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XV

Hans Bast hatte die Tochter unten in der Mühle gelassen, sie taugte ihm jetzt daheim nicht. Sie brauchte nicht alles zu wissen, was hier vorging! Iltis-Jakob und der Schwarze Peter hausten bei ihm; es war ihnen nicht sicher mehr unten an der Mosel. Sie brachten ihre Tage in der entlegenen Einsamkeit damit zu, sich am Tisch gegenüberzusitzen, die Ellbogen aufgestützt, den Kopf zwischen den Händen, und sich anzufluchen.

Die Krinkhofer wurden ganz scheu, beim Schmied war mitunter arg dumpfes Lärmen. Das waren Teufel, die saßen beim Hans Bast im Rauchfang verschlossen und brüllten, weil er sie nicht herausließ in die Welt. Es sollte nur keiner nahe kommen, sagte Hans Bast, wen so ein Teufel erwischte, dem drehte er das Gesicht ins Genick.

Iltis-Jakob hatte wilde Stunden, dann brüllte er, daß die Wände dröhnten, und schrie verzweifelt nach seiner Frau – und der Jung, der Jung, wo war der nun geblieben?! Er weinte und schluchzte, selbst dem Hartherzigsten konnte dabei das Mitleid kommen. Der Schwarze Peter schluchzte mit ihm, und sie beweinten brüderlich die schöne Anne, um sich dann gleich darauf mörderisch anzufassen. Hans Bast trennte sie, er gab Obacht, daß sie sich kein Leides taten, denn das waren die rechten zwei, zu allem fähig, mit denen konnte man was ausführen.

Auch bei Hans Bast war jetzt die Not eingekehrt. Die zwei fraßen ihm die Haare vom Kopf, ihm selber knurrte oft der Magen; dann schnürte er sich den Leibgurt fester, aber er fühlte nicht die gleiche Kraft mehr, dem Hunger zu trotzen, wie ehedem in seiner ersten Krinkhofer Zeit. Vermaledeit, daß die Taler nicht blieben! Sie rannen bei dieser Teuerung durch die Finger wie ehemals die Pfennige. Und wenn er dann so recht hungrig war, dann faßte ihn eine wilde Wut: den Erdball zertrümmern mußte man, auf dem alles so ungerecht verteilt war; die einen fraßen sich voll, und die anderen hatten nichts zu beißen.

Er ging jetzt öfter unten bei der Üßmühle vorüber, jedoch so, daß ihn niemand sah. Er schlich behutsam. Aber eines Tages wurde er doch gesehen. Maria kam aus dem Hause gelaufen, so schnell, daß er sich nicht mehr um die Ecke drücken konnte.

Das Mädchen war erschrocken: der Vater? Was wollte der hier? Der wollte sie doch nicht holen?!

Hans Bast mußte eine Lüge ersinnen, und das wurde ihm ja nicht schwer: drei Wochen schon war seine Tochter nicht mehr oben bei ihm gewesen, er sehnte sich nach ihr.

Maria war gerührt. Sie schämte sich, daß der Anblick des Vaters ihr Schrecken eingejagt hatte. Sie wurde ganz rot. Jetzt sah man erst, wie schön dies bräunliche Gesicht war, die Wangen waren weich gerundet, die Augen leuchteten blank von Glanz. »Muß ich heim?« fragte sie leise und zaghaft.

Nein, nein, sie konnte noch bleiben. Man sah es ihr ja an, wie gut es ihr ging. Hier gab es wohl noch viel zu essen?

Hatte der Vater Hunger? Sie rannte ins Haus und kam nach kurzer Weile wieder, ein frisch duftendes Brot unterm Arm, in der Schürze Wurst und Käse und ein großes Stück Kuchen. Das hatte die Müllerin ihr geschenkt für den Vater; sie drängte es ihm auf. Aber sie lud ihn nicht ein, ins Haus zu treten. Sie war froh, als er wieder ging. Früher wäre das ganz anders gewesen, aber jetzt –?! Finster zog sie die Stirn zusammen: die Gestalt des Vaters stand ihr schon übergenug hier in allen Ecken. Es kam kein Sonnenschein auf ihr Gesicht den ganzen Tag.

Hans Bast fühlte es, daß die Tochter sich von ihm wandte. Sollte er sie zu sich zwingen? Er brauchte ihr nur zu befehlen, wieder nach Haus zu kommen, sie nicht mehr dort hinunter zu lassen, wo sich etwas angesponnen hatte zwischen dem dummen Jungen und ihr. Nein, sie mußte vorerst noch in der Mühle bleiben, unten brauchte er sie und oben nicht. Ei, was gab's viel in der Mühle zu essen! Er hatte auch in die Mahlstube hineingeblinzt: viele, viele Säcke mit weißem Mehl, über das hin vergnügte Mäuse Purzelbaum schossen. Auf dem Hof stolzierten Hühner in buntem Gemenge, den Kropf voll Korn; auf dem Dache gurrten Tauben, von Linsen und Erbsen dick. Kühe standen im Stall und Schweine im Koben. Er hatte sich alles genau angesehen. Nun mußte er nur noch von der Tochter erfahren, ob der Müller viel Bargeld im Hause hatte, und wo er es verwahrte. Und es war wichtig zu wissen, wo die Söhne schliefen – drei starke junge Kerle im Haus, der Alte stellte vielleicht auch noch seinen Mann. Wußte man das alles genau, dann war es nicht schwer, hier mit Glück etwas auszuführen.

Hans Bast hatte nicht die Absicht, mit Bückler zu teilen; bei dem Zusammentreffen im Friedrichswald war ihm der zu hochfahrend und eingebildet gewesen – die Mühle blieb für ihn und seine zwei Handlanger allein, vielleicht daß er noch den Metzger Bruttig aus Bertrich hinzunahm. Das war zwar kein Gelernter, aber einer, der damit prahlte, daß es ihm gleich war, ob er eine Menschenkehle durchschnitt oder eine vom Kalb.

*

Es waren seltsame Nächte, die jetzt kamen, man konnte bei einem klaren Mond- und Sternenschein lesen. In solch hellen Nächten war weniger zu befürchten als in den dunkeln, in die kein Licht des Himmels hineinscheint. Und doch hatte der Juge de paix von Lutzerath angeordnet, daß überall, in jedem Hause seines Kantons, von einer Stunde vor Mitternacht an bis zum ersten Tagesstrahl, ein Licht, und sei es noch so armselig, brannte. Es gewährte einen wunderlichen Anblick, in schneeverwehter Einsamkeit und nächtlicher Stille gelbe Pünktchen wie Irrlichter flimmern zu sehen. Diese winzigen Pünktchen, die gleich durchdringenden Blicken weit, weit in die Ferne sich bohrten, beunruhigten seltsam. Denen, die verbrecherisch schlichen, waren sie peinlich; denen aber, die unablässig die Runde machten, ein tröstliches Zeichen.

Adami hatte bei den Behörden durchgesetzt, daß Einwohnerwehren bewaffnet wurden. Die deutsche Behörde war ängstlich: es sollte doch nicht sein, daß die Einwohner Waffen hatten, man fürchtete sich, die von den Franzosen gegebene Order zu übertreten. Oh, diese hündische Furcht! Adami war bleich geworden vor Zorn: war denn Leben und Gut eines einzigen deutschen Untertanen nicht mehr wert als eine französische Order? Unerschrocken wendete er sich an das französische Oberkommando. Er verbürgte sich mit seinem Ehrenwort, mit seiner ganzen Person – mochten sie ihn gegebenenfalls verhaften und was er besaß konfiszieren –, daß die Waffen sich nicht gegen die französische Besatzung kehren würden. Der Franzose wußte diese Mannhaftigkeit zu schätzen; noch waren keine acht Tage vergangen, als in den gefährdetsten Dörfern jeder Einwohner über siebzehn Jahre eine Flinte in Händen hielt. Eine Flinte, eine Flinte! Munition war auch geliefert worden. Das war ein Geknalle!

Adami gönnte sich keinen Tag mehr Ruhe. Er ließ sich ein Pferd satteln, auf dem ritt er in der Gegend umher. Es war nötig, die Leute zu unterweisen. In jedem Ort wurden Hauptleute ernannt, die die Wehren befehligten, für Manneszucht sorgten und auch dafür, daß die kostbare Munition nicht unnütz verknallt wurde.

So hatte es nur eines einzigen starken Willens bedurft, um eine Organisation, die wenigstens doch einigermaßen Schutz und Sicherheit versprach, erstehen zu lassen. Adami wurde oftmals gewarnt – wenn ihn ein Schuß aus dem Hinterhalt träfe?! Er ritt meistens allein.

»Mich kann ein Schuß treffen,« sagte er ernst, »aber ich glaube es nicht. Leute wie ich werden alt, denn sie werden gebraucht.« Er fühlte tief innen, ganz ohne Eitelkeit, die Überzeugung von der Notwendigkeit seines Daseins. Und dieses Gefühl gab ihm den Mut, den er zeigte, und die nötige Ausdauer.

Schon mehr als einmal war es dem Richter gewesen, als habe man es auf ihn abgesehen. Männer, die ihm begegneten, im Kittel des Bauern, sahen ihn oft so eigentümlich an, daß es ihn innerlich zwang, sich dann rasch und unversehens nach ihnen umzuwenden. Sie waren dann jedesmal im Gebüsch am Wege verschwunden, oder er sah hinter einem dicken Baum noch gerade einen Streifen ihres Kittels. Zuweilen fiel auch ein Schuß. Aber er ritt unbekümmert weiter. – – –

Heute war ein garstiges Wehen. Die strengste Kälte schien gebrochen, aber schlimmer als sie war der Wind, der über Lutzerath hinpfiff. Die Post war ausgeblieben, Schneelasten waren niedergegangen und hatten ihr den Weg versperrt. Was im Sommer so schön war, war jetzt unbeschreiblich trostlos. Kein Weg, kein Steg im verschneiten Einerlei.

Von seinem Fenster aus sah Adami die lange Reihe der Ebereschen, die das Band der Landstraße säumten. Sie standen heute geduckt und alle nach einer Seite geweht, demütige Bäumchen, die froh waren, nicht entwurzelt zu werden. Der Wind nahm ganze Hände voll Schnee und schleuderte sie gegen das Fenster; der Schnee war nicht trocken mehr, er löste sich in wässerige Eiskristalle, die wie Tränen am Glas hinunterflossen.

Heute würde man nicht reiten können. Adami empfand es peinlich, denn gerade heute wäre es nötig gewesen, im Kanton Manderscheid bei dem Kollegen vorzusprechen. Die alte Lies hatte seinen Mantelsack schon gepackt, Adami mußte über Nacht fortbleiben. Theodor Mungel, ein Händler aus Manderscheid, wurde vermißt, und zwar war der zuletzt gesehen worden auf dem Weg hinter Dorf Bertrich. Bei dem Metzger Bruttig zu Bertrich hatte er ein Kalb verkauft. Die näheren Umstände waren noch festzustellen. Es war zu ärgerlich, daß das Wetter heute doch stärker war als der menschliche Wille!

Jetzt hätte es einer Hand bedurft, die glättend über die Stirn des Mannes strich, der am Fenster stand und unmutig in das wilde Wetter hinaussah. Adami war unruhig und unzufrieden: in den letzten Monaten so auffallend viele Verbrechen und noch kein Täter entdeckt! Er hatte die Empfindung, daß das moralische Elend der Zeit jetzt nicht mehr zu übertrumpfen war.

Wenn er den Schmied von Krinkhof nur einmal wieder sprechen könnte! Wie er hörte, sah man ihn öfter bei dem Bruttig in Bertrich einkehren. Aber Hans Bast ließ sich bei ihm nicht sehen. In vergangener Nacht freilich sah er ihn in seinen quälenden Träumen. Am Morgen wußte er nicht mehr, was ihn so beunruhigt hatte. Wenn der Schmied nicht zu ihm nach Lutzerath kam, mußte er ihn in Krinkhof aufsuchen.

Es dämmerte bereits. Der Friedensrichter zündete sein Lämpchen an und setzte sich an den Schreibtisch. Er hatte den Laden nicht vorgelegt: mochte sein bescheidenes Licht hinausschimmern in die Dunkelheit als ein Stern für einsame Wanderer. Er senkte den Kopf über ein Aktenheft: wie unendlich viel Papier wurde verschmiert ohne jedes Resultat! Überall Diebstähle – oft nur ein Huhn die Beute, und deswegen Einbruch, und deswegen Totschlag! Mord, Mord! schrie es aus den Akten zu ihm auf. Wo war Theodor Mungel geblieben? Vielleicht auch totgeschlagen, des Geldes wegen, das er für sein Kalb erlöst hatte.

Der Wind schnob ums Haus, draußen düsterte jetzt bleiche Schneenacht. Des einsamen Mannes Kopf im Zimmer war hell beschienen, deutlich hoben sich seine von vollem Haar hochumbuschte Stirn, sein ernstes Gesicht und die Schultern, die sich ein wenig nach vorn neigten beim Lesen, hinterm Fensterglas ab. Er warf einen großen Schatten hinaus auf den Schnee. Oder war da ein anderer Schatten?

Jemand duckte sich, der draußen gespäht hatte. Es schob sich ein Flintenlauf vorsichtig übers Fensterbrett.

Der Mann drinnen hatte das Gefühl: da draußen, da lauert etwas. Er wendete den Kopf, warf einen scharfen Blick durchs Fenster – nichts, niemand! Er sprang auf und rief nach der Magd, daß sie jetzt den Laden vorlege; Nacht und Wind waren zu ungetrost. Und dann ging er unablässig im Zimmer auf und nieder, die Hände auf den Rücken gelegt.

Wenn es ihm nur gelänge, den Hans Bast zum Sprechen zu bringen! Wenn er ihm verriet, wo der berüchtigte Bückler, der Hauptmann aller Banden, sich aufhielt, dann mußte es ihm ja gelingen, den zu fangen. Seiner geistigen Überlegenheit war er sich bewußt, denn auf wessen Seite das Recht ist, der ist geistig immer der Stärkere. Und was die Körperkraft anbelangte, nun: Mann gegen Mann. – – – –

Der Wind hatte sich über Nacht gelegt, es war kein Stöhnen der Stämme, kein Brausen wild bewegter Wipfel mehr, nur ein seufzendes Wehen, als der Friedensrichter nach Krinkhof wanderte. Es war ein weiter Weg und schwer zu gehen bei der tauenden Glätte. Die Luft, die noch die ganze Härte des Eises hatte, schnitt ins Gesicht. Oh, es mußte ein Höllenleben sein, jetzt in verlassenen Köhlerhütten der Wälder Unterschlupf zu suchen! Ob mancher von denen im Wald, der nicht gerade das Allerschlimmste auf dem Gewissen hatte, nun nicht gern der Räuberei Valet sagen und lieber im Zuchthaus Wolle spinnen würde? Das freie Leben, das zur Sommerszeit manchem herrlich dünken mochte, war jetzt ein Hundeleben – schlimmer, ein Hund hat eine Hütte und Stroh. Kein Halm auf der Flur, kein trockenes Plätzchen, Stürme, die den Wald und die Knochen durchpusten, das Brot immer teurer! Jetzt war die beste Zeit, um hungriges Wild zur Strecke zu bringen.

In dem Richter brannte es wie Jagdeifer, und doch kam ihm eine große Trauer. Diese graue, feuchtkalte Luft, die sich schwer auf die Brust legte, machte trostlos. Menschenjagd! Er fühlte die ganze Schwere seines Berufes, eines Berufes, der in dieser Zeit doppelt schwer war. Wenn er die Stützen des Himmels fassen würde und daran rütteln, nichts würde die Sonne heller glänzen machen auf diese verruchte Erde. Was war aus dem Moselland geworden, diesem lachenden Land der Schönheit?! Die Göttin der Vernunft hatte nicht Vernunft gelehrt, nur Unvernunft. Die Republik, die den Freiheitsbaum aufgepflanzt, hatte Alles umgerissen, aber das Neue, das sie dafür hingestellt, hatte nur lose Wurzeln. Herr Gott – Adami fühlte, wie es ihm heiß zu Kopf schoß – käme nur ein Sturmwind und bliese den wurzellockeren Freiheitsbaum um! Auch hierzuland hatten sie ihn umtanzt – Freiheitsbäume auf allen Märkten, junge schlanke Eichen von Eifelhöhen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Zum Lachen. Nie waren Menschen unfreier gewesen. Aber noch in Jahrhunderten würde das Volk ja das große Wort »Freiheit« nicht verstehen. Und Gleichheit? Einer wie der andere trieb dahin in der Gier nach Genießen – nur darin war Gleichheit. Und Brüderlichkeit? Kain schlug den Abel tot – der Besitzlose griff »brüderlich« nach dem, was der Besitzende sich durch fleißige Arbeit erworben hatte.

Ein Ende, oh, nur ein Ende dieser schrecklichen Zeit! Aber wie sollte sie anders werden? Ein bitterer Zug grub sich ein um den Mund des Wanderers. Er blieb stehen und wendete sich nach Westen: Westwind, von Frankreich her! War der unternehmende Abenteurer, der dort das Direktorium gestürzt und sich aus eigener Machtvollkommenheit an die Spitze gestellt hatte, vielleicht derjenige, der dazu berufen war, eine aus den Fugen gegangene Welt wieder einzurichten? Ein Mann, ein Mann! Der Schatten dieses Bonaparte fiel schon auf Rhein- und Moselland; die einen sprachen von ihm mit Furcht und Unwillen, die anderen voller Bewunderung und hoffnungsvoll auch für Deutschland. Kam er zum Unheil, kam er zum Segen? Gott weiß! Der Nachdenkliche seufzte. Aber, was auch von ihm zu fürchten oder zu hoffen war, er war ein Mann, und man spürte ihn schon.

Adami war vor kurzem mit französischen Soldaten in ein Gespräch gekommen, die Leute erzählten von Bonaparte; und mit Enthusiasmus. Sie rühmten: schon war es ganz anders in der Armee, die Schlamperei wie weggeblasen, man mußte freilich strengen Dienst machen, aber die Vorgesetzten durften sich jetzt auch nicht mehr schonen. Der Bonaparte, der Soldat, der war ihr Mann.

In einer Zeit, die so arm an Begeisterungsmöglichkeiten war wie die jetzige, hatte sich Adami an den Leuten gefreut; ihre Zähne hatten geblitzt, ihre Augen geleuchtet.

Wie eine freundliche Vision zog jetzt auch plötzlich ein wenig Sonne am grauen Februarhimmel auf. Da lag die Üßmühle ihm zu Füßen. In die tiefe Schlucht hineingequetscht, hob sich schmal und hoch das Haus, an dem mit ständigem Rauschen und schäumendem Gischt die wilde Üß vorbeisauste. Schwarz schaute das Felsenhaupt einer Hohen Lay, an deren steiler Lavawand kein Schnee haften blieb, auf Mühle und Grund nieder. Und doch war die Mühle traulich. Auf dem im Sommer mit blühendem Hauswurz bewachsenen moosigen Strohdach, auf dem jetzt noch Schnee lag, ruhte es wie Friede. Augenblicklich stand die Mühle still, es gab im ganzen Land kaum Korn mehr zu mahlen. Hier schien doch noch einiges vorhanden. Adami sah, wie ein Mädchen vor die Haustür trat und die Hühner lockte, die auf dem rein gefegten Hof sich über Körner hermachten. Auch ein ganzer Schwarm Tauben ließ sich nieder und umflatterte den Kopf der Futterstreuenden.

Adami fühlte wie eine Erheiterung dieses Bild einer behaglichen Wohnstätte. Und wer war dieses hübsche Mädchen? Der Müller hatte keine Tochter, nur drei Söhne. Adami trat durchs Tor in den Hof. An wen erinnerte ihn das ernsthafte Gesicht dieser jungen Person dort? Aus großen, tiefdunklen Augen sah sie ihn an. Er fragte sie nach dem Müller.

Sie gab ihm Bescheid: der Müller war ins Dorf gegangen, die Söhne waren auch nicht zu Haus, und die Müllerin, die war krank.

Adami, der sonst nur seine alte Magd sah und die flachsblonden Dorfmädchen, die sich verschämt kichernd anstießen, wenn der Friedensrichter an ihnen vorbeiging, war überrascht von diesem schönen und stolzen Gesicht: wo hatte er das nur schon einmal gesehen? »Wer ist Sie?«

»Ich bin die Maria«, sagte sie einfach. »Hans Bast seine Tochter aus Krinkhof.«

Aha, nun wußte er, an wen die ihn erinnert hatte: Hans Bast – und doch nicht ganz Hans Bast! In dem Mädchengesicht war viel mehr Güte und Ehrlichkeit. Er fragte sie, ob ihr Vater zu Haus sei.

»Weiß nit«, sagte sie da plötzlich kurz und ablehnend, grüßte mit einem stummen Nicken und ging ins Haus.

Adami war einigermaßen befremdet: so bereitwillig zuerst mit der Auskunft und dann so abweisend? Die Tochter schien nicht gut Freund mit dem Vater. Sie paßten wohl nicht zusammen. Adami ärgerte sich: er hätte sie zutraulicher machen müssen, vielleicht hätte er durch sie auch manches erfahren können. –

Er war erst eine kurze Strecke von der Mühlschlucht über den Steg nach Krinkhof bergaufwärts gegangen, als der Müller hinter ihm dreinrief. Der alte Mann keuchte vor Eile.

Der Müller grüßte kaum, er berichtete sofort atemlos: eben war er in Bertrich gewesen, da hatte man gerade den Theodor Mungel gefunden – eine Frau beim Holzsammeln in der Linnich – er lag da in einem Tannengestrüpp, ganz nackt, die Kleider hatten sie ihm auch genommen! Der Üßmüller war ganz außer sich, er faßte immer an seinen Kopf: so etwas, so etwas hier im Tal! So lang er denken konnte, war so etwas hier noch nicht vorgekommen.

Vor des Richters Augen flimmerte die Luft, sie tanzte in roten Punkten; das war sein Blut, das der Zorn ihm zum Kopf getrieben hatte. Es sauste ihm in den Ohren. »Laßt den Mungel liegen in der Linnich, so wie er liegt«, sagte er rasch.

»Meine Jungens halten Wache bei ihm.«

»Und wo ist der Metzger Bruttig?«

»Den haben se im Verdacht. Noch hängt dat Kalb vom Mungel ausgeschlachtet beim Bruttig in der Metzgerei, aber er selber is nit da.«

»Weiß kein Mensch, wo er hin ist?« Adami fragte es hastig.

Der Müller zog die Schultern hoch und schüttelte den Kopf: »Vielleicht zum Bückler!« – – –

Im Sturmschritt war der Friedensrichter nach Krinkhof hinaufgeeilt. Er hatte das Gefühl, keine Minute versäumen zu dürfen. Was er sich eigentlich von seinem überraschenden Besuch dort versprach, machte er sich nicht klar. Aber es drängte ihn: er mußte, er mußte den Krinkhofer sehen und sprechen! Er fühlte nach seiner Brust, wo unter der Jagdjoppe die Waffe sich barg: und wenn er Hans Bast die Pistole vorhalten sollte, er mußte es ihm abzwingen, daß er aussagte, was er irgend wußte. Wo steckte der Bückler? Ob der Tod des Mungel dem berüchtigten Räuber zur Last fiel, das schien ihm freilich nicht gewiß; es sündigten viele auf dessen Namen, vielleicht auch der Bruttig. –

Der Wind blies mit vollen Backen in das Gedränge der Wolken, die wie schwarze Schafe am Krinkhofer Himmel hineilten. Nun waren sie weg. An einem bleichen Horizont stand für kurze Minuten eine bleiche Sonnenscheibe, aber sie hatte nicht die Kraft, der noch völlig winterlichen Höhe Farbe und Leben zu geben. Grau, kalt und düster alles. Wie ein drohender Finger bewegte sich die hochragende Tanne vor der Schmiede. Und nun jagten schon wieder die schwarzen Schafe daher, das bleiche Gesicht am Horizont versteckte sich rasch, einzelne Schneeflocken begannen zu flattern.

Der Schmied von Krinkhof öffnete seine Hüttentür: Donner und Doria, da hatte ihn ja zur rechten Zeit eine heimliche Ahnung getrieben, Ausschau zu halten! Da kam er ja gerade aus dem Wald heraus, der Schuft, der Spion, die verfluchte Spürnase! Beim ersten Auftauchen schon hatte Hans Basts scharfes Auge den Verhaßten erkannt.

Er schlug rasch seine Tür zu. Und nun rüttelte er die beiden, die schnarchend auf einer Streu am Herd lagen. Aber Iltis-Jakob und der Schwarze Peter rührten sich nicht, sie hatten zuviel Branntwein in sich. Er wandte sich mit einem Achselzucken ab.

Ein dritter saß am Tisch und rauchte, argwöhnisch sprang er sofort auf, als sein Wirt nur »Pst« machte.

»In den Schrank, Bruttig!« Der Schmied schloß den Schrank auf, hastig drängte sich der rothaarige Metzger zwischen die Kleider; die Rückwand des Schrankes wich zur Seite, in das luftlose, enge Räumchen dahinter schob ihn Hans Bast.

Und nun schloß er den Schrank. Er hatte gerade noch Zeit, die Pfeife des Mungel, aus der der Bruttig geraucht hatte, ins Herdfeuer zu werfen, als es klopfte. Ohne das » Entrez« abzuwarten, trat Adami ein.

Mit einem scharfen Blick überflog er den Raum. Also hier war der Raum, in dem der Wunderdoktor seine Tränkchen braute, in dem er Teufel bannte und Geister heraufbeschwor, wie die Abergläubischen sich erzählten? Kahl und sehr nüchtern sah es hier aus, halb Küche, halb Stube, um nichts besser und nichts schlechter als in anderen ärmlichen Bauernhütten. Keine Phiole, kein Medizinfläschchen war zu sehen, kein Totenschädel; nirgend etwas, was geheimnisvoll auf naive Gemüter wirken konnte. Hinterm Weihwasserkesselchen bei der Tür steckten geweihte Palmzweige, und auf dem großen eichenen Schrank, der dunkel und klobig den Estrich beschwerte, stand eine bunt bemalte Figur der Mutter Gottes.

Was führte den Bürger Friedensrichter zu ihm herauf? Hans Bast war erstaunt; dann bedankte er sich für die Ehre und lud den Herrn zum Sitzen ein. Er war nicht freundlicher als sonst und auch nicht weniger freundlich, mit großer Ruhe bewegte er sich.

Adami mußte sich gestehen: wenn der in anderen Kleidern wäre und in anderen Umgebungen, der könnte für einen Mann von Welt gelten. Er fand nicht den Ton, den er sich vorgenommen hatte anzuschlagen. Der Schmied war so gelassen und sah ihm so ruhig und gerade in die Augen, daß er ihm heute viel vertrauenerweckender erschien als je vordem. Aber wer waren die Kerle, die da am Herd schnarchten? Die sahen desto weniger vertraueneinflößend aus. Mißtrauisch betrachtete er sie.

Hans Bast lächelte. »Bauern von da drüben!« Er wies mit der Hand wie weithin. »Han über den Durst gesoffen. Sind schon öfter bei mir vorgekommen, wenn sie zu Markt herunter wollten an die Mosel. Konnten gestern abend nicht mehr weiter und –«

»Und da hat Er sie hierbehalten«, ergänzte in einem ironischen Ton Adami. »Wißt Ihr, Nikolai, daß der Händler Mungel aus Manderscheid, der vermißt wurde, heute morgen gefunden worden ist in der Linnich?«

»Hatt' wohl auch schief geladen,« lachte der Schmied.

»Er ist ermordet.« Der Richter beobachtete den anderen scharf. »Und nun sagt mir, was Ihr von der Geschichte wißt!«

»Ich? Ich weiß gar nix!« Hans Bast war aufs höchste verwundert. »Bin seit Tagen nit vom Haus fortgekommen, wußt nit emal, dat der Mungel vermißt wird. Wie kam der denn hieher?«

»Er war bei Eurem Freund Bruttig in Bertrich. Auf dem Heimweg von dem wurde er vor drei Mittagen zuletzt gesehen. Was wißt Ihr vom Bruttig?« Der Richter trat dem Schmied ganz nahe und flüsterte: »Ihr wißt doch von der Sache – sprecht offen –, es soll Euer Schaden nicht sein! Ich erinnere Euch daran: Ihr habt damals mein Wort bekommen – also sagt, was wißt Ihr vom Bruttig, und wo ist der jetzt hin?«

Der Krinkhofer kniff die Augen zu, er fuhr sich über die Stirn, als ob er schwitze, und dann sprach auch er flüsternd: »Ihr habt den Bruttig zu Unrecht im Verdacht. Der hat den Mungel nit umgebracht. Aber« – er machte eine kleine Pause, als ob es ihm schwer würde, es zu sagen – »der Bückler!«

Ungläubig sah ihn der Richter an.

»Ja, ja, bei mir hier is der vorbeigekommen, er und seine Bande. Ich hab meine Tür versperrt, ich war nit zu Haus, ich will nit freund sein mit denen. Aber auch nit feind; dat kann mir niemand verdenken, denn ich wohn einsam. Hab ihnen dann nachgesehen oben von der Tanne, sind nach der Linnich zu hinunter.« Er dachte nach: »Ja, ja, vor drei Mittagen war et!«

»Aber warum ist denn der Bruttig auf und davon?«

»Hoho, der kommt schon wieder!« Hans Bast lachte dröhnend. »Aus lauter Angst wird der auf und davon sein. Der fürcht' natürlich, dat Verdacht auf ihm liegt, weil er beim Handeln noch jedesmal Streit gekriegt hat mit dem Mungel. Ihr könnt et glauben, der find't sich schon wieder ein, sobald dat der weiß, dat sie den Richtigen haben.«

»Und wo denkt Er denn, daß der Bückler jetzt steckt?«

Hans Bast sah sich um, als ob ihm Tür und Fenster nicht sicher genug seien vor Lauschern. Ganz nahe neigte er sich zu Adami hin: »Die sind der Grenz zu. Paßt auf, der Bückler und seine Gesellen, die wechseln nach Frankreich herüber!«

»Über die Grenze? Das wäre!« Der Richter tat völlig überrascht. »Ich hoffe, die Franzosen passen auf! Jetzt dürfte es wohl schon zu spät sein, die zu alarmieren«, fügte er anscheinend besorgt hinzu.

Unter gesenkten Lidern hervor schoß der Schmied einen raschen Blick: glaubte der's, oder glaubte der's nicht?

Adami glaubte es nicht. Kein Wort von dem, was Hans Bast ihm erzählte. Das war ja alles viel zu absichtlich und zurechtgemacht; auch kam ihm der Mann, trotz aller zur Schau getragenen Ruhe, etwas unsicher vor. Abermals regte sich die Abneigung in ihm, die er gleich beim erstenmal empfunden hatte, als der Schmied vor ihm stand; und heute war diese Abneigung noch stärker, und zu ihr gesellte sich der Argwohn: könnte dieser Mit wisser nicht auch Mit täter sein? Nein, das doch nicht! Dieser Mann mit dem stolzen Gesicht und den schönen dunkeln Augen, der Vater des Mädchens, das er soeben unten getroffen hatte, war kein Verworfener, war wohl nur einer, der sich darin gefiel, sich mit dem Schein des Alleswissens zu umgeben. Aus Eitelkeit, vielleicht auch um einiger Vorteile willen, deren Grund er freilich bis jetzt noch nicht sah. Aber es war jedenfalls geraten, die beiden Strolche da gleich mitzunehmen; Bauern waren das auf keinen Fall.

»He, aufgewacht!« Adami stieß einen der Schnarchenden nach dem anderen mit dem Fuß an. »Wer seid ihr? Was habt ihr hier zu suchen? Fort, marsch!«

Sie waren beide aufgesprungen, so völlig überrascht waren sie, daß sie gar keinen Widerstand wagten.

Adami ließ ihnen auch keine Zeit, sich zu besinnen, er stieß sie dem Ausgang zu.

Hans Bast vertrat ihm die Tür: »Wat fällt Euch ein, Herr? Leut' so erausschmeißen aus meinem Haus?« Es grollte etwas Drohendes in seiner Stimme, und ein Blitzen war in seinen Augen.

Aber der Friedensrichter hatte den Revolver hervorgezogen – auch in seinem Blick war etwas, das bedrohte –, er entsicherte seine gute Waffe, hielt sie in der erhobenen Rechten und trieb so die beiden, noch immer Taumelnden, vor sich her.

Hans Bast starrte ihm nach: war der doch klüger, als er ihn eingeschätzt hatte? Jedenfalls war der mehr als unbequem. Er fluchte. Aber Geduld! Wenn's neulich nicht dazu gekommen war, mit dem abzurechnen, es fand sich schon wieder eine Gelegenheit. Nur noch Geduld und Vorsicht! Der Schmied ballte seine große Faust im Hosensack.

*

Der Friedensrichter ließ jetzt immer die Läden vorlegen, sobald es dämmerte. Er saß nicht mehr so hell beschienen am Fenster und zeigte seine hohe Stirn mit der leicht gepuderten Haartolle darüber. Er ritt jetzt auch nicht mehr ganz allein, entweder begleitete ihn sein Schreiber, oder ein großer Hund sprang vor dem Pferd her. Der war dunkelgrauschwarz wie ein Wolf, und die Zunge hing ihm lechzend aus einem blutroten Rachen. Die Leute fürchteten ihn, er sprang an auf: »Fass'!«. Beim zweiten »Fass'!« biß er gleich in die Gurgel.

Der Richter war verzweifelt: was nützte ihm aller persönliche Mut? Eigentlich war es ein Leichtsinn gewesen, damals, so ganz allein, die beiden Strolche von Krinkhof mit herunterzunehmen. Hätte er schon seinen Miro gehabt, es wäre besser gewesen, dann wären die zwei ihm nicht entkommen. Ohne weitere Schwierigkeiten hatte er die beiden Taumelnden und unsicher Gehenden vor sich hergetrieben, den Arm mit der Waffe immer erhoben, als er plötzlich gestolpert war über eine tückische Wurzel. Ein Ruck durch den ganzen Körper, die Waffe entfiel ihm, er bückte sich hastig nach ihr – da rannten auch schon die beiden davon, jetzt nicht mehr taumelig, sondern schnell wie die Hasen. Und ob er auch hinter ihnen dreinschoß und dem Müller, der auf das Geknalle aus seiner Mühle gelaufen kam, zuschrie: »Haltet sie!«, die Flüchtigen waren im Tannengestrüpp verschwunden gewesen, und man entdeckte keine Spur mehr von ihnen.

Das Gefühl verließ Adami nicht: der Schmied, der lachte ihn aus. An einem der nächsten Tage schon war Hans Bast in Lutzerath erschienen. Er wollte sich doch einmal erkundigen, ob der Bürger Friedensrichter mit den beiden Trunkenbolden auch gut von Krinkhof heruntergekommen sei. Adami fühlte den Hohn. Aber es lag kein Grund vor – wenigstens war jetzt keiner vorzuschützen – um den Mann festzunehmen. Doch konnte er sich nicht enthalten, ihn anzufahren: »Entweder ist Er der dümmste Esel oder der schlauste Fuchs. Gauner waren das und keine Bauern!«

»Dann war ich eben der dümmste Esel«, sagte gelassen Hans Bast. »Sie han mich gerad so gut für en Narr gehalten wie Euch, Bürger Friedensrichter!« Und dann kraute er sich im Bart: »Hm, hm« und schüttelte den Kopf.

Dieser Mann war wie ein Fels, an ihm biß die Justiz sich die Zähne aus. Mit einer mutlosen Gebärde ließ der Richter die Hände in den Schoß sinken. Hätte er doch den Stab, mit dem Moses den Felsen schlug, daß der verschlossene Stein sich auftun müßte!

Der Metzger Bruttig saß wieder ruhig unten zu Bertrich; man hatte ihm nichts nachweisen können, und was die Leute wisperten, darauf war nichts zu geben. Es war also doch der Bückler gewesen, der auch diese Freveltat in der Linnich begangen hatte. Aber zu finden war der nicht. Sollte denn alles ungesühnt bleiben, was er verbrochen hatte? Adami fuhr sich mit nervösen Fingern durchs Haar. –

Noch immer herrschte der Winter, und nach dem neuen Kalender stand doch schon Germinal vor der Tür. Es lag nicht soviel Schnee mehr, stellenweis war die Erde schon nackt; es sproßte jedoch noch kein Hälmchen. In der Nacht bedeckte sich alles, was Wasser hieß: See, Teich, Tümpel, Pfütze, noch mit Eiskristallen. Nur der Bach, der an der Üßmühle vorbeischoß, der litt nichts auf seinem Wasser, das, wie über Treppenstufen, seinen schäumenden Gischt von Felsabsatz zu Felsabsatz stürzte. Um diese Zeit des schmelzenden Schnees donnerte der Bach, daß man laut schreien mußte, wenn man sich verstehen wollte. Das Haus erzitterte unterm gewaltigen Rauschen des Mühlrades. Es gab Arbeit. Der Erste Konsul, der siegreiche General Bonaparte, hatte zwar viel zu tun in Paris, aber er vergaß seine Soldaten im Rheinland nicht; ägyptisches Korn, italienischer Mais waren angekommen. Alle Mühlen im Rheinland hatten Mehl zu mahlen für die französische Besatzungsarmee. Hätten gutmütige französische Jungen nicht manchmal von ihrem Weißbrot den deutschen Kindern gegeben, und hätten die Mütter nicht Fladen gebacken von ein wenig Kleie und Wasser, so wären viele von ihnen in diesem Winter Hungers gestorben. Wenn der Winter und sein Hunger doch nur endlich, endlich vorüber wären! – –

Julie Bläsius saß in der Hütte des alten Bauernweibs unten am Kondel, wo Johannes Bückler, unter dem Namen eines Jakob Ofenloch, wandernder Krämer aus dem Hessischen, sie eingemietet hatte als seine Frau. Es war hart für die Julie, so stillzusitzen; nun war sie hier schon seit Winteranfang. Da war der Knabe geboren worden, sein Kopf war so dick, daß es ihr fast das Leben gekostet hatte. Das alte Bauernweib hatte an ihr gerissen, als sei das Kind ein Kalb und sie ein Stück Vieh; trotz aller Standhaftigkeit Juliens hatte die Hütte widergehallt von ihren gequälten Schreien.

Nun war nicht daran zu denken, daß sie durch rauhes Wetter, bald hierhin, bald dorthin, und immer auf der Hut, ihrem Liebsten folgen konnte. Sie, die einst so Leichtfüßige, ging jetzt schwerer und ermüdete rascher; auch hätte sie nicht mehr in ihre Jungenhosen schlüpfen können, sie war für die zu sehr in die Breite gegangen. Das machte ihr Kummer. Sie stand oft lange vorm Spiegelscherben und betrachtete sich: würde sie noch auf dem Seil tanzen können oder sich aufs Pferd schwingen wie ein Mann? Eine Wut stieg in ihr auf, sie verwünschte den Jungen, der sie soviel gekostet hatte. Wenn sie dann aber daran dachte, wie sehr ihr Hannes sich über ihn freute, so riß sie das Kind aus der Wiege, überschauerte es mit ihren Küssen, drückte und herzte es so wild, daß es anfing, kläglich zu schreien. Es schrie überhaupt viel.

»Mein Kinner han nie nit esu vill Schpitackel gemaach«, sagte die Alte vorwurfsvoll und steckte dem Säugling ein Leinenbäuschchen, das in betäubenden Mohnsamentee getunkt war, ins Mäulchen. So hatten sie Ruhe vor ihm.

Aber Julie fand doch keine Ruhe, sie mußte immerfort an den Hannes denken. Wo war er jetzt, was hatte er nun gerade vor? Ob's ihm auch glückte? Nun sie nicht mehr mit ihm war, ängstigte sie sich um ihn – früher hatte sie sich nie geängstigt, je toller, je lieber –, hatte er doch selber gesagt: »Solang du bei mir bist, kann mir nix passieren.« Und ob er sie auch nicht vergaß? Eine immer rege Eifersucht war in ihr. Er hatte ihr zwar Treue geschworen, aber sie kannte ihren Hannes. Solange er nur Spaß machte, wie mit der Buzliesen-Amie und des Iltis-Jakobs Frau – mit mancher anderen hatte er noch geschnäbelt –, achtete sie's nicht für voll. Aber wenn er eine andere ganz bei sich hätte, das würde sie sich nie und nimmer gefallen lassen!

Gestern war Jakob Ofenloch dagewesen. Der Krämer-Jakob hatte ein Tabulett umhängen am Lederriemen; Seife und Tabak waren sein Hauptgeschäft, aber er hatte auch Band, Nadeln und allerlei Kleinkram zu verkaufen. Er hatte sich einen Bart stehen lassen, der kleidete ihn gar nicht gut; Julie hatte gebettelt und gescholten: »Den mußte dir wieder abnehmen lassen.«

Aber er hatte es nicht gewollt; er fand sich so ebenso schön, und dann war er so weniger zu erkennen. Iltis-Jakob und der Schwarze Peter, seine Besten, waren versprengt. »Und du bist auch nit mehr bei mir – ich mein halt, ich hab nit eso recht Glück mehr!«

»Der verflixte Jung!« Sie stampfte mit dem Fuß auf: »Wenn der nit wär!«

Da hielt er ihr rasch den Mund zu: »Du sollst so ebbes nit emal denken!« Es klang zornig. Und dann weich: »Der Jung, der macht mir esu vill Spaß. Klein Kinder sind doch dat Allerschönste auf dieser Welt!« Er nahm den eingebündelten Kleinen behutsam in seine Arme, kitzelte ihn am Kinn und sah ihm bewundernd in die großen blauen, ein wenig starren Augen. Tänzelnd ging er mit seinem Bündel in der Stube auf und ab, pfiff und sang, und das kleine Hänneschen, das sonst soviel schrie, verhielt sich ganz still. Hannes wurde heiterer über dem Tändeln mit seinem Kind, so heiter, wie er gewesen war in seiner besten Zeit. Er vergaß alle Widrigkeiten des schweren Winters. Jetzt kam ja bald Frühjahr, und wenn das erst da war, dann machten sie, daß sie hier fortkamen, wandelten in ein neues Revier – die Rhön zum Exempel, die war gar so übel nicht.

Die Julie war gleich dabei, sie hatte es hier herzlich satt. »Hei, da kommen ich mit! Da brauch' der Jung mich nit mehr. Den lassen mir dann hier bei der Frau!« Zärtlich hing sie sich an ihren Hannes und schmeichelte ihm.

Er blieb die Nacht bei ihr. Aber es war keine Nacht mehr gleich jenen, die sie einst verbracht hatten auf dem Kallenfelser Hof. Hart und kalt war das Lager, und alle Augenblicke fuhr Bückler auf und lauschte: horch, Tritte! Hörte sie nichts? Pochte es nicht?! Ihre Arme zogen ihn immer wieder nieder, sie umschlang ihn und küßte ihn mit aller Gewalt, aber ihr Kosen, das ihn sonst süß eingelullt hatte, half nicht. Er war es nicht mehr gewohnt, ruhig zu schlafen.

Es war ein Glück für ihn, daß der Joseph Edinger, ein vermöglicher Weingutsbesitzer zu Pünderich und ein Wann so fromm, daß er keine Messe ausließ und bei allen Wallfahrten vornan war mit Kreuz oder Fahne, einen Narren gefressen hatte an ihm. Und das war so gekommen: Der Edinger war Wein verkaufen gewesen moselabwärts, als er zurückkehrte, paßten der Bückler und seine Gesellen ihm auf. Aus dem Buschwerk zur Seite der Straße stürzten sie, hielten das Wägelchen an, nahmen dem Edinger all sein Geld ab, und Placken-Klas und Fink der Rotkopf, die schlechter Laune waren, da der Hunger sie zwickte, wollten ihn gleich auf der Stelle totschlagen und ihn dann in die Mosel schmeißen. Da lag der auf ewig stumm bei den Fischen. Das Pferd war kein Mensch, das konnte nicht wider sie zeugen. Jedoch der Hannes hatte das nicht gelitten. Der Edinger war niedergekniet und betete laut, Bückler stellte sich vor ihn zum Schutz, und als die Genossen murrend sich widersetzten, trumpfte er auf: noch war er, er allein es, der zu bestimmen hatte. Es war genug mit dem Geld, mit dem Pferd und dem Chaischen. Wenn der Edinger ihnen schwor, sie nicht anzuzeigen, dann konnte man dem wohl trauen; der war ja fromm, der brach keinen Eid.

Und der Edinger schwor »So wahr mir Gott helfe!« Und schwor noch extra bei den Heiligen und bei allen siebzehn Nothelfern dazu, daß er's nicht würde zur Anzeige bringen.

Danach hatte ihn Hannes noch ein gut Stück begleitet. Er traute seiner Bande doch noch nicht recht; die war durch den grausamen Winter erbittert, verbissen in ihrer Wut über ein ungerechtes Geschick, gereizt wie ein Tier, das, in die Enge getrieben, auf dem Sprung ist mit Klauen und Zähnen.

Der Edinger wußte sich gar nicht genug zu bedanken. Weiß Gott, daß einer, schon so bei Jahren und dürr wie ein Zaunstecken, dazu mit einem Weib, das unbekömmlich war wie purer Essig, daß so einer noch so am Leben hing! Das verwunderte den Hannes. Aber ihm konnte es ja recht sein, denn der Edinger, noch heilfroh, so davongekommen zu sein, hätte ihm gern wer weiß was zuliebe getan. Sie sprachen freundschaftlich miteinander. Der Edinger salbaderte gern; er war der würdige Mann, der die erste Stimme hatte im Kirchenrat und bei allen Wallfahrten Vorbeter war. Er predigte dem Sündigen von der Unruhe der Seele. Und der Hannes gestand denn auch ein: er würde gern einmal ruhig wo sitzen ohne Unruhe und wissen, hier kommt keiner hinter dir her.

Der Edinger hatte ein Sommerhaus, das war früher einmal eines Adligen Jagdschlößchen gewesen; es lag eine Stunde über Pünderich in den Bergen und versteckt im Walde. Das bot er seinem Lebensretter an, es sollte ihm da an nichts fehlen. Es kam auch kein Mensch jetzt herauf, nur er würde ab und zu kommen und seinen Schützling besuchen.

»Und mich zur Tugend bekehren«, lachte der Hannes. »Die Müh is verloren« – das Lachen war nicht ganz echt –, »dazu is et zu spät!« –

Julie Bläsius hatte am anderen Morgen schwer Abschied genommen. Wenn sie ihren Hannes nun auch nah wußte – es war gar nicht so weit, nur ein paar Stunden über den Berg nach Pünderich –, so umhalste sie doch ihren Krämer-Jakob, als wäre es auf Nimmerwiedersehen. Und der weinte auch fast.

Sein Kind hatte der Vater vielmals geherzt und geküßt. Dann hatte er sich losgerissen und war langsam und jedem, der ihm begegnete, von seinem Kram anpreisend, seine Straße gezogen. Zuerst war Hannes bekümmert: ach, es war doch sehr traurig, von Julie und seinem Hänneschen sich trennen zu müssen! Aber bald pfiff er sich eins. Die Aussicht, morgen schon in das schöne Sommerhaus einziehen zu können, war lockend; dafür ließ man sich schon des Edinger Predigten gefallen.


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