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XVIII

Bleich, die Stirn finster zusammengezogen, die Hände auf dem Rücken, ging der Richter im fahlen Morgenlicht in seiner Amtsstube unruhig auf und nieder; er diktierte dem Schreiber eine Eingabe an die oberste Behörde in Koblenz. Dies Aktenstück ging als dringend; ein reitender Bote, der es rascher beförderte als die gewöhnliche Post, wartete schon darauf, es mitzunehmen. Ein hochwohllöbliches Obertribunal zu Koblenz wurde dringend ersucht, wiederum die französische Polizeipräfektur dringend zu ersuchen, daß selbige, sobald als irgend tunlich, genehmigen wolle, daß die Gendarmerieposten im Moseldepartement zu verstärken und auch die entlegenen, sonst völlig preisgegebenen Eifelorte mit gleichen Posten zu versehen seien. Eine Aufzählung der in letzter Zeit der Behörde zur Kenntnis gelangten Verbrechen, die der Bande des bekannten Johannes Bückler zur Last fielen, folgte und endete mit dem Überfall der Üßmühle.

Der Federkiel kratzte übers Papier, die Tinte spritzte. Der Schreiber zog ein schiefes Maul: der juge de paix hatte ihm heut nicht einmal Zeit gelassen, seine Kielfeder ordentlich zuzuspitzen, bei jedem schwungvollen Schnörkel gab's ein Malheur. »Sie kleckst«, sagte er vorwurfsvoll.

»Schreib Er nur weiter!« Und dann kam die ungefähr gleichlautende Eingabe, in französisch, zu Händen des Herrn Bürgerpräfekten.

Ob es was nützen würde? Verzweifelt fuhr sich Adami durch die Tolle; es war nicht der Puder allein, der ihr dunkles Braun ein wenig heller schimmern machte, einzelne graue Fäden zogen sich schon dem noch jungen Mann durchs Haar.

Was gestern vormittag als noch unbeglaubigte Kunde nach Lutzerath hinaufgelangt war, das bestätigte im Lauf des Mittags der älteste Sohn aus der Üßmühle selbst. Zu Bertrich läuteten sie nun das Sterbeglöcklein für seine Mutter und seinen Vater zugleich. Der Hubert, sonst ein harter Junge, weinte, als er erzählte, wie der Vater durchs offene Fenster erschossen worden war, am Totenbett der Mutter. Dann aber flammte er auf im Triumph, er vergaß ganz seinen doppelten Schmerz: er und der Nikla, sie hatten es den Räubern ordentlich heimgezahlt. Der Martin oben in seiner Kammer beim Taubenschlag hatte nichts gehört – schade! – aber es war auch ohne ihn gegangen. Er hatte den einen Räuber getroffen; die beiden anderen waren leider entkommen, jenseits im Waldgestrüpp. Nun war der tote Räuber heut morgen angeschwemmt worden unterm Brückenbogen zu Bertrich; das wild stürzende Wasser hatte ihn von Felsstufe zu Felsstufe geschleudert, an einem Zacken war er zuletzt hängengeblieben. Zur völligen Unkenntlichkeit war sein Kopf zerschmettert, die Eingeweide hingen dem Halunken zum Bauch heraus.

Adami atmete tief. Einer weniger! Aber es blieben der Übeltäter noch viel zu viele übrig. Vor allem, wo steckte der Bückler selber?

Der junge Üßmüller schwor darauf, der Bückler selber war nicht dabei gewesen. Zwei von den Kerlen waren kurz von Statur, kurz und gedrungen; der Bückler war groß und doch wieder nicht so groß wie der dritte von ihnen. Der war ein richtiger Mordskerl, groß wie ein Riese, das hatte er ganz deutlich gesehen.

Adami ging, begleitet von seinem Sekretär, mit dem jungen Üßmüller zur Mühle hinab. Da war ganz Bertrich am Vormittag zusammengelaufen; jetzt aber lag die Mühle bereits wieder still, so ruhig und friedlich, als sei es gar nicht möglich, daß die Nacht zuvor hier Mord, Kampf und Blutvergießen gewesen seien. Adami betrat mit einem leisen Gefühl des Grauens den Hof. Als er zuletzt hier gewesen war, da hatte er das hübsche Mädchen gesehen mit dem eigentümlich ernsten Gesicht und der plötzlichen Wortkargheit, die Tochter des Hans Bast Nikolai von Krinkhof. Jetzt war kein Mensch auf dem Hof, nur der Hund lag in der Hundehütte auf Stroh. Er bellte aber nicht, schlug nicht einmal an.

»Den haben se auch erschossen«, sagte betrübt der Hubert, bückte sich und schob dem toten Hund noch das Stroh bester unter dem Kopf zurecht.

Sie kamen ins Haus. Eine seltsame Stille. Der zweite Sohn saß in der Küche und putzte an seinem Gewehr. Der Richter sah sich die Kammer an und das Fensterchen, aus der die Brüder die Räuber beschossen hatten. Dann traten sie in die Wohnstube. Kerzen brannten, ein Duft von Weihrauch mischte sich mit dem von Tannengrün. Vom Ehebett war der Kattunvorhang ein wenig zur Seite geschoben; wie so oft während der Krankheit der Müllerin, saß auch jetzt Maria am Bett. Aber statt der einen lag nun noch ein zweiter darin; sie hatten den toten Müller neben seine Frau gebettet. Seite an Seite lagen sie, ihre Körper berührten sich. Ihre Totenstarre hatte nichts Schreckliches, sie waren beide so sanft aus dem Leben geschieden, daß kein Kampf ihre Züge verändert hatte. Maria hatte sie liebreich mit Grün umsteckt. Sie hatte alles getan, was man Toten noch Liebes erweisen kann, jetzt aber fühlte sie, mit ihrer Kraft war's zu Ende.

»Wo warst du?« Damit hatte man sie hier gestern morgen empfangen. Lag irgendein Mißtrauen in dem Fragen von Hubert und Nikla? In der Frage des Martin sicherlich nicht. Er stürzte auf sie zu, er riß sie an sich, als sie bleich, stumm und verwirrt in der Tür stehenblieb. Was war hier vorgegangen? Alles, was sie befürchtet hatte – ach, und viel Schlimmeres noch! Sie brach förmlich zusammen. In leidenschaftlichem Weinen lag sie vorm Bett, ihre Hände verzweifelt ringend. Hubert und Nikla stahlen sich hinaus: der beruhigend zuzusprechen, das war des Martins Sache. Aber eine treue Seele war sie doch, sie schien die Mutter wirklich sehr zu betrauern. Warum war sie nur so plötzlich verschwunden gewesen?

Maria mußte eine Lüge sagen. Stockend nur kam ihr die von den Lippen: sie war hinaufgelaufen nach Krinkhof, um für die Kranke noch einmal von den Tropfen zu holen – es war spät geworden und dunkel, sie fiel über einen Stein und schlug sich die Stirn – der Vater hatte sie durchaus nicht mehr hinuntergehen lassen wollen. Sie glaubten es ihr.

Oh, diese Lüge! Sie brannte ihre Lippen, diese Lippen, die, ach so oft, so oft lügen mußten, wenn sie nicht schweigen durften! Konnte sie denn, durfte sie denn die Wahrheit sagen? Daß der Mann da oben sie eingesperrt hatte in seinem Schrank; die geheime Tür, hinter der sie die Wand geschlagen mit ihren Händen, mit ihren Nägeln gekratzt, die sie mit ihren Schreien erschüttert, ihr erst wieder aufgetan hatte am Morgen. Ohne ein Wort war sie an ihm vorbeigegangen; sie hatte ihn nicht mehr angesehen.

»Wein nit so arg«, bat der Martin, »wein doch nit so!« Es war ihm schrecklich, sie so verzweifelt zu sehen. Sein Schmerz um die Eltern war groß – sollte ihr Schmerz denn noch größer sein? Betroffen stand er. Er nahm ihre Hand: »Kannste mir nit sagen, Maria, was dich noch eso weinen macht?«

Sie schüttelte den Kopf: nein, sie konnte nicht. Aber ihre Tränen versiegten. Sie erschrak. Wenn der Martin nun etwas ahnen würde? Sie mußte sich besser zusammennehmen. Und sie raffte sich auf, trocknete ihr Gesicht ab und preßte die Lippen zusammen, damit kein Schrei ihrer inneren Qual sich ihnen entringe.

Alles, was der Tag an Pflichten erforderte, tat sie; jetzt war's getan, und nun saß sie neben dem Bett, und unten am Fußende saß der Martin, und sie waren beide ganz stumm. Und doch kreisten beider Gedanken um denselben Punkt.

Es ist etwas mit ihrem Vater – hatten sie miteinander gestritten, kam sie deshalb am Abend nicht gleich zurück? Weinte sie darum noch soviel heftiger? Aber warum erzählt sie es mir nicht? Darüber grübelte Martin.

Und Maria lebte noch einmal durch, was sie erlebt hatte, und was sie immer wieder und wieder erleben würde durch diesen Mann, der ihr Vater war – nein, nicht langer erleben wollte, sie ging fort von hier! Aber wohin? – – – – – – – – – – – – –

Adami war überrascht, die Tochter des Schmieds hier am Bett zu finden.

»Das ist meine Braut«, sagte Martin.

Kein Schimmer eines Lächelns kam bei diesen Worten auf das Mädchengesicht. Es war ein todestrauriger Blick, den Adami auffing. Und als er ihr die Hand gab, fühlte er, wie ihre ganz kalten Finger in den seinen bebten.

Dieses Mädchen schien wahrlich keine glückliche Braut. Das war unbegreiflich. Der jüngste Müllerssohn gefiel Adami besonders gut. Aber dann dachte er nicht weiter darüber nach. Er hatte genug zu bedenken, genug zu sehen – den ganzen Schauplatz – und zu Protokoll zu nehmen. Das Mädchen sah er nicht mehr.

Es dämmerte bereits, als der Friedensrichter den Rückweg nach Lutzerath einschlug. Sein Sekretär war ein wenig voraus; ihm gab der älteste von den jungen Üßmüllern noch das Geleit. Als der zurückgegangen war und er, nun ganz allein, um die Ecke des durch die Felsen sich windenden schmalen Fußpfades bog, saß an der Wand der Lay das Mädchen. Es schien hier gewartet zu haben, es sprang auf und trat ihm in den Weg.

»Exkusört, Herr«, sagte Maria hastig, »weiß man et eweil, wer von den Räubern den Üßmüller erschossen hat?«

»Nein.« Er zog das ›nein‹ lang, er war erstaunt.

»Mer weiß et also nit, wie der heißt?«

»Nein«, sagte er wieder und sah die Angst in ihren Augen.

Sie sprach wieder hastig: »Vielleicht hat der et getan, den die Üß unten angeschwemmt hat – nit wahr, Herr, der kann et doch gewesen sein?« Sie fragte es so dringlich, daß es ihm auffiel. Und als er sagte: »Der Täter ist noch unbekannt«, schien sie aufzuatmen. »Bis jetzt unbekannt« – da war wieder die Angst in ihrem Blick.

Seltsam war die mit ihren Fragen! Und warum paßte sie ihm hier auf, hätte sie das unten nicht auch fragen können? Als Braut des Sohnes hatte sie am Ende doch ein besonderes Interesse und – es durchzuckte ihn plötzlich: sie war die Tochter Hans Basts! Sollte sie, konnte sie am Ende mehr wissen als er und die Müllerssöhne? Er sah sie scharf an, da wurde ihr bleiches Gesicht dunkelrot und dann noch viel bleicher, als es zuvor gewesen war.

»Höre Sie mal,« sagte er freundlich, aber in einem bestimmten Ton, »es ist nötig, daß Sie mir sagt, was Sie weiß. Oder« – er wollte ihr Mut machen – »was Sie auch vielleicht nur sich denkt.« Er faßte nach ihrer schlaff hängenden Hand. »Wir sind hier doch nicht im Gerichtssaal, wir beide sind hier ganz allein, du kannst mir ruhig erzählen, mein Kind, was dich bedrückt. Dich bedrückt ja noch mehr als der Schmerz um die Toten; das weiß ich. Sage es mir, es wird dir dann viel leichter werden. Oder glaubst du, ich meine es schlecht mit dir?« Sie hatte ihm ihre Hand entreißen wollen, nun ließ sie sie ihm. Er sah die Qual, die sie würgte. »Armes Mädchen«, sagte er. Da brach sie in Tränen aus.

»Ich kann den Martin nit heiraten«, schluchzte sie.

Also das war der ganze geheimnisvolle Kummer, der ihm auf diesem jungen Gesicht gleich beim ersten Sehen so aufgefallen war? Er war enttäuscht – bloß Liebeskummer?! Rein menschlich konnte dies hübsche Mädchen ihn nun wohl noch interessieren, aber doch nicht in dem Maße wie zuvor, als er ganz anderes vermutete. »Warum denn nicht?« sagte er, nur um etwas zu sagen.

Als habe sie diese Frage gar nicht gehört, so sah sie ihn jetzt an mit ihren tränengefüllten und unendlich angstvollen Augen. »Ihr meint doch auch nit, Herr Friedensrichter, dat et einer von hier herum is, der den Müller erschossen hat?« Ihr Atem flog, man merkte ihre Angst deutlich.

Halt, da war doch mehr als bloß Liebeskummer! Die wußte etwas – manches – vielleicht sogar vieles. Nicht umsonst war die Tochter Hans Basts so in Angst und Aufregung, vielleicht war ihr Vater Mitwisser, Mittäter – Mitwisser ganz ohne Zweifel. Es war ihm auf einmal klar: der Schmied von Krinkhof wußte um den Überfall der Mühle, er hatte, da die Tochter dort gut bekannt war, die Gelegenheit ausgekundschaftet, der Bande des Bückler den Plan gemacht, und er hatte sie hingeführt. Masche auf Masche fügte sich dem Richter fester in dem Gewebe, das er wie ein Netz dem Krinkhofer über den Kopf zu ziehen hoffte. Also darum die Angst der Tochter?! Nicht der Martin war es und die Heirat, um die sie weinte – der Vater war es, der Vater, um den sie so bittere Tränen vergoß. Sie tat ihm sehr leid. Aber jetzt vorsichtig, nicht geradezu sie nach ihrem Vater fragen, damit er sie nicht verscheuchte wie damals!

»Der Müller war ein sehr guter Mann, nicht wahr?« fragte er sie.

»Oh, sehr gut!«

»Dann ist wohl anzunehmen, daß kein Hiesiger als Täter in Frage kommt. Das meint Sie doch sicherlich auch?«

Sie nickte langsam und sah unendlich kummervoll aus.

»Und heiraten will Sie den Martin nicht?«

Sie schüttelte wieder verneinend, aber dies Schütteln war viel energischer als vorher das Nicken.

»Das verwundert mich aber. Doch ein so lieber Mensch!«

Der Schimmer eines wehmütigen Lächelns glitt flüchtig über ihr Gesicht; dann aber wurde das um so trauriger. Vor sich hinstarrend, sagte sie gequält: »Ich kann nit.« Und dann plötzlich, wie von einem rettenden Gedanken beseelt, aufatmend: »Weiß der Herr mir keinen Dienst? Ich bleib in der Mühl, bis daß dat Begräbnis vorbei is, dann aber« – sie schluckte trocken, und dann sprach sie ganz ruhig: »Der Hubert wird ja bald heiraten, sie brauchen mich dann nit mehr.«

»Sie will also auch nicht bei Ihrem Vater bleiben?«

»Nein, nein!« Es war ein leidenschaftliches Verneinen.

Adamis scharfes Ohr hörte Widerwillen, Grauen, Schrecken heraus. Es durchfuhr ihn: da, da dieses Mädchen, das in seiner Einfalt nicht all das verbergen konnte, was es doch gern verbergen wollte, würde ihm, ohne daß es das beabsichtigte, helfen, vieles aufzudecken. Er durfte Maria Nikolai nicht aus den Augen verlieren. Kurz entschlossen sagte er freundlich: »Augenblicklich weiß ich Ihr keinen Platz, außer bei mir.«

»Zu Lutzerath?« fragte sie zögernd. Oh, das war nicht weit genug weg für sie, lange nicht weit genug! Da konnte der Martin sie ja allzeit erreichen. »Ich muß viel weiter in die Welt«, sagte sie leise.

»Das kann Sie ja auch. Ich werde Ihr schon etwas verschaffen, ich weiß Leute genug. Aber das geht nicht so rasch, ich muß deswegen erst schreiben. Und wenn Sie gleich aus der Mühle fort will –«

»Ja, ja«, fiel sie ihm hastig ins Wort.

»Dann paßt's ja gerade gut bei mir. Meine Haushälterin will schon lange ihre Tochter an der Mosel besuchen, ich suche einstweilen jemand, der sie vertritt.«

Es war nicht so, seiner Alten würde es sogar nicht recht sein, zu dieser Jahreszeit eine Reise zu machen, aber das half nun nichts; und mochte sie denken, was sie wollte, sie mußte sich fügen. Mit einer Überredungskunst, die ihn selbst verwunderte, sprach er auf Maria ein. Er sah ihr Zögern, ihr Zweifeln, er fühlte ganz genau: die wollte, ihrem Herzen entgegen, fort, weit fort. Und zwar nur ihres Vaters wegen. Ja, es war so, wie er sich's dachte: der Alte war ein Verbrecher, die Tochter wußte darum, und nun suchte sie zu entfliehen. Aber das durfte nicht sein, die wichtigste Zeugin durfte ihm so rasch nicht aus dem Gesicht kommen. Seine Miene war gütig, es wurde ihm nicht schwer, diesem gequälten Geschöpf wahre Herzlichkeit zu zeigen. »Ziehe Sie nur fürs erste getrost bei mir an. Ich sorge schon.« Er nahm einen Taler aus dem perlbehäkelten Beutelchen, das ihm Susanne einst gegeben hatte als erstes Brautgeschenk, und steckte ihr den in die Hand: »Also abgemacht!«

»Abgemacht«, sagte sie fast tonlos. Dann reichte sie ihm die Hand.

Er sah ihr noch nach, wie sie langsam, mit gesenktem Kopf den Weg hinabschlich – die war schwer beladen!

War denn heute ein Tag, an dem alles zusammentraf? Adami war kaum oben in sein Haus getreten, als ihm ein Landjäger gemeldet wurde. Der Mann kam von der Mosel herauf. Da hatte man eine Stunde von Alf einen Menschen aufgegriffen; der mußte Tag und Nacht da im Busch gesteckt haben, er war ganz verklammt, denn die Nächte waren noch kalt. Er bellte vor Husten wie ein heiserer Fuchs und schlang wie ein verhungerter Wolf. Er schien einer von der Bande des Bückler-Hannes zu sein. Herauszubekommen war aus dem Kerl zwar weiter nichts. Wenn man ihn nach dem Bückler fragte, war er wie aufs Maul geschlagen und sehr furchtsam. Der Landjäger hatte ihn nicht gleich herauftransportieren können, weil er krank war – ob wirklich oder ob's nur Verstellung war, ließ sich nicht sagen –, man hatte ihn einstweilen zu Alf in einen festen Stall gesperrt, bis er nach Lutzerath laufen konnte.

»Ich komme herunter«, sagte der Friedensrichter rasch. Er entschloß sich kurz: es war das beste, er ritt mit dem Landjäger zusammen heute abend noch, dann blieb er die Nacht unten in Alf, nahm morgen in aller Frühe den Vagabunden ins Verhör und konnte noch am selben Tage wieder hier oben sein. Er war nicht dafür, unnütz Zeit zu verlieren. Und nun hörte er noch etwas, das ihn um so mehr zur Eile anspornte.

Der Landjäger erzählte: gestern war ein Kommando Franzosen von Koblenz gekommen, berittene Chasseurs, die hatten am Reiler Hals den Bückler abfangen wollen, der sich da Lösegeld hinbestellt hatte für ein Frauenzimmer, das von ihm verschleppt worden war in ein Haus im Wald. Das Haus gehörte einem gewissen Edinger, zu Pünderich wohnhaft. Die Franzosen hatten sich in der Kapelle versteckt, aber der Bückler kam nicht; und auch sonst keiner. Da waren sie dann überall herumgeritten und hatten auch richtig das Haus von dem Edinger ausgefunden. »Et war en französ'sche Tänzerin, die drin saß. Die soll mächtig spektakelt haben, all ihre schönen Ring waren weg. Die hätt ihr en Kerl abgenommen. Sie mußt aber nit, wer der Kerl war.«

»Der Bückler!« Adami schrie laut auf. Aber dann besann er sich: konnte das sein? Vorgestern nacht war der Überfall in der Mühle – und dann sollte zu gleicher Zeit der Bückler an der Mosel unten gewesen sein? Also war beim Überfall der Mühle der Bückler wohl nicht dabei gewesen. Es zuckte etwas in Adami auf: Freude über die Bestätigung seiner Annahme und doch ein gewisses Grauen. Alle Nerven vibrierten in ihm. Immer näher, immer greifbarer trat die Gestalt des Schmieds aus dem Dunkel heraus – ein Kerl wie ein Riese. Des jungen Müllers Aussage stimmte! Armes Mädchen! Er dachte in Mitleid an die Tochter Hans Basts.

»Natürlich der Bückler«, sagte der Landjäger. »Kein anderer wär' ja so kühn. In dem Haus, wo sie die Frauensperson fanden, da war noch einer. Der lag unterm Tisch, ganz stumm und starr.«

»Tot?« fragte Adam! erschrocken.

Der Mann schmunzelte, laut zu lachen wagte er aus Respekt nicht: »Ne, besoffen. Der Edinger selber. So besoffen, daß er wohl heut noch nit zu sich gekommen is.«

*

Unten zu Dorf Alf, in einem Stall eingeschlossen, lag der Bursche Jean-Claude. Verzweifelt wälzte er sich auf der Streu, auf der vor ihm schon ein Ochse gelegen hatte. Was sollte er sagen, was sollte er nicht sagen? Sollte er alles eingestehen? Ach, dann kam er zu den Franzosen vors Militärgericht – sie führen ihn vor die Tore von Trier, sie legen an auf den Deserteur – ach, er kam nimmermehr zu seiner Mutter heim! Nein, er wollte nicht zurück zu den Franzosen; lieber wollte er doch noch bei den Deutschen bleiben. Er zermarterte sein armes Hirn: was, was sagte er nur?! Die Pulse klopften ihm, sein Schädel hämmerte; und sein Gesicht glühte; er hatte Fieber. Aber die Krankheit war es nicht, die ihn so peinigte – die Sehnsucht, die Sehnsucht! Der Frühling, der da kommen wollte, den er gespürt hatte vor dem Waldhaus beim frühen Sonnenaufgang, beim ersten Vogelfang und beim Duften der Erde, der hatte ihm's angetan, der hatte ihn um sein ganzes bißchen Verstand gebracht. Wäre er lieber doch nicht weggelaufen!

Oh, wie war es noch kalt und ungetrost, wenn man die rechte Straße nicht kannte und auch keinen Menschen fand, um den nach ihr zu fragen! Stundenlang war Jean-Claude einsam im Wald umhergetappt; die Richtung, in der er zu gehen hatte, glaubte er wohl zu wissen, aber sein Kreuz- und Querlaufen ohne Weg hatte ihn aus der Richtung gebracht. Nun suchte er hinunterzukommen zur Mosel; wenn man immer an der entlang ging, war es leichter, sich zurechtzufinden. Und da hätte nicht viel gefehlt, und er wäre den Chasseurs vor die Pferde gerannt, die, in Waffen blitzend, wie ein sausender Wind um die Nase des Berges fegten. O weh, französische Soldaten! Er konnte sich gerade noch in die Dornbüsche am Straßenrand werfen. Da lag er und zitterte und japste nach Luft. Er hörte und verstand die Kommandos – sie suchten jemand. Sie waren ausgeschickt, um einen zu fangen. O weh, sicherlich ihn! Er verkroch sich noch tiefer unter die Dornen. Erst als sie längst vorübergaloppiert waren, man keinen Hufschlag mehr hörte, nicht das geringste von ihnen mehr sah, hatte er sich hervorgewagt. Wie ein gescheuchtes Huhn flattert, so sinnlos flatterte nun auch er. Hin her – her hin.

Was moselaufwärts war und was abwärts – moselaufwärts ging's nach der Heimat –, das wußte er längst nicht mehr. Der Weg machte unendliche Biegungen; immer schlängelte er sich neben dem Fluß und immer um steile Bergwände herum. Um abzukürzen, kletterte Jean-Claude an denen empor, half sich an Ginstergestrüpp und ausgerodeten Strünken mühselig hinauf, kletterte an der anderen Seite ebenso mühselig wieder hinab, aber viel weiter gekommen war er drum doch nicht. Nur sah er den Berg, den er vorhin von vorne gesehen hatte, jetzt von hinten. So ging's immer wieder. Das verwirrte ihn. Er faßte sich an den Kopf und stöhnte; der tat ihm schon weh. Er fühlte sich matt werden vor Hunger. Ach, zu essen, wenn er doch nur etwas zu essen bekäme! Aber tauchte fern wo ein Dorf auf, so umging er es trotzdem ängstlich: nicht zu den Menschen! Die waren alle so böse. Die Werber hatten ihn angeschmiert, der d'Aubry hatte ihn mit dem Stiefelabsatz getreten, die Räuber hatten ihn ausgelacht – ach, nur seine Mutter, die hatte ihn lieb, trotzdem er so dumm war. Denn daß er das war, das fühlte er heute selber. Dumpf war's ihm im Hirnkasten, er konnte sich überhaupt nichts überlegen.

Er lief die ganze Nacht; was sollte er denn auch sonst machen? Ein paarmal hatte er sich niedergelegt, unter Büschen einen Unterschlupf gesucht, aber der Boden war feucht und ließ ihm Eiseskälte durch alle Glieder rieseln. Sie wurden ihm ganz steif. Bei der Bande hatte er auch gefroren, aber so sehr doch nicht. Der und jener von ihnen war irgendwo ansässig, hatte ein Bauernhaus, eine Werkstätte, eine Köhlerhütte oder sonst einen Unterschlupf. Sie setzten sich wochenlang darin fest.

Die Eulen machten: »Huhuhu«, Nachtgetier huschte; ihm war sehr bang. Und als endlich der Tag kam – o Entsetzen! –, da sah er nicht weit von sich, oben auf schmalem Weg, eine Kapelle.

Noch war die Sonne nicht herauf, aber ein glühendes Morgenrot färbte den Himmel. Vier nackte Steinmauern schimmerten blutig, schief gerutscht saß ein Dächelchen darüber, selbst das war wie begossen von Blut. »Ah, mon Dieu, mon Dieu!« Den Ort kannte er. Da – da der Weg – die Kapelle – da, da! Er erkannte alles wieder. Er sah den d'Aubry, vom Pferd gerissen, am Boden, sah sich selbst von den Räubern umringt, mit Püffen vorangetrieben, vom Wege verschleppt, der ihn zu seiner Mutter gebracht hätte. O weh, o weh! Er hielt sich die Hände vors Gesicht: da hatte sein großes Malheur angefangen. Fort, fort, daß nicht noch Schrecklicheres über ihn kam!

Er drehte um und rannte davon wie besessen. Er lief, bis er umfiel, nicht mehr laufen konnte. –

Was sagte er nun am besten? Sie hielten ihn für einen der Räuber. Sollte er sie dabei lassen? Ach, er war zu dumm, er wußte nicht, was sehr klug war. Hilflos in seiner Schwäche des Körpers und des Geistes, fing er an zu beten. Als Soldat hatte er niemals gebetet, es war nicht Mode in der Armee. Nun fiel ihm auf einmal alles wieder ein, was ihn seine Mutter an Gebeten gelehrt hatte, als er noch ein Kind war, und auch das: »Du sollst nicht lügen.« –

Als der Friedensrichter am frühen Morgen sich den Stall aufschließen ließ, in dem der Gefangene eingesperrt war, erhob sich ein armseliges Etwas von der Ochsenstreu vor der Krippe, kam angerutscht auf den Knien mit erhobenen Händen und stammelte fieberglühend: »Gnade, Gnade! Ich bin der Jean-Claude – der Bursche vom Kapitän d'Aubry –, ich will ja alles bekennen!«


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