Hermine Villinger
Schulmädelgeschichten
Hermine Villinger

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Gunhild

Ich bin am heiligen Weihnachtsabend geboren, eine große Überraschung, nicht allein für meine Eltern, sondern auch für meine drei Brüder, die meine Wiege unter den Weihnachtsbaum trugen, und um mich herum knieten, wie die Hirten um das Christkind.

Eines Tages weckte mich die Mutter: »Stehe schnell auf, dein Bruder Karl ist aus Afrika zurückgekommen, sage ihm guten Morgen,

Ich nahm Putzi, meine Katze, Schnauzi, meinen Hund, und Mutter machte mir die Thüre auf.

Da lag ein fremder Mann im Bett, mit einem schwarzen Bart und einem so gelben 132 Gesicht, daß ich mich fürchtete und zu Putzi und Schnauzi sagte: »Seht, das ist unser berühmter Herr Bruder aus Afrika.«

Da lachte er laut, daß ich ihn sogleich erkannte und auf sein Bett sprang und fragte:

»Hast du mir auch etwas mitgebracht?«

Er hatte mir freilich etwas mitgebracht: zwei lebendige Puppen, kleine allerliebste Mädchen, wie sie im Urwald wachsen. Dort war er gewesen, wo die Bäume hoch sind wie der Himmel, von mächtigen Schlinggewächsen umsponnen; dunkel ist's, weil kaum das Tageslicht durchdringt, kein Lüftchen regt die Blätter. Tage, Wochen und Monate sind die Afrika-Reisenden durch diesen Urwald geklettert, mit der Axt sich Bahn brechend. Und siehe! eines Tages wurde es licht und vor ihnen lag eine Wiese mit kleinen niedrigen Hütten, wie Bienenkörbe. Drinnen hauste ein allerliebstes kleines Zwergengeschlecht, nicht größer als ein Meter. Von dort brachte mir Bruder Karl meine kleinen Mädchen mit, 133 die gerade so alt waren wie ich, aber so klein, daß ich sie bequem herum tragen konnte.

Wir bauten ihnen ein allerliebstes Haus, was man im Garten oder im Zimmer aufstellen konnte; es enthielt ein Schlafzimmer, ein Eßzimmer mit Veranda, und ein Wohnzimmer.

Meine Kinder hießen Toto und Tata; sie hatten eine braune Gesichtsfarbe und waren sehr behende in ihren Bewegungen; ihre Zähnchen waren reizend, aber ihre Haare verursachten mir unbeschreiblich viel Mühe und Ärger, weil ich sie kaum zu bändigen vermochte. Toto war etwas gefräßig und Tata etwas unreinlich; ich drohte ihnen zuweilen mit der Rute, schlug sie aber nie, sondern gab ihnen Klavierstunde auf einem Puppeninstrument und verfertigte ihnen kleine Heftchen für den Schreibunterricht. O wie sie sudelten! Sehr schwierig war, sie zivilisiert essen zu lehren; auch hatten sie eine unwiderstehliche Vorliebe für Vorhangstangen, auf denen sie sich wiegten und schaukelten, wie auf 134 Baumästen, man mochte sagen, was man wollte. Auch thaten sie gar zu gern den Besuchen, welche in unser Haus kamen, einen Schabernack an, indem sie erst ganz still und steif saßen, wie leblose Puppen, um plötzlich, wenn sie jemand streichelte, um sich zu beißen oder den Betreffenden auf den Rücken zu springen. Mit übermenschlicher Mühe brachte ich es dahin, daß sie mich wenigstens Mama nannten, was ich doch gewiß verdiente, denn ich hatte Tag und Nacht keine Ruhe und war oft unsäglich unglücklich, weil es mir nicht gelang, ihnen alle die guten Eigenschaften anzuerziehen, wie ich gehofft hatte.

Und doch liebte ich sie und fuhr eines Nachts wie verzweifelt aus dem Schlaf, als ich Tata und Toto laut schreien und schluchzen hörte; ich machte Licht und leuchtete in ihr Puppenhaus; da saßen sie neben einander auf dem Bettchen, riefen immerfort ein Wort, das ich nicht verstand und zerbissen wie wütend mit ihren Zähnchen die Bettdecken; auf einmal rissen sie ihre 135 kleinen Vorhänge vom Fenster, ihre Bilderchen von den Wänden und fingen an mit erstaunlicher Kraft und Behendigkeit alles zu zertrümmern, womit ich ihr kleines Heim ausgestattet hatte.

Ganz außer mir über dieses Betragen, weckte ich meinen großen Bruder Karl und forderte ihn auf, Tata und Toto in Gottesnamen durchzuprügeln.

Allein Karl sagte:

»Die armen Kinderchen – die Worte, welche sie beständig ausriefen, heißen auf deutsch so viel wie – Mutter, Mutter – Heimat, Heimat!«

»O mein Gott, rief ich aus, dann prügle sie nicht, sondern sage mir, wie ihnen zu helfen ist?«

»Man müßte sie eben wieder nach Hause schicken,« sagte mein Bruder, »und zwar mit der nächsten Expedition – aber das wirst du nicht wollen?«

136 Gewiß wollte ich, packte unter Thränen zwei Kofferchen voll der schönsten Sachen, und Karl brachte meine Kinderchen nach Hamburg, wo eben das Schiff für die Expedition vor Anker lag; ein Freund meines Bruders übernahm mit großer Freundlichkeit den Transport, und wenn Toto und Tata nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.

In Wahrheit aber bleibt zu bemerken, daß überhaupt die ganze Geschichte erfunden ist, denn obwohl mir Bruder Karl erzählte, daß wirklich im Urwald ein weitverbreitetes Zwergengeschlecht haust, so haben doch diejenigen, welche er mir mitgebracht, nur in meiner Einbildung existiert.

Unser Haus steht am Rhein, des Sonntags versammelten sich eine Masse Gäste in Vaters Atelier, die Herrn vom Malkasten, und die Freunde der Brüder.

Als Karl, der Älteste, acht Jahre alt war, lief er zum ersten Male davon, weil er sich in 137 den Urwäldern mit dem Indianervolk herumbalgen wollte. Er versteckte sich im Kajütenraum eines Schiffes, fuhr bis Wesel und wurde alsdann vom Kapitän unverrichteter Sache zurückgebracht. Kaum hatte er sein Jahr abgedient, verschwand er abermals, und die Leute in Düsseldorf sagten:

»Ei, das kommt von der Behauptung des Professors: Erziehung verdirbt die Eigenart.« –

Aber wie erstaunt waren diese Leute, als Karl eines Tages als berühmter Afrika-Reisender zu uns zurückkehrte, und ein Buch schrieb über das neuentdeckte Zwergengeschlecht.

Felix, der zweite, war ein Riese, und der erste Gymnastiker Düsseldorfs. Er machte sich außerdem immerfort in den schmutzigsten und engsten Gassen zu schaffen und je zerlumpter ein Bettler war, desto lieber war es ihm; er sprach furchtbar wenig. So sonderbar war er geworden von dem Tage an, als er erklärte, er wolle Maler werden, und Vater erklärte, er gebe es 138 nimmermehr zu, denn Felix neige zu einer verwerflichen Richtung.

Wolf, der dritte, aber war wie ein Sonnenstrahl, wenn er zur Thüre hereinkam. Ich zählte zwölf und ein halbes Jahr als meine erste Freundschaft entstand. Nämlich in der Schule war eine gewisse Edith, die ich bewunderte, allein wir waren Rivalinnen im Aufsatz.

Es wurde uns eines Tages folgendes Thema gegeben:

»Betrachtungen bei einem Gang durch das Berliner Museum.«

(Wer nicht in Berlin war, durfte das Düsseldorfer oder Kölner Museum nehmen.) Mein Aufsatz wurde vor der ganzen Klasse vorgelesen: soll ich ihn hinschreiben? Ja!

»Es war ein dunkler Wintertag und obgleich noch früh am Nachmittag, lauerte schon die Dämmrung in den Ecken des großen Saales und kam mehr und mehr aus ihren 139 Schlupfwinkeln hervorgekrochen; ich stand gerade vor den Mumien der alten Ägypter und betrachtete mir die lang und schmal eingebetteten, teils dunkelbraunen teils schwärzlichen Gesellen, als mit einem Mal sich seltsam verwirrende Schatten über sie hinlegten, daß ich mit benommenem Atem und Füßen, die förmlich in die Erde wuchsen, da stand, während sich mir die Haare vor Entsetzen gen Himmel sträubten – denn es nickte jener Längste der einbalsamierten Ägypter plötzlich drei Mal mit dem Kopfe. Und er sprach: »Ich bin Ramses II. König von Ägypten, der berühmteste meines Namens und ein Eroberer ohnegleichen. Vierundsechszig Jahre regierte ich und schaffte ein gewaltiges Reich durch meine Kriege und wunderbaren Bauten, von deren Herrlichkeit die ganze Welt erzählt.

Ich war so mächtig, daß vor meinem Antlitz jeder meiner Unterthanen in den Staub sank und mich anbetete als einen Herrscher, wie ihn die Erde nie getragen.

140 Aber die Zeit nahte heran, und ich ward alt und rief die ersten Künstler aus meinen Landen zusammen und hieß sie eine Pyramide errichten – zweihundertundvierzig Meter breit und hundertundfünfzig hoch, denn ich wollte mein Grabdenkmal in seiner ganzen Größe vor mir sehen, das ewige Dauer hatte, und meine Hülle barg, fort und fort, damit jeder vor meinem Königsgrabe sich neige bis an das Ende aller Tage.

Da ich aber die Macht hatte zu töten und zu belohnen, zu beglücken und zu verbannen, so sprach ein jeder zu mir voll Demut: »Herr, Herr, du bist kein Mensch, du bist ein Gott!«

Und nur einer, ein alter Priester, dessen Haare die Zeit in leuchtenden Schnee verwandelt, dieser eine sprach:

»Du bist ein Mensch, o Herr, und Menschenschicksal unterworfen!«

Aber ich ließ ihn köpfen und gleich darauf einen wunderherrlichen Tempel errichten neben 141 meiner einstigen Grabstätte, denn wenn ich mir auch sagte: Du kannst alles – du weißt alles – du stehst über allen Menschen auf der Erde – so mußte ich mir doch insgeheim eingestehen: Dir entfällt ein Zahn so gut wie dem niedrigsten deiner Sklaven, und gleich ihm bleibt eines Tages dein Herzschlag stille stehen.

Und ich grämte mich ob der Schmach, die mich allen Menschen gleich stellte und befahl, in meinem Tempel ein Denkmal zu errichten, über alles herrlich und erhaben, welches mich zugleich als Gott und als Mensch darstellte, indem ich mich selber anbetete. Und so oft ich dieses Denkmal anstaunte, erfreute sich meine Seele hoch in dem Gedanken, so zu stehen in alle Ewigkeit – ein Gott für alle Menschen, die nach mir kamen.

Und ich starb und vorüber zogen die Jahrhunderte, indessen ich schlief hinter den Mauern meiner Pyramide.

Was aber, o grausam grausiges Schicksal, was geschah!

142 An meinen Wänden hallte ein fernes Pochen, lauter und lauter kam es zu Tag, es störte mich in meiner Ruhe und riß mich aus der Todesstarre. Und siehe da, eine Bresche ward geschlagen in mein geheiligtes Haus – und herein kam – nicht etwa eine geharnischte Kriegerschar – sondern ein hageres unscheinbares Wesen von einem Mann, das sie Professor nannten und eine Brille trug. Es brachte eine Maschine mit, von der ein entsetzlich weiß blendendes Licht ausstrahlte, das im Nu mein dunkles Grab in lichten Tag verwandelte. Meine stillen Mitbewohner aber, die huschenden schwirrenden Scharen von Fledermäusen, die Jahrhunderte lang meinen Leichnam mit ihrem leisen Grabgesang umschwebt, sie kamen, erschreckt durch das grelle Licht, kreischend und schwirrend aus ihrem nächtlichen Schatten gestürzt; sie setzten sich dem frechen Ruhestörer in die Haare, sie nisteten sich in seinen Bart, sie huschten ihm über's Gesicht und prallten mit solcher Wucht 143 gegen seine Brust, daß er sich festhalten mußte, um nicht umgeworfen zu werden. Aber sie vertrieben ihn nicht! Mit entsetzlicher Beharrlichkeit hielt er aus, ließ die Fledermäuse in seinen Haaren zerren und gegen seinen Körper ankämpfen, immer langsam an den Wänden hingehend, wo er in der grellen Beleuchtung die Sprüche meiner Herrlichkeit las und meine Gottähnlichkeit belächelte. Ja, er lächelte, der Elende und schrieb seine Funde mit peinlicher Genauigkeit auf – ach, und dies war nicht alles, denn nicht genug, daß er mein erhabenes Grab also geschändet, er zog meinen geheiligten Leichnam an's Tageslicht hervor, und gab ihn den Blicken einer neugierigen Menge preis. Und niemand entblößte das Haupt vor meinem königlichen Staub, niemand ersah den einstigen Gott aus meiner zusammengeschrumpften Mumie! Ich war ein Stück Sehenswürdigkeit geworden, übler dran als der geringste meiner Sklaven, auf 144 immer der Grabesruhe entzogen, die dem Niedrigsten gegönnt war. –

So bestehe ich fort und fort, verdammt zur Strafe meines Hochmuts die ewig wiederkehrende Frage hören zu müssen:

»Wer mag die arme Mumie sein?«

Und ich bin Ramses II., der mächtigste König der Ägypter.«

Nach der Schule flog mir auf der Straße folgender Brief an den Kopf:

»Gunhild!

Dein Aufsatz hat mich völlig herabgedonnert, von allen Sterblichen auf der Welt bist Du es, die ich am meisten bewundere. Fort mit aller Eifersucht, mit allem irdischen Neid und aller kleinlichen Mißgunst! ich beuge mich vor Deinem Geist, er steht hoch über dem meinen; nie wäre mir ein Ramses II. eingefallen! Ich finde Deinen Aufsatz einfach genial und wollte, Du könntest mich lieben!

145 Ich war heute in der Schule Deinetwegen so zerstreut, daß Madame beim Adieusagen zu mir sagte: »Ich möchte nur wissen, was aus Dir noch einmal wird.« –

Ich bin heute Nachmittag Punkt halb vier Uhr im Hofgarten, auf der Eisbahn, wenn Du für mich fühlst, wie ich für Dich, so erscheine!

Harrend Deine Edith.«

Es schneite riesig, als wir ganz beflockt auf einander zuflogen; wir schüttelten uns wortlos die Hände und fuhren wie der Blitz neben einander hin; hierauf begann ein Wettkampf in Figuren, und als wir auch in dieser Hinsicht einander vollkommen ebenbürtig waren, schlossen wir unsern Bund für's Leben.

Von dieser Stunde an sagten wir uns alles, und Edith kam täglich zu mir. Nichts aber war komischer als Wolf's Benehmen, denn er war entzückt von Edith, sah sie immerfort an und wurde bei jeder Gelegenheit rot.

146 Eines Morgens in der Schule flog plötzlich während der französischen Stunde ein Brief durch's Fenster, an Edith adressiert. Madame fing ihn auf und hatte die Indiskretion ihn zu öffnen. Hierauf warf sie einen indignierten Blick auf Edith und schwieg. Ahnungsschwer gingen wir nach Haus. Unterwegs sagte Edith: »Ich fürchte, es war Wolf.«

Ich fürchtete es ebenfalls.

Als ich nach Haus kam, stand Wolf mit einem dunkelroten Kopf unter dem Thorweg.

»Du bist's gewesen,« rief ich, »man sieht Dir's an!«

»Ja,« gestand er, »Edith ist so schön, da habe ich ihr einen Heiratsantrag gemacht.«

»Entsetzlich!« schrie ich aus, »Madame hat den Brief aufgefangen, sie wird Edith aus der Schule weisen!«

Des Nachmittags kam Edith, blaß, halbtot; Madame hatte an ihre Mutter geschrieben, sie war aus der Schule entlassen.

147 Wir saßen in meinem Zimmer und weinten fürchterlich; Edith gestand mir, daß sie vor habe, sich umzubringen, weil es ihr nicht möglich wäre, noch unter eines Menschen Auge zu treten. Wir hatten uns eingeschlossen und waren völlig ratlos, als es an die Thüre klopfte. Es war Wolf, der draußen rief:

»Macht auf, ich habe euch etwas zu sagen!« Edith hielt mich fest, und wir blieben mäuschenstill. Auf einmal schwang sich Wolf zum Fenster herein.

»Seid ruhig,« rief er, »weint nicht, ich war bei Euerer Madame, ich habe ihr in's Gewissen geredet – Madame, habe ich gesagt, ich bin ein dummer unüberlegter Junge gewesen, und wenn man die Jugend erziehen will, so muß man gerecht sein und nicht den Unschuldigen strafen, und den Sünder auskneifen lassen. Hier steht er, der Sünder, geben Sie ihm eine Ohrfeige, Madame, und haben Sie die Großmut, Ediths Strafe zurückzunehmen. –

148 Das hat sie sehr gepackt, und nach einigen weitern Unterhandlungen hat sie sich entschlossen, Edith nicht aus der Schule zu weisen.«

»O Wolf,« rief ich aus, »du bist ein Teufelskerl!«

Fast scheint es, als habe ich meinen Bruder Felix vergessen; dies ist jedoch nicht der Fall. Er hatte sein Freiwilligenjahr abgedient, und der Vater wünschte, er möchte beim Militär bleiben; Felix sagte kein Wort, sondern verschwand. Er hinterließ einen Brief an die Eltern, daß er nach Paris gehe und erst als fertiger Künstler zurückkehre.

Dies war ein großer, uns alle tief treffender Kummer, besonders weil Vater auf einmal sehr leidend wurde. Er hatte es gern, wenn wir des Abends um ihn herum saßen und plauderten; er saß in seinem hohen Lehnstuhl, hörte zu, nickte und blies Wölkchen aus seiner Cigarre. Eines Abends sagte er plötzlich: »Es sind bald zwei Jahre, daß uns Felix verlassen.«

149 Der Mutter liefen die Thränen über die Wangen. Der Vater fuhr fort:

»Kinder, Krankheit ist schrecklich, sie verursacht nicht nur Qualen, sie verändert die ganze Sinnesart des Menschen. Ich war leichtlebig und frohgemut und ließ Euch wachsen und redete nicht viel drein. Jetzt aber, da ich krank bin, läßt mich Tag und Nacht der Gedanken nicht ruhen: was wird aus Felix und Wolf werden?«

Da wurde die Mutter mit einem Mal leichenblaß und rief:

»Das ist der Felix, der die Treppe herauf kommt.«

Karl riß die Thüre auf, und Felix trat herein.

Als er den Vater sah, erschrak er sehr und ließ seine Mappe fallen.

Der Vater aber richtete sich hoch auf und deutete auf diese Mappe, und seine Hände zitterten und es war, als könne er's nicht erwarten.

150 Da öffnete Felix die Mappe und breitete Blatt für Blatt auf dem Bett aus.

Und Vaters Gesicht wurde plötzlich himmlisch verklärt:

»Liebe,« rief er und nahm die Hand der Mutter, »er kann was! – wenn er auch einen andern Weg genommen, als sein Vater – ich sterbe ruhig – Gott sei Dank!«

Nach unsres lieben Vaters Tod nahm Felix seinen Platz im Atelier ein; er war gar nicht mehr der unzufriedene verschlossene Mensch von früher; er trug die Mutter auf den Händen und erfüllte mir jeden Wunsch.

Dagegen nahm sich Bruder Karl ganz energisch meiner Erziehung an, und obgleich er beständig Bücher über Wilde schrieb, sollte ich so zivilisiert wie möglich sein. Zum Überfluß fiel ihm eines Tages ein Brief Edith's in die Hände, in welchem stand:

Da wir nun fünfzehn Jahre geworden, kann es uns jeden Tag passieren, daß wir zum ersten 151 Mal lieben. Ich lasse es ruhig an mich herankommen, denn ich trage mein Ideal im Kopf. Er trägt einen dunklen Vollbart, mischt sich nie in die einfältigen Unterhaltungen der Gesellschaft, sondern lehnt gedankenversunken am Thürpfosten. Ich komme in einer Stunde

Deine Edith.

Als sie kam, lehnte der gottlose Karl fortwährend am Thürpfosten, den Vollbart hatte er von Natur und ein verächtliches Gesicht schnitt er außerdem dazu. Ich saß wie auf Kohlen, Edith könnte Karls Bosheit entdecken.

»Hören Sie mal, Edith,« sagte er plötzlich, »wie lange muß ich noch am Thürpfosten lehnen, um endlich von Ihnen als Ideal entdeckt zu werden?«

»O,« rief Edith aus, »das ist schlecht von Ihnen, Herr Doktor, meine Briefe an Gunhild zu lesen!«

»Ich thue das nur, um meine Schwester zu erziehen,« sagte Karl, »so lange sie nicht lernt, ihre Briefe einzuschließen, so lange lese ich sie ihr alle vom Fleck weg, wo sie liegen.«

152 »Dann kann ich nie nie mehr an meine Freundin schreiben,« erklärte Edith.

»Haben Sie denn so große Geheimnisse, Edithchen?« fragte der Bruder.

»Sie sollen mich nicht Edithchen nennen,« flammte sie auf, »sonst, wenn es noch einmal geschieht, dann weiß ich was ich thu' – dann nenne ich Sie Karlchen.«

Mein ungezogener Bruder ließ sich rittlings auf das Sofa fallen:

»Haben Sie Erbarmen, Edith,« rief er, »aber so hart ist noch kein Sterblicher gestraft worden, das wirft mich nieder!«

Kurz Karl brachte es mit seinen fortgesetzten Neckereien dahin, daß Edith ihn von ganzer Seele haßte und eines Tages erklärte, unser Haus nicht mehr betreten zu wollen.

Ich war außer mir, und machte Karl die lebhaftesten Vorwürfe, als plötzlich der Sache dadurch ein Ende gemacht wurde, daß ich in's Institut kam.

153 Im ersten Jahr war die Correspondenz zwischen Edith und mir eine sehr lebhafte; sie teilte mir unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit mit, sie wolle Ärztin werden und nach Amerika auswandern, denn mein Bruder habe ihr sowohl die Männer als Europa verleidet. Im zweiten Jahr meiner Pensionszeit, zeigte sich Edith plötzlich schreibfaul, und wenn sie einmal schrieb, so fehlte ihr gänzlich der alte Schwung, und sie kam nicht über drei kümmerliche Seiten hinaus.

Plötzlich eines Tages erlebte ich das Wunderbarste, was mir überhaupt in meinem Leben vorgekommen: es kam eine Zeichnung von Felix, die ein junges Paar vorstellte – nämlich:

Karl und Edith
als Verlobte.

 


 


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