Hermine Villinger
Schulmädelgeschichten
Hermine Villinger

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Susu

Schon mit zwölf Jahren – jetzt zähle ich bald fünfzehn – pflegte ich mich mit den kleinen Ärgernissen des Lebens nicht mehr abzugeben, sondern nahm alles, sogar das »Erzogenwerden«, mit stoischer Ruhe hin, die aber leider bei meinem Papa nicht immer die genügende Anerkennung fand, sondern mit dem Namen »heillose Unempfindlichkeit« belegt wurde. Wenn es mir jedoch einfiel, meine Handlungen möglichst deutlich und energisch zu motivieren, wurden alle meine Eigenschaften unter dem einen Wort »verfluchter Eigensinn« (Papa liebt leider zu meinem größten Bedauern eine drastische Ausdrucksweise) zusammengefaßt; also beruhigte ich 4 mich und reduzierte mein Urteil lieber wieder auf Unempfindlichkeit.

Wir gehören zu der unbeliebten, weithin bekannten Menschenrasse der Berliner. Papa bekleidet die Stelle eines geheimen Justizrates und ist derart mit Arbeit überhäuft, daß ich mich oft frage, was schließlich aus der Welt wird, wenn die Regierung ihre Beamten alle zu Tod gehetzt hat.

Ich kam im Kriegsjahr 1870 zur Welt, worauf uns für's erste weitere Kinder versagt blieben, bis vier Jahre später mein Brüderchen Otto das Licht der Welt erblickte. Seine Geburt kostete jedoch unserer armen Mama das Leben. An ihrer Statt zog Großmutter zu uns und übernahm die schwere Aufgabe, uns zu erziehen. Das heißt, sie verzog Otto gründlich und nahm mir gegenüber den Standpunkt seufzender Resignation ein, die ihre Ursache in meiner frühen Selbständigkeit hatte, die sich nicht erweichte, trotz beständigen Apellierens an meine gute 5 Seele. Denn daß sie im Grunde ganz gut war, bezweifelte ich niemals, obwohl es sich eigentlich nicht schickt, so etwas zu sagen oder merken zu lassen. Aber ohne einen guten Glauben an sich selbst, wird es wohl niemand wagen, die eigene Unvollkommenheit mit der Keckheit des Lasters aufzudecken.

Mit sechs Jahren kam ich in die Privatschule, Königgrätzerstraße 50. Es entstand sofort ein heftiges Wettlernen zwischen mir und meiner besten Freundin Clärchen, deren Vater ein Kollege des meinen ist; noch einige weitere Beamtentöchter schlossen sich uns an, und wir hielten fest zusammen gegen den Andrang der Offizierstöchter, die sich darauf spitzten, den Ton in der Schule anzugeben. Wir waren ihnen aber in jeder Hinsicht über, und nur eine höhere Kaufmannstochter wetteiferte mit uns, jedoch ohne Erfolg.

Zu meinem größten Bedauern gehörte Papa zu jener Partei Männer, die gegen das viele 6 Lernen des weiblichen Geschlechts die Opposition bilden. Mit Otto's Aufgaben dagegen nahm er's um so strenger: da der arme Junge jedoch schwächlich war und schwer von Begriff, endigte jeder Tag mit einer Scene. Legte sich Großmutter in's Mittel, wurde die Sache nur um so schlimmer, um so mehr, als ohne dies schon eine gewisse Spannung zwischen ihr und Papa existierte, wegen Friedrich Wilhelm IV., an dem Großmutter mit großer Liebe hing, und dessen Schwächen sie durchaus begreiflich fand, während Papa darüber außer sich geriet.

Ein wahres Unglück brachte das Latein in unser Familienleben, denn jetzt war Otto ganz auf Papa's Hülfe angewiesen, der schon nach wenigen Wochen die Geduld verlor und erklärte, es sei kein bißchen Strammheit in dem Jungen, er sei vollkommen unbegabt, und es bliebe nichts andres übrig, als ihn aus dem Gymnasium zu nehmen.

Dagegen erhob ich einen leidenschaftlichen 7 Protest, indem ich Papa vorwarf, er habe nicht für eine Bohne Geduld, und seine Heftigkeit schüchtere den armen Jungen vollends ein. Ich wagte zu behaupten, daß, wenn Otto mir überlassen würde, ich es in Zeit von einem halben Jahr dahin gebracht haben wolle, daß er in der Schule mitkomme. Papa erklärte, ich besitze die Anmaßung und Keckheit von sechs Berliner Straßenjungen, er wolle jedoch auf meinen Vorschlag eingehen, nicht weil er glaube, daß Otto wirklich durch meine Hülfe weiter komme, sondern um mir Gelegenheit zu geben, durch meine Schwäche und Unfähigkeit zur Bescheidenheit zu gelangen.

Der Bruder meiner Freundin Clärchen hieß Willi und war mit Otto in der Klasse, ein ganz ausgezeichneter Schüler, von dem die Sage ging, daß er die Odyssee auswendig könne.

Auf diesen Willi setzte ich meine Hoffnung; an ihn stellte ich die Frage, ob er mich in den lateinischen Aufgaben unterrichten wolle. Er pfiff 8 erst eine Weile, mit großer Impertinenz mich vom Kopf bis zu den Füßen messend; hierauf deklamierte er:

»Höret jetzo mich an, ihr meine Genossen im Unglück –
Ich will Dir die Aufgabe zeigen, aber für ein Stück Kuchen.«

Dies versprach ich, und Willi lehrte mich die Lektion. Es ging sehr leicht, denn er wußte seine Sache genau, und ich hatte wenig Mühe, sie zu verstehen.

Am andern Tag brachte ich ihm sein Stück Kuchen, und er zeigte mir die neue Aufgabe.

Es ging eine Zeit lang so fort und gelang wundervoll. Otto lernte begreifen, langsam zwar, mit großer Mühe, aber wenn er einmal etwas inne hatte, dann saß es fest. Er schlich jetzt nicht mehr mit rotgeweinten Augen von der Schule nach Hause, sondern riß ordentlich wie ein rechter Junge die Thüre auf.

Nur wollte Willi für jede Lektion ein Stück 9 Kuchen haben, und das war nicht immer leicht aufzutreiben, denn ich hatte nur fünfzig Pfennige Wochengeld und mußte damit sämtliche Schulerfordernisse und Geburtstagsgeschenke anschaffen, denn Großmutter war äußerst genau und hielt streng auf einteilen.

Otto's Fortkommen jedoch machte einen so guten Eindruck auf Papa, daß ich es nicht um die Welt verraten hätte, wie es damit zuging; auch setzte ich meinen ganzen Stolz darein, es Papa zu beweisen, wie unrecht er gehabt, und wie wichtig es war, daß Mädchen lernten, und auf diese Weise im Stande waren, ihren Brüdern oder künftigen Söhnen weiter zu helfen, da die Väter ja doch nie die Geduld dazu hatten und auf der Stelle verzweifelten.

Willi's Gefräßigkeit nahm jedoch mit der Zeit in einer Weise zu, daß er noch außer Kuchen, massenhaft Chokolade, Datteln und Feigen verlangte, und ich ihn seiner Habgierigkeit wegen wie meinen Todfeind haßte. Er wußte es wohl, 10 aber es genierte ihn nicht im geringsten, vielmehr rekelte er sich mit besonderm Vergnügen während der Lektion quer über den Tisch hin, mit den Beinen in der Luft herum fuchtelnd, so daß das Buch alle Augenblick auf die Erde fiel.

Ich konnte mich natürlich bei solchen Gelegenheiten nie enthalten, ihm einen tüchtigen Klaps zu geben, welche Genugthuung mich jedoch jedes mal teuer zu stehen kam, indem Willi erklärte, er könne mich, da ich ein Mädchen sei, nicht wieder schlagen und müsse daher für die Beleidigung eine doppelte Ration Kuchen verlangen.

Da kam ich in meiner Verzweiflung auf den Einfall, einigen Unbegabten in unsrer Klasse die Aufsätze zu machen und verlangte dafür entweder einen Kranz Feigen oder eine Schachtel Datteln, was ich alles an Willi ablieferte.

So sehr mich alles dies ärgerte und quälte, Otto's erstes gutes Zeugnis verursachte ein solches Freudenfest in der Familie, daß ich sogar das wunderhübsche Schiffchen, das er von Papa 11 erhielt, nach Häringsdorf schickte, wo Clärchen und Willi mit ihren Eltern die Ferien verlebten.

Clärchen schrieb mir ganz entzückt, wie herrlich sie mit dem reizenden Schiffchen spielten, und daß sie Willi sehr in's Gewissen geredet, mir auch seinen Dank zu schreiben.

Er schrieb:

Liebe Susu!

»Dir antwortete drauf der männerbeherrschende Sauhirt:

Schicke mir mehr«

Dein Willi.

Als Otto und ich dieses lasen, waren wir so empört, daß wir die Odyssee herbei holten und folgende Antwort an Willi schrieben:

»Fremdling, Du bist nicht klug, oder fern von hinnen gebürtig
Jetzt hab's ein End' mit den Datteln, mit jeder Sendung – fahr' hin!«

12 Wir tanzten ganz überglücklich, es endlich Willi einmal gesagt zu haben, mit einander um den Tisch herum, als Papa in die Stube trat.

Susu, sagte er, ich habe von dem Vater einer Deiner Mitschülerinnen ganz merkwürdige Dinge vernommen: ist es wahr, daß Du Aufsätze für andre verfertigst, und Dir Leckereien dafür geben läßt?

Papa, rief Otto und wurde dunkelrot, das hat sie alles für mich gethan.

Und nun erzählte ich haarklein, wie alles zugegangen, und Willi nie genug hatte bekommen können, und zeigte Papa Willi's Brief, und unsre Antwort.

Da lachte Papa so herzlich, daß ihm die Augen übergingen, und ich flog ihm samt Otto an den Hals.

Ich war aber in Folge der doppelten Arbeit, die ich mir zugemutet – (denn ich hatte natürlich in der Schule fortgesetzt mit Clärchen Schritt gehalten) dem Aussehen nach ein Grünspecht 13 geworden, an dem weder Gott noch die Menschen ihre Freude haben konnten.

Es wurde darum beschlossen, mich von Berlin fort, in ein Institut zu thun; Papa wählte eines in Süddeutschland. Und wie glücklich war er, sowohl in der Wahl der Gegend, als in der Wahl meiner Lehrerin!

Ein Brief von Otto aber, in dem geschrieben stand:

Liebe Susu!

Ich bin Primus:

Dein Otto –

ist das letzte und schönste Ereignis in meinem Leben.

 


 


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