharen so vermehren, daß da kein Platz mehr ist, und übrigens – übrigens – nein, lassen wir das!) – graben also die Künftigen ihre Trümmer aus und buchstabieren sich daraus zusammen, wie's wohl ausgesehen haben möge dazumal in der Menschenwelt: wie blind und dumm muß dann die versunkene Zeit derjenigen erscheinen, welche sie ans Tageslicht zieht! Und zwar doppelt und dreifach, denn man kann sich doch wohl denken, daß diese ganz Späten wieder ernsthafter geworden sind und gern gründlich nachdenken. Wie und was alles werden diese Menschen denken! Wer weiß, ob nicht tausend Dinge geradezu umgekehrt, wie wir sie uns vorstellen! Wer weiß, was bis dahin alles erfunden ist, daß die Menschen leichter voneinander lernen und mehr von der Ferne erfahren! O, ich hab' da schon öfters einen gar sonderbaren Einfall gehabt. Da droben, die großen Lichter am Himmel: sie müssen arg weit von uns weg sein, und da die entfernten Dinge kleiner scheinen als sie sind, wie groß mögen sie sein! Und, ja – wie? Sind sie nicht vielleicht eigentlich etwas Dichtes, das durch die große Macht und Kunst der Gottheit ohne Stützen so im Freien schwebt? Und was meint ihr, wär's am End' nicht gar auch möglich, daß auf diesen großen, beleuchteten Kuchen auch eine Art Leute lebten? Und gar auch noch, da die Leute hier auf unserm Kuchen gar so viel Mittel erfunden haben werden, voneinander und von der Ferne zu erfahren und zu wissen, – was meint ihr, wär's nicht gedenkbar, daß die hier und die dort – was weiß ich, wie und auf welchen Wegen! – auch von einander erführen und in eine Art Gemeinschaft miteinander träten! (Stimmen: ›Verrückt! Er ist ein Narr!‹) Nicht verrückter, meine Lieben, als denen, deren Zeug ihr kürzlich ausgegraben, derjenige erschienen wäre, der ihnen gesagt hätte, was wir jetzt alles können! – Seht, meine teuren Mitheiden, und so geht's nun fort und fort und immer fort. Die Zeit und die Leute bleiben nie stehen und immer die folgenden haben die Augen weiter offen und kommen ihnen die Vergangenen vor wie junge Katzen, die noch nicht sehen. Und so haben wir immer neue Gipfel der Bildung, und weil es immer neue gibt, so gibt es keinen. Dazu hab' ich aber noch etwas zu sagen. Es ist gar wohl möglich, daß vor vielen tausend Jahren da oder dort Geschlechter gelebt haben, die in allen Künsten schon so weit waren, als man von jetzt an in vielen tausend Jahren sein wird, und daß all ihr Reichtum und ihre Pracht und feinen Werke dann in Wildnis versunken sind, und daß über dem Schutt die Menschen wieder haben vorn anfangen müssen. Wär' es so gegangen, so hätten wir also einen Weg, auf dem die Wesen ziehen und wandern, der ginge nicht immer bergauf, sondern auch bergab und bergauf. Aber hin wie her, es ist eben ein Weg, eine Bahn, eine Bewegung!

»Und jetzt laßt mich auf die Zeit zurückkommen und noch einmal fragen: was ist die Zeit? Die Zeit geht weiter. Sie läuft immer, immer fort. Wir haben das Wort Zeit erfunden dafür, daß alles immer wechselt. Wenn alles immer wechselt, ist sich im Wechseln alles gleich. Ist also eigentlich nur eines, das immer wechselt. (Gähnen. Eine Stimme: ›Er wird langweilig.‹ Eine andre: ›Sehr unverständlich.‹) Ja, ja! habt recht! Es ist mir eigentlich ebenfalls langweilig. (Er gähnt.) Die Zeit ist eben langweilig. Darum sollte man in der Zeit aus der Zeit hinaus! Ich will mich verbessern. Es findet da etwas Eigenes statt, was mir natürlich eben auch sehr unverständlich ist. Denkt euch einen Zapfen, woran eine Schnur mit einem Steingewicht hängt. Treibt die Schnur, daß sie auf und ab schwingt, endlich in ganzem Kreise. Denkt euch nun, sie brauche nicht getrieben zu werden, sondern schwinge von selbst immer fort. Das ist die Zeit oder sind die Dinge, deren steter Wechsel Zeit heißt. Auf und nieder, nieder und auf, links rechts, rechts links, hinum, herum, so heißt's fort und fort in Ewigkeit. Oder halt! Ich weiß ein deutlicheres Beispiel. Ihr habt doch schon euch selbst oder einer dem andern einen Finger ans Geäder dort am Handknöchel gelegt? Ihr wißt, da pickt, da schlägt etwas. (Bejahende Gebärden.) Wir sind nicht so dickfest, als wir meinen, nicht Fleisch und Bein durch und durch, es läuft etwas Flüssiges in uns um, das uns jeden Augenblick erst webt, flicht, strickt. Es ist sonderbar, man sollte nicht glauben, wenn man so einen Handdruck bekommt, wie ich gestern vom Gwalchmai, daß ich meinte, meine Hand sei zwischen zwei Balken gequetscht. (Gelächter. Stimmen: ›Ja, der kann's.‹) Nun gut, wieder zur Sache! Nun haben unsre Naturgelehrten in Turik herausgebracht, daß dies das Blut sein muß, welches in immer gleich wiederkehrenden Stößen vom Herzen aus, das da liegt (er legte die Hand unter die linke Brust), nach den Adern gepumpt wird. Das ist nun eine viel künstlichere Sache, als die Schnur und der Zapfen, aber wir haben beidemal etwas, was sich bewegt, und etwas, von dem die Bewegung abhängt oder ausgeht. Gut. Nun wollen wir das Gleichnis anwenden und sagen: die Schnur mit dem Gewicht und das Blut in der Schlagader, das sind die Dinge der Welt und vorzüglich die Menschen. Es paßt und paßt auch nicht. Die Wesen der Welt, die da leben und empfinden, sind doch keine bloße Schnur mit Gewicht, keine bloße Blutwelle, darum paßt das Gleichnis nicht. Aber sie hängen ab wie die Schnur vom Zapfen und die Blutwelle vom Herzen, darum paßt es. Sie hängen ab, weil sie sich das Leben ja nicht selbst geben und dem Tode nicht entrinnen, sie hängen ab von etwas, das mitten in der Bewegung, also in der Zeit fest bleibt, das zeitlos ist. Ihr seht, ich mühe mich ab, ein Bild zu finden. Unsre Urahnen haben sich auch drum abgemüht. Da schaut hinüber! (Er wandte sich und zeigte nach dem Menhir.) Da steht der Wagstein, ihr habt gestern wieder gesehen, wie er schwankt und sich dreht! Und so oft ein Sturm geht, seht ihr ihn schwanken, und kommt ein Wirbelwind, so bewegt er sich im Kreise. Und nie fällt er, immer kehrt er in seine sichere Ruhe zurück. Ihr wißt, in Turik stehen deren zwölf, und Männer, die weither gekommen vom fernen Lande, haben erzählt, sie haben die Menhir stehen sehen zu hunderten und aberhunderten in langen, mehrfachen Reihen. Was muß das eine Arbeit gewesen sein, auch nur einen herzuschleppen und aufzustellen, als die Werkzeuge noch so arm waren, wie die Fünde im Seegrund erweisen! Und warum, wofür hat man sich so viel Mühe gegeben? Was haben denn jene Alten in grauer Vorzeit sich selbst und der Mitwelt und der Nachwelt sagen wollen, als sie so in ihrem dunkeln, ahnenden Wesen diese ungeheuern Blöcke heranwälzten und sie mit unendlichem Sinnen und Schweiß in einen rund gehöhlten Sattel oder überdies auf eine Steinkugel in diesem Sattel so stellten, daß sie schwanken und kreisen und nicht stürzen? Nun, ich denke, das haben sie sagen wollen: die Welt schwanke, schwebe, kreise und es bleibe doch sicher und unentrückt in sich der Mittelpunkt, der sie trägt, das Ewig eine, das sie zusammenhält. Gewiß hätten sie's gern besser gezeigt und ein Gebild erfunden, das immer, jeden Augenblick sich bewegt, um sich selbst kreist, denn das tut ja die Welt. aber sie haben es eben gemacht, so gut sie konnten. Und predigen wollten sie damit: merk dir's, o Mensch! Du bist ein Körnchen im Wagstein der Welt, du bist nichts ohne den Mittelpunkt, halt an ihm, denn er allein trägt dich, in ihm allein ist Ruhe, Grund und Halt! Wolle nicht etwas sein ohne ihn, lösest du dich ab, so verweht dich der Wind!

»Was folgt? Nun, es ist ja schon gesagt! Die feinsten unter den Körnchen im Gestein des kreisenden Felsblocks, im Gewichte, das am Zapfen schwebt, die zartesten Kügelchen in der Blutwelle, die das Weltherz treibt, die vorzüglichsten unter den Lebwesen, sie, die eine Seele haben und ihrer selbst inne werden, sollte denn nicht ihr Sinn dahin gehen, daß sie sich versenken in das, was zeitlos ist und sich selbst gleich und außer dem sie nichts sind und ohne das sie versiegen, verwehen, hineinfallen in den Rachen der alles verschlingenden Zeit? Aber wie wenige tun es! Wie treiben es denn die meisten? Sie hasten und hetzen dem vermeintlichen Gipfel zu, der doch keiner ist, weil viele Gipfel heißt: kein Gipfel, und vergessen das eine, an oder aus dem sie schwingen, und das doch immer eins und dasselbe bleibt. Es sollen ja freilich wohl immer neue Gipfel sein, mit andern Worten: der Mensch soll immer heller und gescheiter werden. Aber man kann hell und gescheit werden auf zweierlei Art. Man kann sinnen und sinnen, entdecken und entdecken, Neues auf Neues erfinden, alles nur, um immer bequemer zu leben, mehr und feinere Lust zu haben. Das führt zu den Gipfeln, die doch immer wieder nur Niederungen sind. Die andre Art aber, die ist ein Sinnen, das geht nach dem Wesen der Dinge und tiefer und tiefer nach dem einen in allem, das nicht größer, nicht kleiner, nicht höher, nicht niedriger wird, sondern immer gleich es selbst ist. Und obwohl man es nie ganz erforscht, ihm nie ganz auf den Grund sieht, so kühlt doch dies Sinnen und Forschen die Seele gar heilsam aus, nimmt ihr die falsche Hitze und durchwärmt sie dafür mit der Liebe zu dem einen, und sie fängt an, auf das, was da wechselt in der Zeit, herabzusehen wie von einem hohen Berg. Oder mit andern Worten, da wird man selbst ein Menhir. Ich glaube, daß in allen Zeiten Männer, die sich also begründet haben, dastehen wie die gewaltigen Wagsteine zwischen den kleinen Menschlein, die sich an ihrem Fuß herumtreiben, und daher wohl haben unsre Urahnen da und dort der beweglichen und doch unentwegten Wagsäulen so viele gesetzt, weil sie wünschten und hofften, daß es viele solche Männer gebe.

»Laßt mich auch ein Wörtlein vom Glück reden. Glück, denk' ich, ist nur, wenn man also feststeht und auf diese Weise hell und gescheit wird. Es ist ja nur aus Blindheit und Gleichgewichtsmangel und Lossprung vom Mittelpunkt, daß die Menschen Toren werden und wilde Narren, und lügen, betrügen, stehlen, ehebrechen, rauben und morden, im Rausch, im Taumel leben, nach Glück haschen und das Elend erhaschen.

»Gute, brave Stein-, Bein-, Horn- und Holzgemüter! Wackere Seeseelen! Nehmt mir nicht übel, ihr solltet ein bißchen weniger steinern, beinern, holzig und hornig sein! Der See macht noch nicht selig! Ihr solltet ein bißchen mehr bohren, ich meine mit dem Bohrer, der da hoben ist. (Er deutete mit dem Bohrer, den er immer noch in der Hand hielt, nach der Stirn.) Ihr wollt zu wenig harte Brettchen bohren!

»Ich bitt' euch, wozu ist man denn eigentlich? Wozu braucht es denn eigentlich die Seinerei, die Existiererei? Als, damit Wesen seien, welche das Wesen wissen? Das Wesen wissen heißt denn auch das Rechte wissen und tun. Es tut niemand gut, der nicht nachdenkt; recht tun heißt, gemäß der Wahrheit handeln, nachdem man sie durch ordentliches Denken herausgebracht. Wer nicht nachdenkt, kommt herunter. Man findet aber die Wahrheit nicht im Schlaf, da muß man arg geschüttelt werden. Aller guten Dinge sind drei. Drei gute Dinge sind: strenge Erziehung, heilsame Stöße des Schicksals und Durst nach Wahrheit. Man darf wohl fröhlich sein; drei Dinge sind schön: ein wohlgetaner Mann, ein wohlgetan, hold Weib und der blaue lichte Himmel. Drei Dinge sind schöner: Gesang, edle Sitten und gutes Gespräch. Drei Dinge sind die schönsten: Erkenntnis, Tätigkeit und selbstlose Liebe. Drei Dinge sind klein: ein Floh, ein Zwerg und ein Mensch, der nicht sterben will den Tod des Ich. Drei Dinge sind häßlich: eine Kröte, die dumpfe Lust und die Angst vor dem Geistlicht.

»Und jetzt laßt mich ein Wörtlein sagen vom häßlichen Knirps Gwyon und von der Fee Coridwen.«

(Gelächter. Man hört Summen von mehreren Stimmen: – Gwyon, dieser kleine Tropf – dieses Zwergelein – Häsulein – Hündin schnell – im Nu ein Fisch – Ottertier – Finkenfalk – Weizenkorn – wird eine Henn', Coridwen, Coridwen –.)

»Weiß schon, daß ihr's gern singt, ihr Kindsköpfe! Ein Kindermärchen ist euch die heilige Ueberlieferung geworden; was sie will, habt ihr rein vergessen und den Schluß des alten Liedes laßt ihr weg, oder wenn ihr ihn einmal singt, singt ihr ihn falsch, denn wo es heißt, daß Coridwen gebiert die Strahlenstirn, Taliesin, da singt ihr: verflucht, wer nicht an Taliesin glaubt! Selig, heißt es, selig, wer ihn versteht und glaubt!

»Wer ist denn der kleine Tropf, der häßliche Knirps Gwyon? Der Erdenmensch ist er. Was hat er verschmeckt, als er aus dem Zaubertopf naschte? Den Geist, denn im Topf war ein Brei aus Kräutern, die da geben das Schauen, das Durchschauen. Was ist das für eine Jagd und Hatz, die dann angeht, da ihn Coridwen verfolgt im Hasen als Hündin, im Fisch als Otter, im Finken als Falk, im Weizenkorn als Henne? Nun, was wird's besagen? Den Geist kriegt man nicht umsonst, der läßt sich nicht nur so schlecken, da muß man gejagt, geängstet, gebeutelt, getrillt, geworfelt werden, da muß man sich durch alle Formen durchwürgen, hat sich ja vor der ersten Geburt schon durchwürgen müssen als Has, Fisch und Fink, da muß man die Todesangst der Kreatur nicht viermal, nein viermillionenmal schmecken, da muß man endlich gar verschluckt werden und, wie das Samenkorn abstirbt im Erdschoß, um Aehre zu werden, absterben dem ersten, frischen, lustigen, bunten Leben, um aufzustehen als Taliesin, als Strahlenstirn, als Geistmensch und so im Leben das zweite Leben zu leben. Wer wird denn die Fee Coridwen eigentlich sein? Die Erdmutter ist sie, die aber gescheiter ist als ihre Kinder, die da weiß, wo es hinaus will und soll mit dem Erdwesen, welche sie darum mit Plagen und Jagen durch und durch schüttelt und dann gar verzehrt und neu gebiert als Lichtwesen in der strahlenden Schönheit der Geistgestalt. Strahlenstirn hat ja freilich wohl gestiftet den Druidenorden, das ist ihm aber nicht eingefallen, daß er irgend jemand zu blindem Ansehen verhelfe, sondern er hat ihn gestiftet, daß er euch zur Vernunft befreie, indem er euch die wahre Bedeutung des Ackerbaues zu bedenken anhält. Da ist nämlich noch etwas hinter dem Weizenkorn. Taliesin hat auch den Ackerbau erfunden und eingeführt und damit hat er Gesetz und Ordnung gegründet. Denn ihr seht doch ein, daß ihr noch Wilde wäret, wenn ihr keine Aecker hättet, darauf ihr Getreide pflanzt. Ehe der Mann seinen Acker hatte, konnte er nichts recht sein eigen nennen und war ein ewiges Prügeln und Morden um die Früchte des Baumes und die Beute der Jagd; wie aber die Menschen anfingen, den Boden zu bauen, ein Stück Feld zu umgrenzen, da fing das Eigentum an und mußte Gesetz und Recht geschaffen werden, es zu schützen. Nun aber seht, wie das wieder zusammentrifft mit dem, was ich vorher gesagt vom Ersterben und Neuerstehen. Denn erst seit es auf Grund des Eigentums Gesetz und Ordnung gibt, hat es auch andre feinere Dinge können geben, als da sind die Runen und die edle Dicht- und Tonkunst und das Nachdenken und Lehren über das Wesen der Dinge. Wie das Weizenkorn aus dem Boden vorsproßt und als Aehre in Luft und Licht hinaufsteigt, so ist aus dem Ackerbau emporgekeimt all die gute Erfindung und Anstalt, dem Menschen aufzuhelfen, daß er als Gwyon ersterbe und aufstehe als Strahlenstirn. Das alles hat Taliesin gestiftet und mit dem allem will er euch gescheit und gut machen. Er meint's wohl und freundlich und hat niemand mit Fluch bedroht, als die, welche sich selbst verfluchen, weil sie Holzköpfe und steinhart und horndumm bleiben wollen; und wahnsinnig, ja schändlich und scheußlich ist es, zu glauben, er halte die Menschen an, den schrecklichen Gott der Kriegswut und Pfnüsselverstörung zu ehren mit Menschenopfern, und nun sagt einmal, ihr Pfahlmannen, ihr Pfählmannen, die ihr Ketzer und Kriegsgefangene pfählt, kreuzigt, metzget, lebendig verbrennt, wo steht ihr, auf welcher Höhe befindet ihr euch, daß ihr glaubt, herabzusehen auf die Ahnen, deren Reste ihr ausgegraben und bei denen vielleicht, wie roh sie auch waren, doch die grause Sitte der Menschenopfer noch nicht aufgekommen war? Ist das der Gipfel, Giebel, die Zwiebel, der Spitzgipfel, Gipfelspitz und Zipfel eurer Aufklärung?«

Er konnte nicht enden. Der Druide war schon an jener Stelle sehr unruhig geworden, wo der Rotstein als Gesichtsfärbemittel erwähnt wurde und das Geflüster der Zuhörer die Silben des Namens seiner guten Haushälterin an sein Ohr trug. Dann als von möglichen künftigen Hüten turmartiger Gestalt die Rede wurde, glaubte er eine Anspielung auf seine Zipfelpelzmütze, dies Hauptstück seiner Festamtstracht, entnehmen zu müssen und am unfreiwilligen Schlusse das Wortspiel mit Gipfel der Aufklärung schien ihm diesen Verdacht nur ganz zu bestätigen. Es bedurfte freilich nicht erst dieser persönlichen Stiche, die er mit Unrecht zu erleiden glaubte, sie verschärften nur die Empörung, die jeder Teil des Inhalts in ihm anfachen mußte. Immer unruhiger rückte er auf seinem Ehrenstuhl hin und her und endlich das Wort von den Menschenopfern schlug dem Faß den Boden aus, er fuhr auf, Kallar sah ihn nach der Rednerbühne herstürzen und sagte ruhig: »Ich bin eigentlich fertig und trete dem würdigen Oberhirten meinen Platz ab;« so stieg er herunter und Angus stürmte hinauf.

Er nahm sich zusammen, setzte sich in Rednerpositur und stellte das linke Bein vorwärts, daß der Fuß in der Oeffnung hervorsah, die für Kullurs Harfe in der Brüstung gelassen war. Auf dem Schuh war ein Drudenfuß (Pentagramma) so zierlich, als man es mit Fischgräte oder beinerner Nadel vermag, aus den weißen Kielfasern von Gänseflugfedern eingeflickt, eine Kunstleistung Urhixidurs. Die Bauern sahen mit ehrfurchtvoller Scheu nach dem heiligen Zierat hin; er ließ ihnen Zeit dazu und begann dann mit merkbarem Willen, sich zu mäßigen: »Hochachtbarer Seanacha! Wir sind Euch edlem Gaste äußerst dankbar für die Aufklärung, die uns Eure Gelehrsamkeit über den merkwürdigen Fund hat zuteil werden lassen. Nicht minder für einen Teil der tiefsinnigen Betrachtungen, die Ihr an Eure Aufschlüsse geknüpft habt. Ohne dem hochedeln Stande der Barden das kleinste entziehen zu wollen von der Ehre, die seinem profunden Wissen gebührt, möchte ich nur rücksichtsvoll andeutend darauf hinweisen, daß das Volksgemüt aus einem andern Teil dieser Betrachtungen den scharfen, ätzenden, Schwärung zeugenden Saft des Aergernisses, des höchst bedenklichen Anreizes ziehen könnte. Es wurde sich gegönnt (Kallar lächelte über die kostbare Wendung), die Vermutung fallen zu lassen, daß künftige Menschengeschlechter nicht mehr auf den Seen wohnen würden; dies ist aber ein Hauptstück unsrer ehrwürdigen Religion. Der wertzuschätzende Vorredner hat ferner einige sehr neue Bemerkungen über die Gestirne vorgebracht; er hat dabei zwar jenes herrlichsten aller Lichter, das wir sogar höher als die brennende Sonne verehren, – er hat jenes Lichtes nicht gedacht, worin selbst das blödeste Auge die sanften und vollen Züge des Angesichts der Weltmutter Selinur erkennt; aber sollte die Folgerung zu kühn sein, daß er sie nicht ausnimmt von der – ich darf sagen: phantastischen und doch zugleich trivialen Vorstellung, daß die Himmelslichter eine Art von schwebenden Scheiben seien, auf welchen gar vielleicht menschenähnliche Wesen wohnen dürften? Da nun unsre altersheilige Sitte, auf Seen zu wohnen, und der Dienst der erhaben-sanften Selinur so unzertrennlich zusammenhängen, so erlaube ich mir die Frage: Was ergibt sich?« Er wurde rot und röter, fing an heftiger zu gestikulieren und schlug mit der Faust auf das Brüstungsbrett der Rednerbühne. »In den übrigen Lichtern verehren wir die Geisterschar der Urmutter, der ganze Himmel ist entweiht, entgöttert! Die Altäre werden stürzen! Die Vorstellungen der Menschengeschlechter wechseln, hat es geheißen; so wird ja wohl auch die Grundvorstellung wechseln, es wird eine Zeit geben, wo unser heiliger Glaube, der bestanden hat, solange die Welt besteht, nicht mehr besteht! Entsetzlich! Nichts ist mehr fest, alles wankt und schwankt! Grauenhaft, eine Zeit zu denken, wo es keine Heiden mehr gibt – Zeitlosigkeit? Ewigkeit? – Leeres Wortgetändel! Sich gleich bleibendes Eines, Zapfen mit Hängegewichtschnur, pochender Herzklumpen statt Götter? – Spitzfindige, unerbauliche Menhirdeutung! Gezwungene, bodenlose Sinnklauberei aus Coridwens Zaubertopf und leichtfertige Dehnung des erhabenen Inhalts, der dem Geburtswunder Taliesins innewohnt, armer Versuch, in ihm etwas andres zu sehen, als den Gottmenschen, durch den unser heiliger Orden sein Ansehen an die Gottheit knüpft! Auch das ist höchst verdammliche Irrlehre, daß Coridwen die Erdmutter sei: denn dadurch wird sie ja an die Stelle der allwebenden Selinur gehoben. Sie ist nur eine der Feen der Weltmutter gewesen, allerdings von ihr gewürdigt, einen Strahl ihrer Schöpferkraft in sich zu tragen und dem Weizenkorn geheimnisvoll einzuverleiben. Sie ist öfters freundlich unter Menschen gewandelt; es leben noch Menschen, die durch Verwandtschaft mit dem von ihr geborenen Taliesin mit ihr selbst verwandt sind. Sie hat ihren Zaubertopf vererbt; diese Gemeinde weiß, wo er sich befand, er ist nicht mehr, Frevlerhand hat ihn zerschlagen. Alles wird zertrümmert, Menschliches vergöttert, die Gottheit gestürzt. Die alte Urnacht kehrt wieder! Leere! Unendliches Hohl! Nichts! Nichts! Ich sehe den Fürsten der Nacht, den finstern Grippo lauern – seine Augen glühen wie Feuerräder – sein Kamm steigt und brennt feuerrot – Schwefelglut haucht sein Rachen – sein Drachenschweif ringelt sich – ihm, dem Schrecklichen, und ihm, dem gottgesandten Ordenshaupte sollen die Menschenopfer versagt sein? Entsetzlich! Nein, nie, nie soll –«

Er hatte stärker und stärker auf das Gesimsbrett zu schlegeln und zu trommeln angefangen, dann versucht, auf der Bühne sich heftig hin- und herzubewegen; sie war zu eng, die Leidenschaft erlaubte ihm nicht, den Bewegungsdrang zu hemmen, er vergaß in seinem Eifer die offene Stelle in der Reisigbrüstung der Rednerbühne, die ihm doch gedient hatte, seinen Drudenfuß so bewußt vorzuzeigen, – bei einem zornigen Vorstoß durchbrach sein dicker Körper die schmale Spalte des biegsamen Tannenzweiggeflechts, er fiel hinaus und purzelte zu Boden, fünf Fuß tief etwa.

Die zwei Barden waren die ersten, die herbeieilten, ihn aufzuheben, rasch drang ihnen die Gemeinde nach, schnell umdrängte den unglücklichen Redner ein dichter Knäuel von Menschen, die sichtbar nicht von einem Gefühle getrieben waren, in dem Wirrwarr von Tönen konnte man Stimmen des Mitleids, frommes Seufzen, rauhes Murren und Fluchen und nur halb unterdrücktes Lachen wohl unterscheiden, die Aufregung wuchs, und es sah ganz danach aus, als müsse es hier zu einem wilden Handgemenge kommen; da erscholl plötzlich eine helle, starke Stimme von oben, von unbekannter Höhe herab:

»Hört, hört! Hört mich! Mich hört!«


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