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XXI

Der Frühling regierte im Moselland, es war eine Pracht, die Obstbäume zu sehen. Links und rechts des Flusses blühten sie wie Sträuße, rosa und weiß. Ein Aufatmen ging durch die Natur, der der starke eisige Winter eine Kappe übergezogen hatte, unter der sie schier erstickt war. Jetzt atmete sie auf, und mit ihr befreit atmeten die Menschen. Aber nicht nur froh über die wärmende Luft und den Sonnenschein, man war auch einer Last ledig geworden, deren Schwere man jetzt erst, da man sie los war, so recht ermessen konnte. Nun konnte man doch ruhig wieder seines Weges gehen, der Wanderer hatte nicht nötig, angstvoll zu laufen, wenn's im Gebüsch raschelte, die Juden konnten zu Markt ziehen ohne eine Eskorte von Gendarmen, die Bauern brauchten nachts nicht ihre Ställe zu verrammeln, die Einwohnerwehren nicht Pulver und Blei zu verknallen; die Dörfer lagen wieder dunkel in friedlichem Schlaf, und die Städtchen schlossen ihre Tore nicht schon bei Dämmerschein. Gott sei Dank, der Bückler saß gefangen zu Mainz und der Nikolai zu Koblenz!

Die Geliebte des Bückler, die Julie Bläsius, hatte es versucht, ihn zu befreien, aber es war ihr nicht geglückt. Als er transportiert wurde nach Mainz, begleitet von einer ganzen Kompanie Fußsoldaten und noch von berittenen Chasseurs dazu, waren viele Leute zusammengelaufen, um zu gaffen. Da machte sich an den Sergeantmajor, der den Transport kommandierte, ein Frauenzimmer heran, das war hübsch und so freundlich, daß sich der Sergeantmajor schon den Bart strich und sich etwas versprach. Aber als sie ihm drei Karolin anbot, wenn er ihr erlauben würde, ein Wörtchen mit dem Bückler zu parlieren, da witterte er etwas. Keine Beteuerungen halfen und auch kein Lamentieren, er nahm die freundliche Schöne fest, und Julchen Bläsius kam auf den gleichen Wagen mit ihrem Hannes.

Auch andere wurden nach und nach aufgegriffen, binnen einer Woche schon allein sieben. Es war, als ob die Mitglieder der Bande den Kopf verloren hätten. Und eine Mutlosigkeit war über sie gekommen: was nützte nun auch alles Leugnen und Wehren, wenn zu Mainz ihr Hauptmann saß, und die Richter, die so schlau waren und so auszuquetschen verstanden, ihm nach und nach einen Namen nach dem anderen abpreßten.

Johannes Bückler nannte seine Genossen alle und bekannte freimütig, welche Taten er mit ihnen begangen hatte. Ein ellenlanges Protokoll war aufzunehmen, die Untersuchung war von einer Weitläufigkeit ohne Grenzen. So viele Diebstähle, Straßenräubereien, Überfälle, Brände, Verbrechen aller Art. Und so viele Teilnehmer! Siebenundsechzig Angeklagte waren nun beisammen zu Mainz. Unter ihnen auch Weiber: Julie Bläsius, Buzliesen-Amie und noch ein paar Mädchen, die Liebchen des Bückler gewesen waren. Stöße von Akten wurden geschrieben, sie wurden gedruckt; jedes kleinste Details mußte berücksichtigt werden. Ein Spezialgericht war eingesetzt worden. Seine Advokaten hatten dem reuigen und fleißig betenden Bückler geraten, die Gnade des Ersten Konsuls anzurufen.

Es würde sicherlich Herbst darüber werden, bis die Anklageakten verlesen werden konnten und ein Prozeß, auf den Tausende begierig wie auf ein Schauspiel warteten, zu Ende ging. Die Verhandlung sollte im Marmorsaal des ehemals kurfürstlichen Schlosses stattfinden. Das Rheinland harrte voller Ungeduld und fiebernder Neugier.

Zwei Mitglieder der Bande, Iltis-Jakob und der Schwarze Peter, die Bückler in seinen Aussagen besonders belastet hatte, waren aber noch nicht eingefangen. Der Hauptmann wußte auch nicht, wo diese beiden geblieben waren. Er schlug vor, man sollte über sie den Hans Bast einmal befragen, vielleicht wußte der Bescheid. Aber Hans Bast Nikolai wußte nichts über sie; er wußte über gar nichts Bescheid und über keinen.

Als man den Bruttig ihm gegenüberstellte, der zu Koblenz saß, kannte er den – ja, er hatte Fleisch bei ihm in Bertrich gekauft, zuweilen auch einen Schnaps getrunken –, aber er wußte nichts von einem Streit des Bruttig mit dem Händler Mungel. Wußte auch nicht, daß Bruttig sich gerühmt hatte, es sei ihm ganz gleich, ob er einen Kalbskopf abschnitte oder einen Menschenkopf.

»Betrunkenengeschwätz!« Hans Bast lächelte.

Dieses Geschwätz von dem Kalbskopf war es, das gegen den Bruttig zeugte. Jetzt bei dem allgemeinen Aufräumen hatte man ihn verhaftet. Der Ermordete in der Linnich hatte den Kopf nicht mehr aufgehabt, sondern neben sich liegen. Das würde dem Bruttig den Kopf kosten! Wieder lächelte Hans Bast.

Er saß nun schon seit Monaten im Militärgefängnis zu Koblenz. Es lag am Ende der Stadt, die dunklen fensterlosen Zellen waren an die Stadtmauer angebaut, und diese stieß wiederum an einen hohen, fast senkrechten Wall. Auf dem Wall patrouillierten immer zwei Schildwachen, bei Tag und bei Nacht, und hatten scharf geladen. Wochenlang hörte Hans Bast in der Nebenzelle, darin der Bruttig saß, schaben und bohren: aha, der Holzwurm schrappte! Auch wenn gegen das erste Morgendämmern eine Stille im Gebäude war wie die des Grabes, vernahm er ein Brechen und Bröckeln wie von Mauerwerk und ein vorsichtiges Flüstern. Der Bruttig mußte sich mit seinem Zellennachbarn auf der anderen Seite verständigt haben und mit dem zusammengelangt sein. Ob der Bruttig nun nicht auch versuchen würde, sich mit ihm ins Einverständnis zu setzen? Er brauchte nur an die sie trennende Wand zu klopfen, die Sprache verstanden sie ja alle.

Die Arme über der Brust verschränkt, lauschte Hans Bast auf seiner steinharten Pritsche, er hatte sich aufgesetzt, so konnte er bester hören. Wie die emsig schafften! Und so, wie sie nebenan unablässig kratzten und schabten und bohrten, Nächte um Nächte, durch Wochen und Wochen, so bohrte ein Gefühl in ihm, das ihm das Haupthaar grau machte und den schwarzen Bart mit vielem Silber durchsträhnte: sie hatten ihn alle vergessen! Sein Freund Bruttig, den er nicht verraten hatte, der fragte ihn nun nicht einmal: willst du mit? Ob er mitgemacht hätte, das wäre ja noch die Frage gewesen. Er war müde. Die Gefängnisluft, das stete Eingeschlossensein bekamen ihm nicht gut, er fühlte, die Kraft seiner Jahre war hin; nur die Kraft, sich äußerlich stark zu halten, hatte er noch. Die Freude wollte er ihnen doch nicht machen, daß er klein wurde. Den Gefängnisgeistlichen, der ihn besuchen wollte, wies er barsch ab: er brauchte keinen Pfaffen. Aus dem, was nach dem Tode kam, betete der ihn doch nicht los.

In einem schweren, stürmischen Regen, in dem die schwarze Walpurgisnacht sich gefiel, wagten Bruttig und noch zwei Arrestanten, die neben ihm in der Zelle gesessen hatten, die Flucht. Es brüllte und toste in der Luft und warf klappernd die Ziegeln vom Gefängnisdach herunter. Die Gefangenen hatten ein paar Steine aus der alten Mauer losgebrochen und sie tagsüber immer wieder geschickt eingefügt, nachts aber dahinter gegraben, gegraben. Durch das Loch waren sie nun ausgeschlüpft, zum Wall hinaufgekrochen, als die Schildwache gerade wechselte. Aber jenseits des Walles war ein wassergefüllter Graben, zwanzig Fuß tief, und das wußten sie nicht.

Hans Bast, der wie immer schlaflos horchte, hörte etwas plumpsen; gleich darauf hörte er Schüsse und verworrenes Geschrei. Er lächelte.

Man fischte den Bruttig heraus und brachte ihn wieder ein. Der eine Genosse war ersoffen, den anderen hatte die Patrouille erschossen. Und nun wurde des Bruttig Sache eiliger betrieben, man hatte weder Lust noch die Zeit mehr, einen so verwegenen Ausbrecher länger zu hüten. Er wurde zum Tode verurteilt und in die Mörderzelle gebracht.

Es wurde jetzt überhaupt nicht viel Federlesens gemacht. Der Erste Konsul hatte einen neuen Mann zum Generalkommissar der vier Departements ernannt, Jeanbon-St. André. Der besaß neben der Macht die Klugheit, sich selber persönlich um alles zu kümmern. Auch hielt er die Instruktionen, die er von Frankreich empfing, so geheim, daß er seine Briefe mit eigener Hand schrieb und sich keines Sekretärs bediente. Die vielen Bureaus wurden eingeschränkt. Lässigkeiten im Amt ahndete er unbarmherzig – er sprach von der »Schläfrigkeit deutscher Beamten« – und verschmähte es sogar nicht, die Beamten sich gegenseitig ausspionieren zu lassen. Und er begann auch sofort mit dem Bau einer großen Straße von Mainz bis Koblenz, die weitergeführt werden sollte die Mosel hinauf bis nach Trier. Neue, gut fahrbare Chausseen über die Eifel, an Stelle der alten gefährlichen Wege durch Walddickicht und entlegene Täler, würden es dem Gesindel nicht mehr so leicht machen, sich zu verbergen und über Postwagen und Reisende herzufallen.

Hans Bast erfuhr von der Hinrichtung des Bruttig. » Vor mir?« sagte er. Weiter sagte er nichts.

Der Sommer war gekommen, er spürte ihn nicht. Bleich, aber ganz ruhig saß er in seiner Zelle. Wenn er hätte ausbrechen wollen, so hätte er es damals mit dem Bruttig zusammen gut gekonnt, meinte der Schließer, die Zellen waren nur getrennt durch dünne Zwischenwände. So erließ man ihm die Fesseln, die man anderen Gefangenen anlegte, obgleich er dreifachen Mordes angeklagt war. Erstens: mit Bruttig zusammen des Mordes am Händler Mungel. Bruttig hatte so ausgesagt, freilich dann widerrufen, aber gesagt ist gesagt. Ferner war er angeklagt, den Besitzer der Üßmühle durchs Fenster erschossen zu haben. Die schwerwiegendste Bezichtigung war aber die, daß er es war, der den Kapitän d'Aubry von der französischen Besatzungsarmee in der Schlucht am Reiler Hals erstochen hatte.

Hans Bast leugnete. Bei der Anklage wegen Mungel und bei der Kronfrontierung mit Bruttig zuckte er die Achseln. Als ihm der Mord am Üßmüller vorgehalten wurde, lächelte er nur; es schien ihm nicht der Mühe wert zu sein, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Beim Verhör über den Mord an d'Aubry berief er sich auf den Friedensrichter von Lutzerath; der wußte, er war damals auf dem Reiler Hals wohl dabei gewesen und war doch nicht dabei gewesen. Er hatte den Wunsch, diesen Mann zu sprechen. Weiter keinen Wunsch. – –

Der Friedensrichter Adami fuhr nach Koblenz. Es war ein leuchtender Sommermorgen, als sein Chaischen an der Üßmühle vorbeirollte. Er hörte die Hühner laut gackern und die Tauben gurren – die Üßmüllerin fütterte die wohl schon? Er sah im Geist Maria, die junge Frau, auf dem Hofe stehen, vor ihr das bunte Hühnervolk, emsig die Körner pickend, und, um ihr dunkles Haupt flatternd, die weiße Wolke der Tauben. Und der junge Üßmüller stand in der Haustür und freute sich an dem schönen Bilde. Gott sei Dank, daß die beiden zusammengekommen waren, trotz allem! Sie hatten es nicht leicht, die Brüder waren uneins mit dem Martin; so lieb ihnen die Maria früher gewesen war, als Schwägerin mochten sie die Tochter des Angeklagten Hans Bast doch nicht. Die Brüder hatten sich nun endlich dahin geeinigt, daß sowohl der Hubert wie der Nikla auf den Hof des Schwiegervaters zogen; sie ließen den Martin mit seinem Weib allein in der Üßmühle sitzen, den Moselanerinnen war die ohnehin zu einsam gelegen und nicht sonnig genug. Der Brüder Teil am Vermögen blieb auf der Mühle stehen.

Adami hatte schon öfter einen Besuch bei dem jungen Paar gemacht, heute hatte er Scheu, einen von ihnen zu sprechen. Wenn die Maria wüßte, daß er morgen zu ihrem Vater ins Gefängnis trat! Das würde alles, was sich eben hatte mühsam beruhigen lassen, wieder aufwühlen in ihr. Ihr von Angst zu Angst, von Kummer zu Kummer gehetztes Gesicht war wieder runder geworden und jugendlich weicher. In dem Blick, mit dem sie ihren Mann ansah, keimte etwas von Glück. Er hatte das beobachtet – sollte er diesen Keim nun schon wieder vernichten?

»Voran, voran,« trieb er den Kutscher an, »fahr' rascher zu!«

Noch waren es die alten steinigen Landwege, auf denen man durchgerüttelt wurde bis ins Mark der Knochen; die Räder holperten, die Pferde quälten sich ab, aber man konnte doch wenigstens jetzt, unbehelligt von Wegelagerern, fahren. Hie und da entdeckte Adamis Auge Männer, die im blanken Feld oder auf einer Höhe abmaßen, absteckten und Stangen aufpflanzten. Was machten die da? Dann merkte er es: aha, die bezeichnten jetzt schon den Verlauf der großen Straße, die die Franzosen zu bauen unternahmen. Immerhin ein verdienstliches Werk, und wenigstens das würde eine gute Erinnerung an die Zeit der französischen Herrschaft sein.

Es war eine weite Fahrt. Staubig und ermüdend. Ein paarmal schon hatte er in den letzten Monaten amtlich hinunter müssen nach Koblenz zum »Peinlichen Tribunal von Rhein und Mosel«. Er hatte mehrere Vernehmungen. Aber morgen würde er zum erstenmal in die Arrestzelle jenes Mannes treten, der das schreckliche Ende, dem er entgegenging, verdient haben mochte nach dem Gesetz. Wenn die Geschworenen den Angeklagten nun aber freisprachen von der Tat an dem Mungel, und wenn es seine Kugel nicht war, die den Üßmüller getroffen – beide Söhne hatten ihn nicht unter den Angreifern mit Bestimmtheit erkannt –, dann blieb nur die Tat an d'Aubry. Und muß ein Vater dafür seinen Kopf unters Fallbeil legen, weil er seine Tochter an einem Schurken gerächt hat? Das quälte Adami.

Es war Abend, als er Koblenz sich näherte. Im Dorf Güls hatten sie noch einmal die durstigen Pferde getränkt, in Moselweiß hatte er sich dankbar eine Handvoll der goldenen Mirabellen aus dem Korbe gelangt, den ein freundliches Mädchen ihm anbot. Von der Kastorkirche war das Aveläuten schon verklungen. Aber noch war es hell, das lange Licht des Sommers noch nicht zu Ende gegangen. Er sah ein Moselschiffchen langsam und vorsichtig durch das reißende »Gänsefürtchen« seiner Anlegestelle bei der alten kurfürstlichen Moselbrücke zufahren. Die Schiffer sangen. Klangvolle rheinische Stimmen drangen zum Festungswerk der Kartause hinauf. Oben stand die französische Schildwache, das Gewehr geschultert, horchte dem Gesang und blickte sehnsüchtig moselaufwärts – da weit, weit sein Frankreich!

In Lützel-Koblenz lärmten die Kinder. Im dörflichen Vorort der Stadt spielten sie auf der Straße, rannten barfuß und machten ein großes Geschrei.

Auf dem freien Platz, der Blick auf Mosel und Rhein und den Ehrenbreitstein gegenüber, besten gewaltiger Felsen schier unangreifbar die Festung trägt, die jetzt die Franzosen geschleift hatten, drehten sie einen Ringelreihen um den Freiheitsbaum. Nun stand der schon manches Jahr hier – Adami erinnerte sich genau des Tages, an dem die junge Eiche gepflanzt worden war, mit Musik und Böllerschüssen und festlichem Gepränge – aber viel größer geworden war der Baum noch nicht. Trotzdem ein Gitter ihn umgab zur Schonung, waren Kinder hinübergeklettert, unnütze Hände hatten am Stämmchen gerüttelt – »Maikäfer flieg!« – und hatten Namen eingekerbt in seine Rinde. Wie spärlich und welk schon sein Grün hing, schlaff an unkräftigen Ästen! Kein frisch-feuchtes Lüftchen vom Rhein her schien es neu beleben zu können. Der arme Baum, verstaubt an der staubigen Straße, würde eingehen.


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