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VIII

Adami hob den Klopfer am Patrizierhaus in der Simeonstraße. Weiß und stattlich stand das in der Reihe der niedrigeren Häuser. An den Fenstern des Erdgeschosses bauchten sich starke Eisengitter, durch schön geschmiedete Rosengirlanden verbunden; die schwere eichene Eingangstür zeigte den gleichen Schmuck in kunstvoller Schnitzerei. Laut dröhnte das Anschlagen des Klopfers innen im weiten hallenden Steinflur nach. Die Madonna in der kleinen Nische über der Haustür schaute lächelnd auf den Ungeduldigen nieder. Jetzt hob er noch einmal den Klopfer: Herr des Himmels, dauerte das lange, bis man aufmachte!

Gestern war es zu spät gewesen, die Fahrt hatte doch länger gedauert, denn die Straßen, nur für Holzabfuhren mit Ochsengespanne geeignet, und die Weinbergwege über schiefrige Platten waren geradezu miserabel; lange nach Mitternacht war Adami erst in der Stadt eingetroffen. Aber nun, kaum ausgeschlafen, war er hergeeilt.

Ob Suschen noch schlief? Der kleine Faulpelz! Früher, wenn er um diese Morgenstunde zum Amt vorbeigegangen war, hatte ihr schönes Köpfchen sich schon über die Blumentöpfe des Fensterbretts geneigt, und sie hatte ihm errötend zugeblinzelt. Eine plötzliche Ungewißheit überfiel den Mann: wenn sie jetzt am Ende gar nicht in Trier wäre! Im Kloster, in dem sie erzogen worden, war sie noch dann und wann zu Gast. Das wäre aber ein Mißgeschick! Eine Sehnsucht, wie er sie vorher in allen Berufsgeschäften gar nicht so stark empfunden hatte, überkam ihn nun, der Geliebten so nahe. Er hätte die Tür einstoßen mögen, sie in die Arme reißen: Geliebtes Mädchen, nun lasse ich dich nie, nie mehr!

Endlich schlorrte drinnen im Flur ein Schritt, der Riegel wurde zurückgeschoben.

»Jesses, der Herr Friedensrichter!« Die alte Christine schien mehr erschrocken als erfreut.

»Ist der Maire zu Haus? Die Demoiselle? Wo ist Suschen?« Er wollte schon an der Magd vorbeieilen, die breite Treppe hinauf; ihm, dem Bräutigam, war es ja erlaubt, zu so früher Stunde einzutreten. Da sagte die Alte verlegen:

» Excusez, ich muß et erst unserm Herrn melden.« Und dann noch verlegener: »Uns' Fräulein leit noch im Bett, ich will rasch bei se gehen.« Und fort war sie und ließ den Besucher stehen.

Das war ja gerade kein vielversprechender Empfang. Adami fühlte eine seltsame Beklommenheit. Er hatte geglaubt, das Ohr der Liebe würde sofort seine Stimme erkennen, Suschen würde die Treppe heruntereilen und, wenn auch noch im Negligé, in holder Verschämtheit in seine Arme fliegen. Ein paar Minuten verstrichen, sie wurden ihm lang. Endlich oben Türknarren.

Der Maire stand an der Treppe und streckte ihm beide Hände entgegen: »Adami, welche Surprise! Seien Sie willkommen! Wie geht es Ihnen? Meine Frau wird sich auch sehr freuen.«

War das wirklich der Ton aufrichtiger, freudiger Überraschung? Adamis Ohr fing einen Unterton auf. Enttäuscht folgte er dem Maire in sein Studierzimmer und ließ sich willenlos in die Ecke des Kanapees drücken. Ein Schwall von Worten floß über ihn her: wie er gereist sei, ob er auch keine Unannehmlichkeiten gehabt habe unterwegs, wie das werte Befinden sei – immer noch so munter und frisch, ein Jüngling mit dreißig –, ob es wahr sei, was man gehört, daß Adami sich ganz besonders auszeichne in dem rühmlichen Eifer, der Unsicherheit in diesen Landen baldmöglichst ein Ende zu bereiten. Und so weiter.

Früher war der Maire nie so schwatzhaft gewesen. Da hatte er langsam gesprochen und bedächtig, jetzt flogen die Worte dahin, wie von einer inneren Unruhe herausgestöbert. Und von Suschen kein Wort.

Es legte sich auf den Freier wie ein Bann. »Wie geht es der werten Frau Gemahlin?« Es war ihm ja so gleichgültig, wie es der Bürgermeisterin ging. Suschen, was ist mit Suschen? schrie es in ihm.

»Danke der gütigen Nachfrage, es geht meiner Frau den Umständen nach – Sorgen – wer hätte die nicht zu jetziger Zeit?« Das war der erste echte Ton.

Jetzt fiel auch die Frage: »Und Suschen? Was macht meine Braut?«

Ein eisiges Stillschweigen. Der Maire faßte sich an die Stirn, sein frischrotes Gesicht, ein wenig Lebemannsgesicht, wurde blaß, er zog wie im Schmerz die Brauen zusammen, und dann streckte er die Hand nach Adami aus. »Mein Freund – Herr Friedensrichter – mein lieber junger Freund, machen Sie sich keine Hoffnungen mehr,« – er stockte und stotterte – »es wird mir unendlich schwer, es Ihnen zu sagen: Sie müssen meine Tochter aufgeben.«

»Warum?« Der andere sagte es ganz leise.

»Susette will ins Kloster gehen.«

Suschen ins Kloster, diese Junge, Lebenslustige ins Kloster? Das war nicht möglich. Eine Ausrede, eine Lüge! Heiß wallte es in dem Hintergangenen auf. »Das glaube ich nicht. Das werde ich nie glauben. Reden Sie das einem anderen vor, aber nicht mir!« Er sprang auf. »Sie hat einen anderen mir vorgezogen – darum schrieb sie so selten, zuletzt gar nicht. Konnten Sie mir das nicht längst mitteilen? Sie mußten mir das Mitteilen, es war Ihre Pflicht!« Erregt schrie er den Vater an.

Der sah tieftraurig aus. »Es ist nicht so, wie Sie denken, Adami! Meine Tochter – meine Tochter –« es zuckte plötzlich in seinem Gesicht, mit einem Stöhnen ließ er sich auf den nächsten Stuhl fallen und barg das Gesicht in die Hand. »Es ist furchtbar schwer für einen Vater, wenn er sagen muß: seine Tochter – seine Tochter ist der Ehre nicht mehr wert, von einem ehrsamen Freier geheiratet zu werden.« Es war heraus. Gott sei Dank, Gott sei Dank! Dem Bürgermeister liefen hinter der vorgehaltenen Hand die Tränen aus den Augen, und der Schweiß rann ihm über die Stirn. Vor dieser Stunde, die doch einmal kommen würde, kommen mußte, hatte er sich gegraust wie vor nichts anderem. Was würde Adami jetzt fragen, was jetzt tun? Der blieb ganz still. Da sagte der Vater kläglich: »Verzeihen Sie uns, wir sind nicht schuld, wir hatten keine Ahnung. Verzeihen Sie auch dem unglücklichen Kind, es ist auch nicht so schuld – die Zeit, die Zeit ist am meisten schuld.«

»Und der Verführer, wer ist es? Wo ist er?«

Ah, der hatte also alles sofort begriffen, Zorn blitzte aus Adamis Augen, seine Stimme klang rauh. Oh, wie gern hätte der Maire diesen Mann zum Schwiegersohn gehabt! Der ganze Verlust wurde ihm erst so recht klar. Nach der Hand des Mannes haschend, stammelte der unglückliche Vater: »Aber keinen Eklat, ich bitte Sie, keinen Eklat – um meines Kindes willen. Es ist der französische Kapitän d'Aubry hier von der Besatzung; Susette hat mir's eingestanden, ich bin unablässig in sie gedrungen. Er denkt gar nicht daran, sie zu ehelichen, sie will das auch gar nicht, sie verachtet ihn jetzt. Sie will ins Kloster Sancta virgo immaculata eintreten. So oder so, wir haben unser Kind verloren – unser einziges Kind!« Er weinte laut. –

Wie Adami aus dem Hause gekommen, wußte er nicht. Er hatte nach nichts Näherem gefragt; er wußte genug, was sollte er noch weiter fragen. Er hatte auch die Bürgermeisterin nicht gesehen – ängstlich hatte die hinter der Tür gelauert –, er hatte nur stumm dem Vater die Hand gereicht und war dann die breite Treppe hinuntergeschritten und durch den hallenden Flur, wie einer, der es eilig hat.

Die alte Magd, die frühere Amme Suschens, die er in glücklicheren Tagen oftmals geneckt hatte, versuchte seine Hand zu küssen: »Das arme Kind – Herr Friedensrichter!«

Er hörte ihre stammelnde Bitte gar nicht, übersah ihre Bewegung, er hatte nur das einzige Verlangen, den alleinigen Trieb noch: den Halunken fordern, totschießen. Er war sich seiner sicheren Hand bewußt.

*

Als Kapitän d'Aubry die Herausforderung des Juge de paix Friedrich Adami im Kanton Lutzerath erhielt, hatte er infam gelächelt. Zwei angesehene Bürger Triers hatten sie ihm überbracht. Die Herren bekamen rote Köpfe. Dieser unverschämte Kerl! So benahm sich eigentlich kein feiner Franzose, der hat mehr savoir vivre.

Die Herausforderung war scharf: auf Pistolen, zehn Schritt Distanz, Kugelwechsel bis zur völligen Kampfunfähigkeit. D'Aubry überlegte: wen sollte er ersuchen, ihm zu sekundieren? Er wußte es nicht; er stand sich schlecht mit den Kameraden. Sollten die Mißtrauen gegen ihn hegen? Es war ihm schon mehr als einmal vorgekommen, als flüsterten sie hinter ihm. Aber nicht wegen der Bürgermeisterstochter, der dummen Gans; jeder von ihnen hatte mehr oder weniger Liaisons in der Stadt. Und warum hatte ihn der neue Befehlshaber so durchbohrend angesehen, sich den Kapitän d'Aubry noch einmal ganz besonders vorgenommen, ihn so eingehend nach seinen Personalien gefragt? D'Aubry war unruhig: was sollte das?!

In den Nächten hatte er böse Träume, selbst in den Armen der kleinen Coiffeuse von der Fleischgasse wurde er die nicht los. Mit der blonden Minette hatte er längst gebrochen, das heißt, sie hatte mit ihm gebrochen, sie war durch das Geschick ihrer Freundin klug geworden, hatte einen Fabrikanten aus Mettlach geheiratet, ohne viel Besinnen. Es konnte d'Aubry geschehen, daß er mitten in der Nacht auffuhr mit jähem Schrecken. War es doch die schwarze Susette, die ihn quälte? Er hatte gar nicht soviel Gewicht auf ihre Tränen gelegt – Mädchen in solcher Lage weinen immer –, es hatte ihn auch weiter gar nicht berührt, daß die Zusammengesunkene, als er die Achseln zuckte, sich plötzlich in eine beleidigte Königin verwandelte, die es ihm zuschleuderte: »Heiraten will ich dich auch gar nicht, du bist mir viel zu schlecht. Ich nehm' meine Schande auf mich!« Da kenne sich einer aus auf Weibspersonen – pah, die große Geste, selbst so eine aus so einem pauvren Land hat die! Nein, an dieses Opfer dachte Kapitän d'Aubry nicht, wenn er aufschreckte.

Als Adamis Sekundanten gegangen waren, stand er im Stall bei seinen Pferden und pfiff durch die Zähne. Sapristi, das war eine dumme Sache! Morgen früh hinterm Kirchhof in St. Paulin, schon um sechs. Da hatte die kleine Gans also doch einen Ritter gefunden. Kugelwechsel bis zur völligen Kampfunfähigkeit – der Kerl war sicher ein guter Schütze! d'Aubry fluchte laut: daß er sich auch so etwas auf den Hals geladen hatte! Wie hilfesuchend blickte er auf seine Pferde; die hatte er sich erst vor wenigen Wochen neu angeschafft, ein paar feingliedrige junge Vollblüter, vielleicht die schönsten Tiere in der ganzen Armee. Sie hatten einem Marquis de la Ferrière gehört, der sie abgeben mußte aus Geldbedrängnis. Ein plötzlicher Einfall kam ihm: wenn er nun als Marquis de la Ferrière das Weite suchte?! Mochten die morgen in St. Paulin hinterm Kirchhof auf ihn warten in aller Frühe, dann war er schon durch eine Nacht von ihnen geschieden, war ein ganz beträchtliches Stück bereits von ihnen fort. Er mußte lachen, wenn er sich vorstellte, wie sie da im betauten Gras umeinander treten würden und ungeduldig nach der Straße hinsehen, die am alten römischen Stadttor mündet. Fort, so schnell wie möglich fort! Es konnte keiner etwas dabei finden, wenn er heute mit seinem Burschen noch einen Ausritt machte. Von dem Duell war zudem wohl noch nichts ruchbar geworden.

Der Bursche Jean-Claude kam gerade in den Stall mit Pferdestriegel und Wassereimer. Sein Offizier empfing ihn gnädiger als sonst. Er wußte, der Bauernlümmel empfand es täglich schmerzlicher, der Lockung des Werbers nicht widerstanden zu haben und Soldat sein zu müssen. » Écoute, mon garçon«, sagte d'Aubry und zog ihn am Stallkittel zu sich zwischen die Pferde. »Was würdest du sagen, wenn du auf einmal nicht mehr Soldat sein müßtest, sondern wegreiten könntest als dein freier Herr?«

Mit einem ganz einfältigen Gesicht sah der Bursche drein: freier Herr – wegreiten –?! Das verstand er kaum mehr.

»Nun?« Sein Hauptmann schlug ihm freundschaftlich auf den breiten Buckel. »Was würdest du tun?«

»Nach Haus reiten.« Der Bursche lachte breit in dem bloßen Gedanken.

»Das sollst du auch, mon garçon, nach Haus, nach Haus reiten. Vorerst mußt du mich aber noch begleiten bis zur Grenze – ins Hessische –, ich gehe in geheimem Auftrag.« D'Aubry legte den Finger an die Lippen: »Du mußt klug sein, mon garçon, keinem Menschen etwas davon verraten. Wenn du's verrätst, kommst du nie nach Haus. Nie!« Er blitzte den Burschen so drohend an aus seinen schwarzen Augen, daß er erschrak.

Konnte dieser Mensch tückisch blitzen! Jean-Claude haßte seinen Vorgesetzten, haßte ihn so sehr, wie sein gutmütiges Herz überhaupt hassen konnte. Wieviel hatte er schon von diesem d'Aubry erdulden müssen: Fußtritte, Peitschenhiebe, rohe Schimpfworts. Und wie manches hatte er mit angesehen, von dem ihm sein Instinkt sagte: das war nicht recht. Und der wollte ein feiner Offizier sein aus vornehmem Haus?! Selbst Jean-Claudes Einfältigkeit glaubte das nicht mehr. Aber nun würde er dem ja doch gern gehorchen und aufs Wort folgen, er sollte ja nach Haus kommen, zur Mutter an den Kamin – schon hörte er die Grillen zirpen. Oh, dafür tat er alles!

»Pass' gut auf!« Der Kapitän zog ihn immer näher zu sich heran. »Also ich bin der Marquis de la Ferrière und reite in geheimem Auftrag – wie heißt dein Herr? Wiederhole!«

Und Jean-Claude wiederholte: »Mein Herr ist der Marquis de la Ferrière und reitet in geheimem Auftrag.« –

Am Nachmittag zog ein Gewitter auf, es donnerte und blitzte, und der Regensturz überschwemmte die Straßen, aber mitten im Unwetter ritten Kapitän d'Aubry und sein Bursche aus. Das waren einmal ein paar unternehmende Gesellen! Und junge Pferde ritten sie, die sollten wohl gleich an alles gewöhnt werden, sie scheuten bei jedem Blitz.

Die Reiter hatten sich in ihre Mäntel gehüllt, die Kragen hochgeschlagen, von ihren Kopfbedeckungen traufte der Regen. Aber sie achteten besten nicht. D'Aubry trug unterm weiten Mantel verborgen das, was er des Mitnehmens für wert erachtete, und dem Jean-Claude klopfte unterm Mantel warm sein fröhlich verlangendes, heimatsehnsüchtiges Herz.


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