Hermine Villinger
Schulmädelgeschichten
Hermine Villinger

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Dora

Ich selbst bin Amerikanerin, geboren in New-York den ersten April 1866.

Meine Eltern sind Deutsche. Ich besuchte die Schule der Madame de Silva, die mein Ideal war; wir führten mit Leidenschaft französische Theaterstücke auf; ich spielte stets die größte Rolle und erhielt die meisten Bouquets.

Schöner als alles war die Zeit der Präsidentenwahl; am Tage selbst hatten wir frei; vorher spielten sich die leidenschaftlichsten Kämpfe in der Schule ab. Ich und meine Eltern gehörten zur Partei der Demokraten; Lucy, meine beste Freundin, war charakterlos genug, aus Rücksicht für ihre Eltern zu den republicans überzugehen. Ich suchte ihr den Rang abzulaufen, indem ich 158 des Morgens die erste in der Schule war; ich und meine Partei hatten »badges«, kleine Münzen mit dem Kopf unsres Kandidaten angeheftet; so geschmückt betraten wir die Schule, und ich schrieb auf das schwarze Brett:

»Vote for the democrats!«

Kaum erschienen die republicans, entstand ein Geschrei, Lucy riß mich vom Brett weg, löschte meine Worte aus und schrieb:

»Vote for the republicans!«

Dies ging so fort bis die Schule anfing.

In der Mittagspause stellte ich mich auf den Pult und begann eine zündende Rede, Lucy warf mich hinunter, dafür flog ihr von meiner Seite das Tintenfaß – fast an den Kopf.

Nach der Schule hielten jedoch democrats und republicans fest zusammen gegen die verschiedenen »mademoiselle's«, welche uns zu holen kamen. Sie mußten mit, Broadway hinunter, den »processions« nach, die die Parteien veranstalteten. Die Aufregung in den Straßen war 159 unerhört, die Militärmusik spielte; überall waren die Bilder der Kandidaten mit ihren Wahlsprüchen angebracht.

Schließlich siegten wir democrats.

Nach den Wahlen ging man, sich auf dem Land erholen; hinter unserm Landhaus am Hudson ist ein See; es gab fortwährend Scenen, weil Papa und Mama mich nicht allein rudern lassen wollten; Bob sollte mit; allein ich schämte mich vor Harry Curt; er schoß in seinem Grönländer wie ein Pfeil über den See; er war mein Ideal.

Seines Vaters Landhaus liegt neben dem unsrigen.

Eines Tages überlegte ich, ob ich Bob rufen solle oder allein hinausrudern; plötzlich hörte ich einen Schrei, Harry schlug mit seinem Grönländer um; er tauchte aus dem Wasser, schrie und verschwand. Ich selbst warf mich in mein Boot und ruderte zur Stelle; ich war halb von Sinnen; ich dachte: er ist ertrunken. Plötzlich 160 tauchte Harry's Kopf wieder auf; er lachte furchtbar, drehte sich im Wasser wie ein Fischotter, sprang in seinen Grönländer und ruderte davon.

Ich weinte vor Wut.

Bob und mademoiselle kamen mir nachgerudert; Papa und Mama empfingen mich mit Vorwürfen; ich schloß mich in mein Zimmer und empfing niemanden, nicht einmal Mama, ich wollte mich rächen. Ich wußte, Bob hatte eine Marderfalle; ich veranlaßte Bob, die Falle auf der Wiese, hinter dem Hause aufzustellen. Ich stand alle Tage hinter dem Gartenzaun und sah Harry an der Falle vorbeigehen. Eines Tages saß er fest. Ich kam hervor.

»Wie geht's, Mr. Harry?«

»Well.«

»Wollen Sie vielleicht, bitte, mich anhören?«

»No.«

»Wird Ihnen aber nichts andres übrig bleiben, Mr. Harry, denn Sie sitzen fest.«

»O nein, es beliebt mir nur hier zu stehen.«

161 »Dann belieben Sie zu stehen, Mr. Harry, bis Sie mich um Verzeihung gebeten.«

»Unsinn!«

»Gut, ich werde warten, bis Sie sich den Fall überlegt.«

Bob mußte einen Stuhl und ein Buch bringen; ich nahm Platz.

»Wünschen Sie, daß ich Ihnen etwas vorlese, Mr. Harry?«

»Ich wünsche, Sie möchten zum Teufel gehen.«

»Das sind unartige Bemerkungen gegen eine junge Dame, Mr. Harry, ich hätte Sie für wohlerzogener gehalten.«

Er pfiff; ich las.

Nachdem ich eine Weile gelesen, bemerkte ich, daß er blaß wurde; ich rief Bob; Bob machte Harry's Fuß frei, er blutete. Ich lief in's Haus und warf mich Mama an den Hals; ich war untröstlich. Bob mußte meine Markensammlung, meine Bücher, sogar Capi, meinen Seidenpinscher, hinüber tragen. Ich selbst trat bei Harry ein; 162 ich glaubte ihn totkrank, er hing an einem Reck im Zimmer und schwang sich wie ein Affe in der Luft. Er lachte mich furchtbar aus, als ich mich nach seinem Befinden erkundigte, riß sofort Capi an sich und spielte mit ihm Ball; Capi schrie wie am Messer, ich entschloß mich rasch und packte Harry bei den Ohren, Bob mußte sich Capi's bemächtigen.

Von dieser Zeit an hörte Harry vollkommen auf mein Ideal zu sein.

Wir kehrten nach New-York zurück, und ich las Schiller; ich freute mich außerordentlich ihn nicht früher gelesen zu haben, als ich noch unreif war. Ich wollte auch Goethe lesen, unbegreiflicherweise wurde es mir nicht erlaubt. Mama, sonst ziemlich inkonsequent, blieb diesmal fest; Papa behauptete, ich könne Goethe nicht verstehen, was eine solche Indignation in mir hervorrief, daß es mir schwer wurde, den Anstand zu bewahren

Ungefähr um jene Zeit ergab ich mich, 163 faute de mieux, dem Sport des Rollschlittschuhlaufens.

Der Ring ist ein ungeheurer Saal; die Musik spielt; die Räder der Schlittschuhe machen einen unerhörten Lärm auf dem Asphalt; jedermann ist gezwungen denselben Weg zu nehmen. Es reizte mich gegen den Strom zu fahren, ich wurde fortgerissen, hingeworfen; ich versuchte es wieder; Mademoiselle war außer sich; sie erzählte Mama, ich benähme mich in der auffälligsten Weise; es gab fürchterliche Auftritte; ich fing nachgerade an lebensmüde zu werden, denn die Bücher, welche mich interessierten, sollte ich nicht haben, und mademoiselle hatte die Taktlosigkeit, mich bei jeder Gelegenheit wie ein Kind, sowohl über meine Haltung, als über meine Aussprache, zur Rede zu stellen. Eines Tages verlor ich die Geduld und sperrte sie ein; vier Stunden ließ ich sie sitzen.

Dies veranlaßte Papa endlich einen Entschluß zu fassen; ich sollte nach Deutschland in ein 164 Institut kommen; er meinte, ich würde mich dort fügen lernen. Ich freute mich unsäglich auf den Kontinent. Papa und Mama wollten ein halbes Jahr in meiner Nähe bleiben, bis ich mich eingelebt, ich war jedoch innerlich entschlossen, wieder mit ihnen zurück zu kehren.

Wir schifften uns ein; am besten von sämtlichen Passagieren gefiel mir der Kapitän wegen seiner weißen Zähne, später verachtete ich ihn, weil es ihm an Mut fehlte. Wir machten nämlich die Bekanntschaft einer Missis Weed; sie war wunderschön, ebenso ihre Tochter Alice, die sechs Jahre zählte und von ihrer Mama unaussprechlich verhätschelt wurde; Maud war zwölf Jahre alt und häßlich; sie stand immer im Hintergrund und wurde von ihrer Mama mit der größten Geringschätzung behandelt.

Unbeschreiblich wie sehr mir der Blick dieses Kindes zu Herzen ging; er war so traurig, daß ich Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Ich fragte den Kapitän, ob er Missis Weed nicht 165 Zurechtweisungen über ihr Benehmen geben könne, er sagte, dazu habe er kein Recht. Papa, den ich darum bat, gab mir die gleiche Antwort.

Eines Tages gewahrte ich wie Alice ihre Schwester wiederholt in dem Arm kniff, Maud schrie endlich laut auf: was that Missis Weed? sie gab ihr eine schallende Ohrfeige! Der Kapitän und einige große breite Männer standen dabei und öffneten nicht den Mund. Ich dagegen stürzte wie ein Tiger auf Missis Weed zu:

»Missis Weed,« sagte ich, »Sie sind eine unmenschliche Mutter, Sie geben der ganzen Welt ein Ärgernis, Sie können überzeugt sein, daß Sie jedermann haßt, wenn auch niemand den Mut hat, es Ihnen zu sagen; ich habe ihn und bin der Meinung, daß man am besten thut, solche Mütter in das Meer zu versenken.«

Niemand sprach ein Wort; zu meinem großen Verdruß kam jedoch Papa herbei und entschuldigte sich bei Missis Weed.

Sie lächelte und sprach:

166 »Ich bin sehr erfreut, saß Maud eine so gute Freundin gefunden hat; ich werde es mir angelegen sein lassen, sie in demselben Institut unterzubringen wie miss Dora; Alice ist leidend; sie muß reifen; aber Maud ist sehr gesund, und vielleicht wird sie liebenswürdiger. Mein Mann ist tot,« sagte sie zu Mama, »Maud ist ganz sein Ebenbild.«

Natürlich wußte ich gleich, daß sie diesen armen Mann nie geliebt hatte.

Wir landeten in Hamburg und machten die ganze Reise mit Missis Weed zusammen; ich ließ sie nicht aus den Augen; Papa behauptete, sie habe ein Gesicht wie eine Madonna.

Welch' neuer Beweis von der Schwäche der Männer!

Man reist in Deutschland mit der größten Umständlichkeit; erst wird geläutet und dann gepfiffen; dann wieder geläutet und wieder gepfiffen; hierauf bleibt der Zug noch eine 167 Ewigkeit stehen, und wenn man eben überzeugt ist, man erlebt es nie, geht er ab.

Das Institut liegt an einem großen blauen See, als wir in das Haus traten, hielt ich Maud fest bei der Hand; ich versprach ihr, ohne sie nicht zu bleiben. Die Vorsteherin gefiel mir auf den ersten Blick; Lady durch und durch! Sie sagte jedoch, das Haus sei überfüllt, sie könne Maud nicht behalten.

Sie zeigte uns das Institut, den großen Garten, mit den Wiesen, wo die Mädchen lawn tennis spielten; es machte einen lustigen Eindruck.

Ich bat die Vorsteherin mich einen Augenblick anzuhören; ich sagte ihr, daß es mir geradezu unmöglich sei, Maud ihrem Schicksal zu überlassen, daß ich genau wisse, ihre Mutter würde sie, so bald sie aus meinen Augen sei, schlecht behandeln. Die Vorsteherin gab mir zur Antwort:

»Unter solchen Verhältnissen bleibt mir freilich nichts andres übrig, als für ein weiteres Plätzchen zu sorgen.«

168 »Wir sind bald anderthalb Jahre hier; Maud entwickelt sich zu meiner vollsten Zufriedenheit; alle andern finden sie häßlich: ich finde sie schön. Ich habe mir zu meinem letzten Geburtstag ausgebeten, sie behalten zu dürfen. Meine Eltern haben sich an Missis Weed gewandt, welche sofort ihre Zustimmung gab; sie hat sich natürlich wieder verheiratet.«

Was mich anbelangt, so ist Frau Marie mein Ideal; sie hat in mein Gedenkbuch geschrieben:

»Gut sein ist alles.«

Ich bin momentan leidenschaftlich darauf aus, gut zu sein; ich sehe nicht gern auf meine Vergangenheit zurück, denn ich habe meine Eltern und mademoiselle's zur Verzweiflung gebracht, ohne zu bedenken, wie wenig es mir zu kam.

Ich werde dies vor allen Dingen meinen zukünftigen Kindern an's Herz legen.

 


 


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