Hermine Villinger
Schulmädelgeschichten
Hermine Villinger

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Adda

Eigentlich habe ich gar nichts erlebt, das heißt ich bin am ersten Juli 1873 geboren.

Einmal auch besuchte ich Papa im Thüringerwald, der extra wegen seiner Gesundheit da war, und Mama half mir beim Lernen, denn es ging mir nicht in den Kopf: erstens: das Schriftliche und das Mündliche samt der Interpunktion, Rechnen und Geographie, wofür ich aber nichts konnte, da Mama sagte, ich sei gerade wie Papa.

Eigentlich fand ich in meiner Jugend alle Menschen langweilig, desgleichen das Lernen, das Spazierengehen, das Anziehen und Ausziehen samt Schlafengehen; dagegen aß ich sehr gern Him- Stachel- Maul- Brom- und andre Beeren; bei Kirschen waren mir die Steine zuwider.

82 Ich bin vollständig ohne Geschwister aufgewachsen, zuweilen jedoch gaben wir eine große Kindervisite mit Chokolade und Apfelkuchen. Eigentlich habe ich Klavierüben am liebsten gethan, und obwohl ich im Aufsatz fortgesetzterweise schlecht hatte, durfte ich in der Singstunde stets vorsingen, wo ich jeden Ton traf. Darum auch ist mein Papa Tenor am Hoftheater mit massenhaften Lorbeerkränzen über dem Spiegel, der jedesmal sagt, so oft ich beim Lernen weine:

Sei ruhig, mein Liebling, du bist das Töchterchen eines großen Künstlers, das ist mehr Ehre, als wenn du die Erste in der Schule wärst.

Als ich dies Else von Düringshausen sagte, lachte sie mich sehr aus und sagte, ihr Papa sei Lieutenant, und das sei die erste Stellung auf der Welt. –

Jetzt war das Lachen an mir, und ich sagte: Ein Künstler ist überhaupt von Gottesgnaden und kommt darum gleich nach dem lieben Gott – worauf Else von Düringshausen antwortete:

83 Du Schaf, denn ein Lieutenant ist einfach hochgeboren und steht daher noch über dem lieben Gott.

Da hab ich mit der Schultasche nach ihr geschlagen, daß sie weinte und alles herausfiel.

Als ich ganz klein war, und es kam Besuch, sang ich: Kommt ein Vogel geflogen. In höheren Jahren sang ich meistens große Schullieder oder Duette aus Faust und Figaro, mit Papa und allen Trillern.

Eigentlich war Mama oft böse, daß er so närrsch mit mir war, weil es für Kinder gar nicht gut ist, schon all' die dummen Reden für Erwachsene zu hören. Ebenso war fürchterlicher Streit, weil Papa wollte, ich soll ihn im Lohengrin im Schwan sehen, aber Mama erklärte: nein! und mich zu Bett brachte. Wie ich aber allein war und bemerkte, daß auch die Köchin und die Jungfer fort war, habe ich schnell meinen Mantel, meinen Hut und meine Schuh und meine Strümpfe angezogen, und bin zu Mama 84 in die Loge, die sehr erschrak, hauptsächlich aber, weil ich meinen Mantel nicht ausziehen konnte, indem ich im Nachthemdchen war.

Eigentlich war Papa immer lustig, aber zuweilen glaubte ich annehmen zu dürfen, daß meine Eltern nicht glücklich lebten, was jedoch nie lang dauerte. Am schönsten war es, als wir miteinander die Masern hatten, und Mama uns pflegte; eine so glückliche Zeit kommt nie wieder in meinem Leben, denn die Thür zu Papa stand auf, und er machte den ganzen Tag Dummheiten und schrie wie ein kleines Kind, und Mama kam mit der Rute und machte ein strenges Gesicht, und der Doktor lachte, und ich lachte, und wir hätten am liebsten immerfort die Masern gehabt.

Eigentlich aber war Papa meistens wütend – zum Beispiel über den Kapellmeister, oder über das hohe Aß oder das Publikum, wenn es gemein war. Es dauerte aber nie lang, besonders wenn ich zu ihm sagte:

85 Papachen, pfeife darauf!

Dann lachte er und kaufte mir alles, was es auf der Welt gab; was er aber nicht leiden konnte, war eine Kindertrompete. Nämlich an der Ecke war ein Spielwarenladen mit Puppen, Kuchen, Kaufläden, Ställen, Peitschen, Ballen, Lämmchen und andern Tieren, sowie Bleisoldaten, es lag aber auch eine Trompete da, und wie ich noch ein sehr kleines Kind war, hätte ich diese Trompete eigentlich von allen schönen Sachen auf der Welt am liebsten gehabt. Ich träumte in der Nacht von ihr, einmal sie läge oben drin in meinem Kommödchen, als ich aber des Morgens schnell aus dem Bett sprang und nachsah, da war es nicht wahr. Ein andres Mal hörte ich ganz deutlich im Traum, daß ein Engelchen in der Trompete saß, das gar reizend sang.

Doch jedesmal, wenn wir an dem Laden vorbei kamen und ich sagte zu Papa: Kauf mir die Trompete! sagte er: Was fällt 86 dir ein, ein Mädchen! wo bliebe denn da das ewig Weibliche.

Und wenn ich zu Mama sagte: Kauf mir die Trompete! sagte sie: Aber Kind, bedenke doch, Papa's Nerven!

Da sagte ich wenigstens, wenn ich an der Trompete vorüber kam, jedesmal ganz leise zu ihr: Guten Tag, Freundin.

Eigentlich waren wir ungefähr zwei Mal an der Ostsee und einmal an der Nordsee; dies war in Norderney, und Mama war sehr betrübt, denn Großpapa war in Helgoland und wollte nichts von uns wissen, weil Mama damals Papa geheiratet, ohne zuerst zu fragen. Großpapa wohnte nämlich in Hamburg und war ein reicher Kaufherr.

Doch eines Tages sagte Papa zu Mama: Es sei gewagt! worauf Papa und ich in ein Segelboot stiegen und nach Helgoland fuhren, welches eigentlich eine Insel mitten im Meer ist, auf der bloß ein Kartoffelfeld wächst, ein Theater und einige Hôtels.

87 Vor einer Thüre sagte Papa: Hier gehst du hinein, hier wohnt ein alter Herr, dem singst du ein Lied, und wenn er dich frägt, wie du heißt, so nennst du deinen Namen – aber nur wenn er freundlich frägt –

Ich bin hineingegangen und habe gleich losgesungen:

Kommt ein Vogel geflogen –

Der alte Herr rauchte und fragte:

Wie heißt du denn, du kleiner weißer Vogel?

Da er aber ein sehr ernstes Gesicht machte, nannte ich meinen Namen nicht, sondern sagte:

Ich heiße Leonore und fuhr um's Morgenrot.

Jetzt lachte er, und ich sagte schnell:

Nein! Nein, es war nur Spaß, und nannte meinen rechten Namen.

Da ist er furchtbar grimmig geworden und warf sein Buch fort, und ich fürchtete mich sehr und fing an zu weinen und sagte:

Ich habe Ihnen gewiß nichts zu leid thun wollen.

88 Auf dies hin nahm er mich auf den Schoß und streichelte mir das Haar, und ich trocknete alle meine Thränen und sagte:

Ich weiß recht gut, daß Sie eigentlich mein Großpapa sind.

Hierauf gab es eine wundervolle Versöhnung mit lauter Jubel, daß wir von diesem Augenblick an in Helgoland, bei Großpapa wohnten, wo es mir viel besser gefiel.

Aber eines Tages warfen wir uns mit Sand, Papa und ich, als Großpapa plötzlich befahl:

Laß das bleiben, Adda!

Da aber Papa nicht gehorchte, gehorchte ich natürlich auch nicht, so daß Großpapa fürchterlich streng sagte:

Dieses Kind muß gehorchen lernen; du wirst heute keine süße Speise bei Tische essen, Adda!

Als wir an der Tafel saßen, ging die süße Speise richtig an mir vorbei, aber Papa nahm sich welche, und als ich dieses sah, weinte ich laut und sagte, Papa sei auch ungehorsam 89 gewesen, er dürfe auch keine süße Speise haben, weil es sonst eine Ungerechtigkeit sei, und weil Papa immerfort lachte und sich gar nicht schämte, warf ich nach ihm mit meinem Brot. Da nahm mich Mama schnell vom Tisch weg und gab mir zum ersten Mal Schläge und sperrte mich ein.

Bald darauf ist aber Papa gekommen mit einem ganzen Teller voll süße Speise und hat mich auf den Schoß genommen und getröstet, und wie ein Vögelchen gefüttert. Großpapa aber streckte den Kopf zur Thür herein und sagte:

Eine schöne Erziehung!

Worauf Mama seufzte und in eine tiefe Verlegenheit kam.

Es dauerte nicht lang, wurden wir eines Tages mit plötzlicher Schnelle in Hamburg engagirt, worüber sich Mama sehr freute, und wir bei Großpapa wohnten, wo im ganzen Hause Teppiche lagen und seine noch lebende Schwester immerfort umher ging wie auf Eiern, und jedes Fädchen aufhob, und so oft sie sich entsetzte – 90 »O Gatt!« sagte, und wenn sie sich freute: »wie gediegen!« Aus welchem Grunde Papa und ich sie Tantchen »Gediegen o Gatt« nannten wobei Papa stets wundervoll die Augen verdrehte.

Gleich jedoch entstand eine Mordsgeschichte im Haus wegen meiner angeblichen Unwissenheit, und Tantchen »Gediegen o Gatt« unternahm leider meine Unterrichtung; fünf Minuten vor drei Viertel auf neun sollte ich im Lernzimmer sein und alles gerichtet haben; punkt drei Viertel ging die Thüre auf, und sie kam. Sobald ich mich höchst unschuldigerweise anlehnte, fing sie den Unterricht von vorne an; zuweilen lehnte ich mich alle fünf Minuten aus Rache an, und wir haben alle fünf Minuten von vorne angefangen.

Wenn ich es Papa erzählte, erstickten wir vor Lachen; wir machten überhaupt immerfort »Tantchen Gediegen o Gatt« nach, und nur wenn Mama uns mit Thränen beschwor, unterließen wir es.

91 Aber was hätte ich denn sonst gehabt in den entsetzlich langen Stunden, mit den schläfrigen Augen unter dem weißen Spitzenhäubchen, und der eintönigen Stimme, die im Englischen das »th« so zischte, daß sie mich anspauzte. Doch darauf freute ich mich immer ganz besonders, weil ich dann jedesmal: »o Gatt wie gediegen« ausrief.

Eines Tages geschah es, daß ich einen wundervollen Jüngling mit einer braunen Sammtjacke und einer reizenden Reitpeitsche, gerade gegenüber wohnend, entdeckte. Eigentlich war die Straße zu breit, daß man das Gesicht nur halb unterscheiden konnte, trotzdem beschloß ich, für ihn zu schwärmen und sang jedesmal, so oft er aus dem Hause trat:

»Blümlein traut, sprecht für mich –«

Wie unendlich war also meine Verwirrung als ich hörte, Großvater giebt ein Diner, und ich den Namen hörte von den Eltern jenes Jünglings, die auch geladen waren. Endlich faßte ich mir ein Herz und fragte Tantchen:

92 »Sind denn auch Jünglinge mit eingeladen?«

Sie rief aus: »O Gatt, was gehen dich Jünglinge an!«

Ich sagte: »Es muß mich doch eigentlich jemand zu Tische führen!«

»Durchaus nicht,« sagte sie, »ein Kind, das nicht zu schweigen weiß, bleibt von einer Gesellschaft erwachsener Leute weg; wir müßten uns sonst deiner mangelhaften Erziehung zu Tode schämen.«

Über dieses Unglück war ich so unglücklich, daß ich stampfte. Wenigstens mußte mir Papa versprechen, keinen Ton zu singen, hierauf stellte ich mich am Fenster auf, um zu sehen, wer kam, und richtig, es kamen jene Eltern von drüben mitsamt dem Jüngling!

Das war für mich, wie man zu sagen pflegt, ein Schlag in's Schicksal. In meiner Verzweiflung rannte ich durchs ganze Haus, als ich mich plötzlich in Papa's Theatergarderobe befand. Hier kleidete ich mich rasch an als Ritter, 93 obwohl mir der Harnisch etwas weit saß, setzte den Helm auf mit dem blauen Busch aus dem Lohengrin, nahm eine Lanze und schlug das Visir vor's Haupt.

So gewappnet trat ich wie eine Erscheinung in's Eßzimmer, daß die Herren mit den weißen Westen und roten Gesichtern mich wie einen Geist anstarrten, und die Damen ihre fadengeraden Nasen erstaunlich in die Höhe reckten.

Und ich sang: »Nie sollst du mich befragen« – daß eine Stille eintrat, die ich nicht zu beschreiben vermag. Plötzlich aber spießte ich mit aller Gewalt die Torte mit dem Spieß auf und ging unter einem allgemeinen Aufschrei davon.

Nach dieser Thatsache war mein Ruf vollends zernichtet, und ich kam, ohne Papa's und meine Verzweiflung zu berücksichtigen, in's Institut.

 


 


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