Hermine Villinger
Schulmädelgeschichten
Hermine Villinger

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Stasia

Pelka und Fella sind Zwillinge, ich bin ein Jahr jünger, und jedermann hält uns für Drillinge.

Da Mama Fella immer ma petite beauté nannte, sagte ich ihr einmal in das Ohr: Aber Mama, hast du noch nicht bemerkt, Fella ist dumm – worauf Mama erklärte: Das macht nichts, alle Beautés sind dumm.

An einem Ballabend, an dem wir einen Augenblick erscheinen durften, machte ich die plötzliche Entdeckung, daß Mama auch eine Schönheit war. Ich weinte laut; Papa nahm mich auf die Kniee, alle Leute küßten mich und fragten nach meinem Kummer; ich sagte ihn nicht, ich wußte von diesem Augenblick an, 112 weshalb wir immerfort in Verlegenheit kamen, so nannten wir's, wenn Mama weinte und sterben wollte, und Papa sich nicht zu helfen wußte vor Rechnungen, und sich einen Sisyphos nannte, und zuletzt fuhren wir über Hals und Kopf zur Großmutter auf's Gut. Hier blieben wir so lange, bis Mama sagte, sie sterbe vor Langerweile, dann zogen wir schnell in eine neue Stadt.

Wir waren schon in Paris, London, Petersburg, Berlin, Wien und München.

Am besten gefiel es uns bei der Großmutter in Holland. Sie ist immer wie aus dem Wasser gezogen sauber und hat drei Kinnchen auf einander. Papa ist ihr einziger Sohn; ich habe vergessen zu sagen, daß ich bei der Großmutter in Holland geboren bin, am 7. Juni 1865; Mama's Heimat ist in Posen; wir haben dort ein Gut und hatten oft so viele Gäste, daß des Abends die Betten verlost werden mußten.

Miß war unsre Engländerin, indeß ich liebte sie nicht; sie nannte alles, was Mama that und 113 sagte shocking, und Mama war doch die Güte en personne; sie konnte keinen Armen sehen, ohne ihm etwas zu schenken. Großmutter schenkte auch viel, aber dann meistens Körbe mit Brot und Butter und Holz und Kohlen und andern Lebensmitteln; ich bin oft mit ihr bei den Armen gewesen, denen wenigstens der liebe Gott für all' ihr Unglück eine Masse Kinderchen geschenkt.

Wenn wir ausfuhren, nahm ich gewöhnlich ein Taschentuch für Mama mit, weßhalb sie mich Mütterchen nannte; ich nannte sie Mäuschen.

Wir hatten einen großen hellblonden Hund namens Minka; er war so gescheit, daß wenn ich zu ihm sagte: Minka, wir sind in Verlegenheit – weinte er laut. Ich liebte ihn unaussprechlich, noch mehr aber Mopsi, da er entsetzlich dick und immerfort tief unglücklich war, mit tausend Falten im Gesicht; unmöglich, ihn ohne Rührung anzusehen. Miß liebte ihn nicht; sie war so kleinlich, sich sogar zu schämen, mit Mopsi auf der Straße zu gehen, weil er wackelte.

114 Eines Tages kam sie sehr blaß hereingestürzt mit der Nachricht, es sei ein Mann im Vorzimmer und wolle uns pfänden. Papa war nicht zu Hause, und Mama fiel in Ohnmacht. Wir wußten nicht was pfänden ist, aber wir sind zu dem Mann hinausgelaufen und haben ihn gebeten, er möchte so gut sein und uns pfänden, und Papa und Mama nichts thun.

Der Mann sagte, er wolle später wiederkommen, und Mama rief uns zu sich und kniete auf ihrem Betstuhl und sagte: Meine armen Kinder, betet mit mir, damit ich sterbe, denn ich bin nur zu euerm Unglück auf der Welt; unzählige Male habe ich schon zu Gott gefleht, er möchte mich bessern; es ist alles umsonst; man sollte einem Menschen, der keine Ordnung hat, einen Mühlstein um den Hals hängen, und in den Meeresgrund versenken. –

Wir weinten alle bitterlich und beteten mit Mama, und ich hatte eine fürchterliche Angst, der liebe Gott möchte uns erhören und Mama 115 sterben lassen, was aber zum Glück nicht geschah, denn am andern Tag ritt sie wieder auf ihrem schönen Schimmel wie eine Sonne zum Thor hinaus, und es war alles wieder gut.

Ich hatte einen Lieblingsgedanken, der eine Insel war mit vielen hundert Tieren; da wäre ich ganz still gesessen und hätte für sie gesorgt, und mich mit ihnen unterhalten.

Auch Pelka hatte einen Lieblingsgedanken; sie legte ein Brett über zwei Stühle und tanzte Seil, bald den linken. bald den rechten Fuß hinausstreckend. Eines Tages war sie verschwunden. Wir waren damals auf dem Gut in Posen, und in dem Dorf war eine Seiltänzergesellschaft; immer machte sich Pelka davon um auf dem kleinen Platz die Vorstellung anzusehen. Ich hörte sie oft sagen: Wenn mich doch nur der Herr Knie einmal stehlen wollte!

Als sie verschwunden war, sagte ich zu Papa: Gewiß hat sie sich vom Herrn Knie stehlen lassen!

Wir sind hingegangen vor seine Bude. Er 116 und ein paar Frauen und Männer luden eben ihre Sachen auf einen Wagen, und mitten in der fürchterlichsten Unordnung stand Pelka mit einem Bündelchen. Papa hat sie müssen auf den Arm nehmen, sie wäre nicht gegangen.

Fella hatte eine Passion für Puppen; sie hatten alle eine blonde Locke rechts und links, und nervöses Kopfweh – ganz wie Fräulein Wolverbeck, Großmutters Wirtschafterin. Wenn Papa uns Geschichten erzählte von wunderhübschen Prinzessinnen, sagte Fella jedesmal: Aber nicht wahr, sie hatte rechts und links eine blonde Locke und nervöses Kopfweh?

Sie war überhaupt unbeschreiblich kindisch und fragte sogar einmal Papa: Wer sind denn unsere Eltern gewesen, als ihr noch klein waret?

Ein andres Mal, als man sie fragte, was sie Schönes in der Schweiz gesehen – hohe Berge, große Seen, schöne Thäler? schüttelte sie immerfort den Kopf und wußte gar nichts; als 117 aber Großmutter sagte: »Ja, was hast du denn gesehen?« antwortete sie: »Ein Vögelchen.«

Ich weiß nicht mehr war es in London oder Wien, als ich Papa fragte, weshalb er denn so betrübt sei, bei den vielen Fêten. Er sagte:

Weil ich nicht »nein« sagen kann; siehst du, mein Kind, das ist das Traurigste auf der Welt, ein Mensch, der nicht nein sagen kann. –

Ich riet Papa, es einmal zu versuchen, und als Mama herein kam, und von einem wundervollen Collier sprach, das sie auf den Abend haben müsse, schaute ich Papa an und nickte ihm zu, aber er brachte es nicht fertig. Da wollte ich ihm helfen und sagte:

»Nein, Mäuschen, du mußt nicht immer neue Colliers haben wollen, sonst kommen wir wieder in Verlegenheit. –«

Da hat Mama schrecklich geweint und gesagt:

O mein Gott, mein Gott, so etwas muß ich mir von meinen Kindern sagen lassen, ich unnützes erbarmungswürdiges Geschöpf! –

118 Und sie ist wieder sehr krank geworden mit Fieber und wollte nichts essen, und ich hörte Miß zur Jungfer sagen: Die Gnädige ist wieder »hyper« und als ich Papa nach der Bedeutung dieses Wortes fragte, und ob es eine sehr schmerzhafte Krankheit sei, sagte er, es ist keine Krankheit, aber wer damit behaftet ist, ist sehr zu beklagen.

Am andern Abend aber gingen Papa und Mama wieder sehr vergnügt in Gesellschaft und Mama küßte uns zum Abschied und trug das schönste Collier der Welt.

Damals in London war Miß sehr glücklich wegen ihrer vielen relations, und wenn wir nicht Minka und Mopsi gehabt hätten, wären wir fast immer allein gewesen. Manchmal bin ich in der Verzweiflung hingegangen und habe Mama eine Cigarette geraubt und sie heimlich geraucht, was zu meinem höchsten Leidenschaften gehörte. Draußen war fast immer Nebel, und die Sonne 119 sah in London wie eine große blutige Kugel aus, die sich am Himmel verirrt hat.

Eines Tages erzählte uns Miß, es sei alles aus, die Großmutter habe geschrieben, sie thue nichts mehr für uns, sie habe es nun genug.

Sie kann uns doch nicht verhungern lassen, rief Pelka, die immer den größten Appetit hatte.

Als wir allein waren, sagte ich ihnen, ich wolle Minka und Mopsi mitnehmen und zur Großmutter nach Holland gehen, und sie bitten, Papa und Mama Geld zu schicken.

Da schlug Fella in die Hände und rief: Ich gehe auch mit! und Pelka entschloß sich ebenfalls, und wir holten unsere Mäntel und Hüte und verließen mit Minka und Mopsi das Haus.

Wir wollten eine Droschke suchen, aber der Nebel war so dicht, daß wir gar nichts sahen, und uns nur an den Häusern weiter tasten konnten; auch fing Mopsi kläglich an zu heulen, und wollte nicht vorwärts, daß ich ihn tragen 120 mußte. Wir gingen, ich weiß nicht wie lang, eng zusammengedrückt und weinten alle drei ganz leise, bis ein Herr über uns stolperte.

Ich sagte: »Pardon, mein Herr, wissen Sie nicht, wo eine Droschke ist?«

Er rief: »Mein Gott sind Sie denn ganz allein, kleines Volk?«

»Ja mein Herr,« antwortete ich, »wir wollen zur Großmutter nach Holland.«

»Und Ihre Eltern, wo sind sie?«

»Zu Hause; sie wissen nichts von unserm Vorhaben, es soll eine Überraschung sein.«

Der Herr lachte sehr freundlich und fragte nach unserer Wohnung.

Ich nannte Oxford Street; die Nummer wußte ich nicht –

Da nahm der Herr Pelka und Fella bei der Hand und sagte, er wolle uns zu seiner Frau und seinen Kindern bringen.

Es war nicht weit dahin, und nachdem wir Missis John vorgestellt worden waren, erhielten 121 wir sofort Butterbrod und jam. Ich schnitt den Kindern Pferde und Kühe aus Papier, und wir waren sehr vergnügt, als plötzlich die Thür aufging, und Papa und Mama hereintraten. Unsere Freude war unaussprechlich.

Im Wagen fragte Papa:

»Nun Kinder, sagt einmal, was ist euch eigentlich eingefallen?«

Ich sagte: »Wir haben zur Großmutter nach Holland wollen.«

»Zu Fräulein Wolverbeck,« rief Fella.

»Weil es dort keine Verlegenheit giebt,« sagte Pelka.

Darauf flüsterte Mama in Papa's Ohr, daß ich es hörte: Es ist eine Flucht in das gelobte Land der Ordnung.

Am andern Tage reisten wir nach Holland. Da kamen wir wieder des Morgens um acht zum Frühstück und die Großmutter saß neben dem Samovar, und Fräulein Wolverbeck schnitt 122 Schinken, und Papa kam herein und rieb sich die Hände und sagte all Augenblick: »Kinderchen, Kinderchen, ich bin wieder Landwirt!«

Minka und Mopsi und ich, wir waren jeden freien Augenblick im Stall bei den herrlichen Kühen und Pferden, oder tollten uns auf den grünen Wiesen herum, daß Mopsi ganz schlank wurde, worüber niemand glücklicher war als ich, denn Miß sann längst auf nichts andres als Mopsi wegen seiner Dicke umbringen zu lassen, so daß ich ihn nicht mehr aus den Augen ließ, und des Nachts mußte er unter meinem Bett schlafen. Großmutter erlaubte es, denn sie war unaussprechlich gut, nur sah sie zuweilen Mama so sehr strenge an, und darum lebte ich in beständiger Angst, sie habe Mama nicht lieb, weil sie nie sehr nützlich war, und Großmutter die Ordnung über alles stellte.

Einmal passierte es, daß sich Mama müde gelesen und mit uns Ball spielte im Saal, und ihr Ball flog auf das alte wunderschöne 123 Meißnertintenfaß und zertrümmerte all' die vielen feinen Blümchen, Mama hatte es gar nicht bemerkt; als sie gegangen war, zeigte ich Pelka und Fella das Unglück und erklärte, daß mir das zu groß sei, um es allein auf mich zu nehmen. Da sind wir übereingekommen der Großmutter zu sagen, wir hätten es alle drei gethan und sind weinend vor Angst zu ihr hinüber gegangen und haben es ihr gestanden.

»Wie, alle drei wollt ihr den Schaden angerichtet haben,« sagte die Großmutter, »wie ist denn das zugegangen?«

Ich sagte: »Von jeder von uns flog der Ball nach dem Tintenfaß.«

Großmutter fragte: »Ist nicht noch ein vierter Ball dagewesen?«

»Ja,« sagte ich, »Mama's Ball, aber der flog ganz wo anders hin.«

»Nun,« sagte die Großmutter, »wenn auch Mama's Ball hingeflogen wäre, eine Mama 124 zankt man nicht, nur Kinder zankt man, wenn sie unvorsichtig sind.«

Da sind wir alle drei über die Großmutter hergefallen und haben sie fast erdrückt vor Liebe.

Dann kam die Zeit, wo Mama wieder den ganzen Tag rauchte und gähnte, und ihr kein Buch mehr gefallen wollte, und ich sah es kommen, daß wir wieder irgend wo hin zogen, und das alte Unglück von vorne anfing.

Darum, als Mama eines Abends in unser Schlafzimmer kam, um uns gute Nacht zu sagen, habe ich sie gebeten, sich an mein Bett zu setzen, ich wolle ihr etwas sagen.

Mama hat die Cigarette unter das Fenster gelegt und sehr gelacht und gemeint:

Mütterchen will mich gewiß wieder einmal ausschelten!

Ja, liebes Mäuschen, habe ich gesagt und fiel ihr um den Hals, du sollst dich um Gotteswillen nicht langweilen, sonst müssen wir wieder fort, und das wäre schrecklich.

125 Ach Stasia, mein Kind, sagte Mama, du hast recht, ich bin ein Ungeheuer!

Da sind Pelka und Fella aus ihren Betten gestürzt, und Mama hat uns alle drei umfaßt und geküßt und nannte uns ihren dreifachen Segen, und wir sollten sie immer halten, wenn der böse Geist über sie käme, dann ziehe er fort.

In jener Nacht träumte ich, der böse Feind käme in Gestalt einer feurigen Kugel und wolle mich erwürgen; ich hörte Mopsi bellen, jammervoll, dicht an meinem Ohr und wollte die Augen öffnen und konnte doch nicht und wollte Mopsi weg stoßen, da er mir den Atem nahm und fuhr ihm in's Maul zwischen die Zähne; das that weh, und ich fuhr auf. Da sah ich in helle Flammen, die laut knisterten und sprang auf und riß Pelka und Fella aus den Betten, und wir schrieen und eilten zur Thür hinaus und riefen nach Papa und Mama, bis sie kamen.

Auf einmal fiel mir ein: Wo ist Mopsi – Mopsi der uns gerettet hat!

126 Ich wollte hinüber in das brennende Zimmer, wo die Leute löschten, aber Mama hielt mich fest.

Am andern Morgen wußte ich's, Mopsi war verbrannt, und ich wollte nichts mehr essen und nie mehr aufstehen und am liebsten sterben.

Da hörte ich die Großmutter im Nebenzimmer zu Papa sagen, der Brand sei durch eine Cigarre entstanden, die unter dem Fenster gelegen.

In diesem Augenblick vergaß ich Mopsi, und daß ich sterben wollte, und alles auf der Welt; ich wußte nur, wenn Großmutter dies von Mama glaubte, so hatte sie sie vollends kein bißchen mehr lieb.

Und ich bin aus dem Bett gesprungen, in's Zimmer nebenan und habe gesagt:

Verzeihe mir, Großmutter, ich bin's gewesen, ich habe wieder eine Cigarette geraucht! –

Da ist plötzlich leise die Thüre aufgegangen, und Mama ist dagestanden, weiß wie der Schnee, und wir haben auf einmal alle angefangen zu 127 weinen, ohne daß wir eigentlich selbst recht wußten weshalb.

Nach einiger Zeit rief uns Mama zu sich und sagte:

Liebe Kinder, Großmutter und ich, wir sind sehr gute Freunde geworden und haben miteinander ernstlich erwogen, was wohl als Bestes für euere Erziehung geschehen könne. Da sind wir überein gekommen, daß alle schönen und glänzenden Eigenschaften der Welt nichts taugen, wenn nicht die Ordnung in unserm Leben oben ansteht. So soll denn eine jede von euch in ein andres Institut kommen, damit ja keine die Gewohnheit annehme, sich auf die andre zu verlassen, und eines Tages drei völlig selbständige und ordnungsliebende Mädchen zu uns zurückkehren. Um diesen Preis, Kinder, will ich geduldig den Schmerz unserer Trennung ertragen.

Und stolz schließe ich meine Lebensgeschichte mit diesen klugen Worten unserer Mama.

 


 


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