Hermine Villinger
Schulmädelgeschichten
Hermine Villinger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Mathilde

Wir sind acht Söhne und eine Tochter, alle auf Schloß Wartegg in Tirol geboren; mein Geburtstag ist am 29. März 1869. Mademoiselle hat schon die Mutter erzogen, nun erzieht sie mich, aber sie ist sehr empört über den Vater, der sich nichts daraus macht, zu jeder Zeit unsere Stunden zu unterbrechen. Dann klopft mir das Herz vor Freude, wenn ich seinen Tritt höre, die Thüre fliegt auf, und der Vater tritt herein:

»Haben's Dich wieder eingesperrt, Thilderl, bei dem herrlichen Wetter.«

»Herr Graf,« sagt Mademoiselle, »wir sind mitten in den Verbes –«

18 »Ach was, draußen scheint die Sonne, das ist gesünder als alle Verbes der Welt!«

Und dann klopft der Vater den Hofmeister mit Armin und Rudolph heraus, die Bonne kommt angestürzt mit Jeanerl und Fritzl, und die Kinderfrau mit den Zwillingen, denn alle will der Vater um sich haben; Mademoiselle aber ruft die Mutter zu Hülfe, und dann kommt sie, und der Vater sagt:

»Schau, noch diesmal laß mir den Willen, dann soll's gewiß nicht mehr geschehen.«

Und dann geschieht's wieder am ersten schönen Tag.

Oder auch Mademoiselle giebt mir Clavierstunden, dann lacht sie der Vater aus, schiebt sie vom Clavier weg und fängt an zu spielen und spielt so wunderschön, daß Mademoiselle selber nicht mehr böse sein kann, und ihn bewundern muß.

Dann auch ziehen wir mit dem Malerkasten und allen Kindern und Hunden weit in die 19 Gegend, und der Vater nimmt den breiten glitzernden Inn auf, der durch das Thal fließt, oder die alten Schlösser und Burgen, oder die Alpen in der Ferne, denn alles kann er, der Vater!

Dabei erzählt er uns wundervolle Geschichten von alten Geschlechtern, die im Innthal gehaust, und von unsern Vorfahren und der alten Burg Wartegg, von der noch im Park der Turm übrig ist; aber Niemand darf ihn betreten wegen der zerfallenen Treppe.

Ist eines der Kinder unartig und muß gestraft werden, macht sich der Vater sogleich aus dem Staube, denn die Mutter erzieht uns, und das ist sehr schwer, weil die Buben kaum zu halten sind, und der Hofmeister am liebsten selbst dumme Streiche macht. Die Mutter hätte ihn schon oft gerne weggeschickt, aber dann bittet der Vater immer wieder so schön für ihn und sagt:

»Geh, laß ihn doch, ich mag ihn so gut leiden.«

20 Oder es kommt Besuch, und dann ist's vollends aus mit dem Lernen, die lustigen Onkels fahren wie der Blitz in's Schloßthor herein, und Tante Kitty kommt angeritten, und dann ist's eine Hetz auf dem Schloß, und der Vater studiert uns kleine französische Theaterstückchen ein, die er selbst gedichtet hat und malt die Coulissen, und wir haben Versenkungen und eine richtige Fliegmaschine, in der ich schon hundert Mal als Fee vom Himmel geflogen bin, was mir die liebste Beschäftigung auf der Welt war.

Sind die Buben zehn Jahre alt, kommen sie nach Wien ins Kadettenhaus.

Zuerst hatte die Mutter Adolph und Pepi hingebracht, dann kam Armin an die Reihe; er kann dem Vater alle Walzer nachspielen, und es ist wundervoll, wenn sie vierhändig phantasieren, da muß man gleich alles stehen und liegen lassen und tanzen.

Ich habe gehört, wie der Vater die Mutter bat, noch ein Jahr mit Armin zu warten.

21 Sie sagte: Du weißt, wie schwer es Adolf büßen muß, daß wir ihn zu lange behielten: um drei Jahre ist er hinter seinen Kameraden zurück.

Aber ich bitte, was liegt daran, sagte der Vater.

Adolf hat es mir zum Vorwurf gemacht, sagte die Mutter, und das will ich nicht ein zweites Mal erleben.

Tante Kitty war wütend, als sie hörte, daß Armin ins Kadettenhaus kommt; sie rauchte, daß sie wie in einer Wolke saß.

Also 's muß auch in den Kasten, das arme Buberl, sagte sie, der könnt ja 's reinste Mozartl werden –

»Ich bitt' dich,« rief der Vater, »ein Sohn aus unserm Haus und Künstler!«

»Freilich, freilich,« rief die Tante,« man schämt sich, die schöne Gottesgab auszubilden und wird lieber ein langweiliger Kerl, weil's halt standesgemäß ist.« –

»Wie kannst Du so vor dem Thilderl reden,« sagte die Mutter.

22 »Ja, gerad vor dem Thilderl,« rief die Tante, »komm her Kind, schau mich an, schau Dir die verrückte Tante Kitty an; sie hat eine Stimme gehabt so schön, daß sie hätte können die Welt damit erobern – aber nein, sie hat müssen ihren Mann heiraten, der noch dazu der langweiligste war unter die Sonne, und schau, so lang sie lebt, hat's nicht aufgehört in ihrem Herzen zu klagen.« –

»Hör' auf, Du bist zu fad,« rief der Vater, und die Mutter legte Tante Kitty die Hand auf den Mund:

»Unsere Kinder sind in den Gesinnungen ihrer Eltern erzogen, sie wollen nichts anderes als uns Freude machen, nicht wahr, Thilderl?«

Ich sagte ja und fing an zu weinen, worauf mich Tante Kitty küßte und davon ritt.

Des Abends beim Speisen sagte die Mutter: »Armin, morgen fahren wir nach Wien, ich hoffe, Du zeigst Dich standhaft.« –

Da hat er laut aufgeschrieen, und ist dem 23 Vater um den Hals gefallen und hat sich angeklammert.

»Schickt mich nicht fort,« hat er geschrieen, »schickt mich nicht fort! –«

Der Vater machte sich schnell los und ging davon; Mademoiselle wollte streng aussehen und schnitt die wunderlichsten Grimassen; der Hofmeister machte es wie der Vater, und wir Kinder und Hunde heulten alle zusammen.

Es war schon dunkel, sah ich Armin mit einer Eisenstange das Schloß verlassen, und in den Park gehen; ich bin ihm nachgegangen; er ist im Turm verschwunden, und die verbotene Treppe hinauf gestiegen, und ich auch; oft fehlten ganze Stufen, und bei jedem Tritt flog Staub auf; oben war's so dunkel, daß ich in eine Ecke gelangen konnte, ohne daß mich Armin sah. Auf einmal that er mit seiner Eisenstange ein paar Stöße, und dann gab's einen dumpfen Krach und viel Staub. Armin rief: »So jetzt ist die Treppe weg, und niemand kann mich holen!« –

24 Da habe ich im Dunklen nach ihm gesucht. »Armin, Armin, ich bin bei dir!«–

Zuerst freute er sich sehr, und wir setzten uns in eine Ecke und hielten uns bei den Händen. Auf einmal weinte er:

»Jetzt habe ich dich in's Unglück gebracht, Thilderl, jetzt mußt Du am End' mit mir verhungern!« –

Ich sagte: »Wir wollen rufen, bis man uns hört!«

Aber das Fenster war zu hoch, wir konnten es nicht erreichen und mußten viele Steine herbeischleppen, auf die wir stiegen. Dann riefen wir laut in die Nacht, und es war stockfinster, und niemand hörte uns, und oben raschelte es von Fledermäusen, die pfiffen.

Und ich fragte Armin:

»Du hättest halt lieber mögen ein Mozartl werden?«

»Viel tausend Mal lieber,« sagte er.

Da habe ich ihm gestanden, daß ich in Wien 25 einmal ein wundervolles Ballet gesehen, und von dem Augenblick an nichts andres mehr gewollt, als so herum zu fliegen im Leben, auf den Fußspitzen, und aus lauter Duft.

Und ich sagte Armin, daß ich nun aber wisse, dies war nicht standesgemäß, und darum dürfe er halt kein Mozartl werden, und ich keine Ballet-Fee. Aber er mußte mir versprechen, daß, wenn ich auch einmal wie Tante Kitty, einen langweiligen Mann heiraten mußte, er alle Tage komme, um mich zu unterhalten. Endlich sahen wir einen roten Schein vom Schloß her und dachten, daß sie kamen, uns zu suchen. Aber bald war der Schein fort und tauchte wo anders auf, daß wir sahen, sie waren weit weit weg. Wir riefen und schrieen, und ich hätte nie geglaubt, daß eine Nacht so lang sein könne, und das Dunkle so fürchterlich.

Aber Armin ging nicht vom Fenster weg und tröstete mich.

»Du wirst schon sehen,« sagte er, »Geßler 26 findet uns, er ist der klügste von allen Hunden, er findet uns gewiß!«

Und richtig mit einem Mal hörten wir's bellen, und er kam näher und Armin schrie: »Geßler, Geßler, mein kluges Tier!«

Da war er unten und konnte nicht herauf und heulte, und dann kamen die andern Hunde, und es war ein entsetzlicher Spektakel, und dauerte nicht lang, da wurde es hell zwischen den Bäumen, daß der ganze Wald wie in Brand stand, und dann kamen sie alle, die Brüder, der Vater, die Mutter, die Mademoiselle, der Doktor, die Dienerschaft, und die Leute aus dem Dorf, und sie trugen brennende Holzspähne, daß es hell war wie am Tag, und schrieen und riefen, und wir beugten uns aus dem Fenster und winkten und schrien auch. Der Vater rief nach einer Leiter, worauf ein paar Bauern eine brachten, und legten sie an, und der Vater stieg hinauf und holte mich, und Armin, der klettert wie eine Katze, rutschte wie der Blitz an der 27 Seite der Leiter herunter, und die Mutter fing ihn auf, und der Vater trug mich den ganzen Weg nach Haus.

Und nach zwei Tagen ist Armin mit der Mutter nach Wien gereist und war beim Abschied standhaft wie ein Mann.

Als ich kurz darauf bei der Prüfung, die Mademoiselle mit mir vornahm, neunzehn Fehler im Deutschen hatte, sagte mir die Mutter auf einem Spaziergang, nun sei auch meine Zeit gekommen, ich müsse aber recht vernünftig sein, denn Mademoiselle's Lehrmethode sei eine altmodische, was man ihr aber nicht sagen dürfe, weil es sie sonst kränke, und darum sei es die höchste Zeit, daß ich in's Institut komme.

Ich habe mir am Vorabend meiner Abreise einen Ball ausgebeten, und der Vater mußte alle seine herrlichen Walzer spielen, und zur Française engagierte ich die Mutter, und der Doktor mußte Mademoiselle engagieren, und das war wundervoll, denn der Doktor ist sehr 28 jung, und Mademoiselle sehr alt, aber sie tanzt wie eine Fee, und er wie ein Bär und machte Sprünge zum totlachen, was ein großes Glück für uns alle war, denn dadurch hatte niemand Zeit an den Abschied zu denken.

Am andern Morgen in der Frühe ist die Mutter in aller Stille mit mir abgereist, nicht einmal der Vater wußte es; aber ich habe ihm ein paar Blumen mit einem Briefchen zurückgelassen, in dem ich's ihm recht an's Herz gelegt, standhaft zu sein, und alle Tage an mich zu denken.

 


 


 << zurück weiter >>