Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XX

Zum Umsinken müde war der Friedensrichter nach Lutzerath zurückgekommen. Auch der Hund war langsam geschlichen, und das Pferd hatte den Kopf hängen lassen. Adami hatte das Gefühl, als habe er einen gewaltigen Berg erklommen, den Gipfel erreicht und dürfe nun ruhen; freilich nicht allzu lange. Noch war da der Abstieg. Und der bot noch Mühen genug. Noch blieben die Glieder der Bande zurück, wenn deren Häupter auch gefangen waren. Aber ohne den Krinkhofer, der die Pläne ausheckte, und ohne den Bückler, der sie spielend ausführte, waren sie nicht zu fürchten mehr; bald würden sie auch im Garn sein, armselige Drosseln, die sich an den Beinen aufhängten.

Langsam war er geritten, ein müder, einsamer Sieger. –

Und einsam lag die Üßmühle, so still, als sei niemand in ihr. Die Alten waren begraben. Zu Bertrich auf »Blasius Päsch«, wie der windumwehte Friedhof im Volksmund heißt, hatte man Mann und Frau in ein Grab gelegt, die schmalen Särge dicht nebeneinander. Es war ein stattliches Trauergeleit, ganz Bertrich ging hinter den Särgen her. Es wäre keiner zu Haus geblieben. Selbst der rote Bruttig, der Metzger, war früher von seinem Schweinehandel zurückgekehrt, ging nun als letzter im Zug, hielt sich die Mütze vors Sommersprossengesicht und betete andächtig laut. Die Rede des Geistlichen war ergreifend; er hatte dem Paar nur Lob zu zollen. Friedlich hatte das gelebt, trotz Krieg, Hunger und der Pestilenz der Räuber im Lande; es war allen ein Beispiel gewesen. Und friedlich war es denn auch gestorben; trotzdem eine Mörderhand sich gegen den Müller erhoben, hatte er die Schrecken des Todes nicht zu verspüren gebraucht. Am Bett seines Weibes ward er plötzlich abgerufen; Hand in Hand, wie sie auf der Reise des Lebens gegangen, traten sie nun die Reise ins Himmelreich an.

Die Schulkinder sangen lateinische Worte, die sie nicht verstanden, aber sie sangen sie hell, selig in den Tag hinein, der auf den Zehen stand und über die Berghöhen, die in der Runde das Tal umschlossen, helläugig und freundlich hinunterguckte.

Viele schluchzten, auch die Söhne weinten. Nur die Pflegerin der alten Üßmüllerin, die Tochter von Hans Bast, weinte nicht. Sie hatte bis zur letzten Minute geschafft; der ganze Hof stand voll Wagen, Anverwandte waren gekommen und die Bräute von Hubert und Niklas. Wie betäubt war sie; sie tat alles ganz recht, aber es war eine andere Maria, die den Kuchen backte und für die Gäste einen Tisch deckte. Es war auch noch immer die andere Maria, die dann im Grabgeleit ging, die Augen niedergeschlagen, das Betbuch, um das der Rosenkranz geschlungen war, in den unmerklich zitternden Fingern. Mit blassen Lippen murmelte sie: »Herr, gib ihnen die ewige Ruh', und das ewige Licht leuchte ihnen.« Sie kniete, sie sah in die Gruft – Amen, amen« sangen die Schulkinder –, sie streute Erde hinab mit kalter Hand, sie wischte dann die Erde vom Kleid ab, kehrte sich den Leidtragenden zu und reichte ihnen die Hand. All dies tat die andere Maria.

Aber nun, als die Gäste fort waren, auch die Bräute, denen Hubert und Niklas das Geleit gaben, nun durfte sie wieder die alte Maria sein. Und sie weinte aus Herzensgrund.

Martin kam zu ihr in die Küche, wo sie die Tassen und Teller abwusch. Ihre Tränen rannen ins Spülfaß. Es war ja das letztemal, daß sie hier schaffte, morgen ging sie nach Lutzerath. Vergebens hatte sie sich heute nach ihrem Vater umgeschaut, sie glaubte, er würde beim Begräbnis sich zeigen, schon damit ihn die Leute sahen; aber er war nicht da. Gott sei Dank, Gott sei Dank nicht! Sie hätte sein Antlitz nicht sehen mögen. Um Jesu Barmherzigkeit willen, vielleicht tat sie ihm unrecht, dann mochte es ihr angerechnet werden dereinst. Jetzt konnte sie nicht anders.

»Maria, mein liebe Maria«, sagte der Martin, als er in der Tür stand. Er war noch traurig und doch froh, endlich mit ihr allein zu sein. Auf seinem Gesicht lag ein Schimmer von Glück. Er breitete nach ihr die Arme.

Sie blickte auf ihre Hände nieder, unter denen das Geschirr zu klappern anfing. Sie konnte ihn ja nicht ansehen.

»Du hast für unsere Mutter alles sehr schön gemacht. Akkurat so, als hatte sie dat alles selber gemacht. Ich dank dir auch, Maria. Ich werd et dir noch besser danken, wenn wir erst verheiratet sind.«

Sie zuckte zusammen: o weh, er fing davon an! »Hör, Martin«, sprach sie beklommen, »wunder dich nit, aber ich bleib eweil nit hier – ich darf nit hierbleiben. Et schickt sich eweil nit.« Das fiel ihr ein wie ein rettender Gedanke. Heute, heute konnte sie es ihm noch nicht sagen. Nur noch ein paar Tage Aufschub! Heute fiel es ihr gar zu schwer. Wenn sie oben zu Lutzerath war, dann, ja dann gleich! »Der Hubert is mit seiner Braut an die Mosel, der Nikla is auch weg – wat sollten die Leut wohl sagen, wenn mir zwei in der Mühl so ganz allein blieben!« Scheu wagte sie einen Blick.

Er nickte: das sah er wohl ein, aber er hätte gedacht, sie hielte so ängstlich nicht auf die Sitte. »O Maria,« stieß er heraus, »bei uns zwei is dat doch ebbes ganz anderes. Wat brauchen mir zwei viel zu fragen nach dem, wat die Leut sagen. Mir zwei kennen uns doch. Ich weiß, wat ich von dir zu halten hab. Die Mutter selig hat mir alles erzählt – sie hat dich liebgehabt, ihr Segen liegt auf dir –, ich halt dich ebenso hoch und heilig, als wenn du eine wärst, zu der man nur beten muß. Ich rühr dich nit an, kannst dich drauf verlassen. Bleib, Maria, wat willste nach Krinkhof? Ich hab mit deinem Vatter nit viel im Sinn.«

Das Herz stand ihr still: ahnte er etwas? Kamen die gleichen Gedanken auch ihm, Gedanken, die sie verfolgten bei Tag und bei Nacht, die sie ruhelos Umtrieben, als hätte sie selber Böses getan? »Ich geh nit nach Krinkhof«, sagte sie kleinlaut, den Blick noch immer niedergeschlagen, »ich geh zum Friedensrichter nach Lutzerath. Kuck« – sie zog einen Laubtaler aus der Tasche –, »den hat er mir gegeben, als er letzthin hier war. Ich soll bei ihm Magd sein – nur für en Weil«, setzte sie rasch hinzu, als Martin auffahren wollte.

Nein, das war ihm doch gar nicht recht, dann hätte er noch lieber gesehen, sie bliebe solange bei ihrem Vater; das hatte sie doch nicht nötig, als seine Braut noch als Magd zu gehen. Er war unmutig. »Ich leid dat nit!«

»Nur für'n Weil, für en ganz kleine Weil«, sagte sie bittend, »et is ja nit lang mehr.«

»Bis zur Hochzeit«, ergänzte er. »Morgen geh ich zu unserm Pastor, bestell dat erste Aufgebot; worauf sollen wir dann noch warten?« Er stieß einen Seufzer aus. »Weiß Gott, mir wird jeder Tag zu lang. Ach, Maria –« er trat plötzlich neben sie und riß sie an sich, daß ihr der Atem verging –, »ich hab dich ja so lieb, so lieb! Und wenn ich dran denk, daß du bald mein Frau bist, dann wird mir der Kopf ganz schwindelig, ich hör nit, ich seh nit, ich hab nix im Sinn mehr als dich, dich allein!«

Sie konnte sich nicht sträuben, sie lag ihm im Arm, eine wehrlose Beute von Glück und Schmerz. Beide Hände schlang sie ihm um den Hals und faltete sie ihm im Nacken. So nah mit ihrem Gesicht vor dem seinen, sahen ihre Augen tief und dunkel in seine blauen: wie waren doch des Martin Augen so treuherzig offen, die brauchten ja auch keinen Blick zu scheuen. Es übermannte sie schier. Was hatte sie, sie denn verschuldet, daß sie zum Martin nicht sprechen durfte: »Ich will gern dein sein –?!« Sie küßte ihn, wie jemand küßt, der für immer Abschied nimmt.

Er spürte nicht die Verzweiflung in diesen Küssen, er fühlte nur die Liebe heraus und ein großes Verlangen. Sie seufzten beide im ungelöschten Brand einer großen Sehnsucht.

»Ich bin deiner nit wert.« Sie nahm sich zusammen und schob ihn von sich.

Da lachte er hell: »Du meiner nit wert? Ich bin deiner nit wert – o Maria!« Er wollte sie wieder an sich ziehen.

Aber sie stieß ihn fast wild zurück: »Laß mich!« Und dann lief sie zur Tür: »Die Sonn geht schon unter, laß mich, ich muß vor Dunkel in Lutzerath sein.« Sie ließ sich nicht halten. Er bat, er beschwor sie: nur bis übermorgen, bis morgen wenigstens sollte sie bleiben, er brachte sie dann selber herauf; warum denn so eilig? Er schlang den Arm um sie, trotzdem sie widerstrebte, er hielt sie am Kleid fest. Sie riß sich los. Er gab ihr tausend gute Worte, es nutzte alles nichts.

»Du gehst, und ich bleib eweil ganz allein«, sagte er zuletzt traurig. Da gab sie es wenigstens zu, daß er sie noch ein Stück Weges begleitete; auch das hatte sie zuerst nicht gewollt. – – – – – – – – – –

Nun war Maria Nikolai schon Tage oben in Lutzerath. Sie war schweigsam, sprach nur das Notwendigste. Gegen die Redseligkeit seiner allzeit geschwätzigen Alten stach diese Schweigsamkeit doppelt ab, Adami empfand sie als Wohltat und doch als eine Stille vor Sturm. Fragte dieses Mädchen denn gar nicht nach seinem Vater? Ahnte ihr Schlimmes, und hielt ihr die Angst deswegen den Mund zu? Vielleicht hatte er es sich nur eingebildet, daß sie ahnungsvoll sei. Dem widersprach aber dies blasse Gesicht mit den Augen, in denen er oft glaubte, Verzweiflung dämmern zu sehen, widersprach das ganze gedrückte und scheue Wesen. Wie das Mädchen dastand: gesenkten Kopfes, die Arme schlaff hängend – wie sie ging: müde, gebeugt unter Lasten, die das Auge nicht sah – wie sie arbeitete: fleißig und doch ohne Lust am Schaffen – wie sie sprach: mit einer Stimme, die in ihrem tiefen Klang keine Jugend mehr hatte, nur Klage – das alles sagte ihm mehr als genug. Die hier ahnte nicht nur, die wußte. Aber ob Hans Basis Tochter auch wußte, daß ihr Vater jetzt gefangen saß zu Koblenz? Adami überlegte: nein, das nicht. Maria konnte es nicht wissen, sie hatte noch mit keinem Menschen im Ort gesprochen, sie hatte das Haus seit ihrem Hiersein noch nicht verlassen. Der Müllerssohn war auch noch nicht oben gewesen. Vielleicht, daß der gar nicht mehr kam – ehrlicher Leute Sohn und die Tochter eines Mörders, nein, das ging nicht an! Das Mädchen tat Adami sehr leid. Es war das beste, sie erfuhr bald und schonend von ihm, was sie wissen mußte, ehe rohe Mäuler es ihr kundtaten.

Noch hatte sie nichts gewußt. Denn als er von einem Ritt heimkam und sie das Pferd beim Kopf hielt, während er es abzäumte: sagte sie: »Wart Ihr drüben im Krinkhof? Is mein –« sie verbesserte sich – »is der Hans Bast zu Haus?«

Er war in Gedanken gewesen, jetzt sah er sie plötzlich betroffen an: wie kam sie darauf? Er war gerade in Krinkhof gewesen. Da stand die Hütte im Winde, kein Mensch hatte sie wieder betreten, eine verlassene Katze saß auf der Schwelle und miaute kläglich. Er hatte alles verschlossen und mit dem Amtssiegel versehen.

»Was willst du von deinem Vater, Maria?«

»Nichts. Aber ich mußt heut an ihn denken.«

Nun war die Gelegenheit da, nun mußte er die ergreifen, ihr die Wahrheit beibringen. Aber feige, wie er sonst niemals war, fühlte sich der Mann vor diesen Mädchenaugen.

Er hätte sich nicht zu fürchten gebraucht; sie hatte kein Weinen, kein Jammern bei dem, was er ihr erzählte, keine Verwunderung, keine Anklage, aber auch keine Entschuldigung. Stumm, mit einem Gesicht, aus dem alles Blut entwichen war und auch alle Jugend, hörte sie alles wider den Vater an. Adami hatte sie mit sich ins Amtszimmer genommen. Seinen Sekretär hatte er fortgeschickt, er hatte das Gefühl, ihr das letzte bißchen armseligen Stolz erhalten zu müssen.

Da, wo der Krinkhofer einst vor dem Schreibtisch gestanden hatte, stand jetzt seine Tochter. Das Licht des Tages lag voll auf ihr. Und wiederum fiel es Adami auf, wie sehr sie dem Vater ähnlich war. Dasselbe schöne, stolze Gesicht. »Wußtest du, was dein Vater war?« fragte er sie.

Sie neigte langsam den Kopf: ja, und schüttelte doch gleich darauf: nein. Was sollte sie sagen, die Antwort war »ja« und auch »nein«. Der Mann da wußte ja auch schon alles; er hatte Hans Bast gefangengenommen, Hans Bast lag in Ketten. Und den Üßmüller sollte Hans Bast auch erschossen haben? Und wie war's mit dem Mungel? Sie hörte Namen und dachte nicht nach, sie konnte nicht denken, sie fühlte nichts als Entsetzen. Die Zähne in die Lippe verbissen, stand sie bewegungslos. In ihrem Kopf ward es mit einemmal ganz leer, sie hatte gar nichts mehr darin. Sie hörte ein ungeheures Getöse, vor ihren Blicken ward's schwarz. Aber sie fiel nicht um.

Ein seltsames Mädchen! So stumpf. Keine einzige Träne. Adami wunderte sich: stand der Vater ihr so. fern, daß sein schreckliches Schicksal sie nicht einmal bewegte?

Es war still im Zimmer, eine ganze Weile. Winterfliegen, vom Sonnenschein geweckt, surrten am Fensterglas auf und nieder; Kinder kamen von der Schule draußen vorbei, man hörte das Trappeln ihrer Nägelschuhe und ihr fröhliches Schwatzen.

»Werden sie ihn totmachen?« fragte plötzlich Maria.

»Wer Blut vergießt, des Blut soll wieder vergossen werden«, sagte ernst der Richter. »Wie wir ihn aburteilen, das deutsche Gericht, kann man noch nicht wissen. Die Franzosen werden ihn zum Tode verurteilen, er hat den französischen Hauptmann ermordet. Dafür allein gebührt ihm schon Tod.«

»Dafür nit – o nein, dafür nit!« Laut aufschreiend streckte plötzlich das Mädchen beide Arme abwehrend. aus. »Ihr wißt ja nit, warum er den totgemacht hat!«

Der Aufschrei war so gewaltig, die Miene so verstört, die bis dahin Stumme so laut und voller Leidenschaft, daß Adami stutzte.

Maria war verwandelt, alle scheinbare Gleichgültigkeit verschwunden; die Hände ringend, schrie sie überlaut: »Dat hat mein Vater für mich getan, für mich! Der hatt' mich ja angefallen, als ich allein ging auf dem Weg von Trier, – in't Gebüsch halt' er mich geschleppt, wehren könnt ich mich da nit mehr. Herr, Herr!« Sie fiel vor dem Friedensrichter nieder und hob bittend die gerungenen Hände: » Dafür darf meinem Vatter nix geschehen!«

Des Richters Augen wurden groß und starr. Was – was sagte sie? Angefallen worden auf dem Weg von Trier, ins Gebüsch geschleppt – vergewaltigt, das meinte sie doch ohne Zweifel, und d'Aubry, der Ermordete am Reiler Hals, der, der war jener Schurke?! Hans Bast hatte ihn ermordet – der Vater hatte die Tochter gerächt! Alles war so seltsam, so verworren und doch so folgerichtig, unleugbar klar. Und dieses Mädchen log nicht.

Er faßte sich an die Stirn, die Stube drehte sich plötzlich – er war auf der Straße von Trier – er sah ein einsam wanderndes Mädchen – Trier, Trier! – er sah die Simeonstraße, das Patrizierhaus, die schöne Susanne hinter dem Blumenfenster. »Mein Gott, mein Gott«, stöhnte er auf. Maria, Susanne, d'Aubry, Hans Bast – die Gesichter jagten sich. Er faßte um sich, als suche er einen Halt, und seine Hand sank auf den Scheitel der Knienden.

»Steh auf!« Er zog sie empor. »Erzähle mir alles.«

Sie faßte sich, seine Miene flößte ihr Mut ein: ja, der verstand sie, der wußte, warum Hans Basts Tochter jetzt auf einmal wieder zum Vater hielt. Das gab ihr Worte. Die jagten sich; mit glühenden Wangen sprach sie. Aller Schreck der Überfallenen, alle Verzweiflung der Beraubten, alles Entsetzen der den Schänder Wiedererkennenden, der die Rache Wünschenden und doch vor der Rache Zitternden spielte sich vor Adami ab.

Er atmete gleich rasch mit ihr, er fühlte das Blut ebenso heiß in seinen Adern: Rache für die Entehrten – Susanne, Maria! Und es hallte ihm mit Dröhnen in den Ohren, was er einst hier in stiller Stunde gelesen hatte: »Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.«

Hans Bast! Groß und finster, und doch ganz so schrecklich nicht mehr, stand er vor ihm. Der Schmied von Krinkhof ein Verbrecher! Aber war der Mord an d'Aubry auch ein Verbrechen? Vor dem Gesetz ja. Aber vor der Menschlichkeit? Er wußte sich keine Antwort, seine Seele war bedrückt. Auf seiner Stirn perlte der Schweiß, als Maria aufgehört hatte zu sprechen. Er empfand nicht nur ihre Qual nach, er hatte auch eigene Qual. Susanne! Lange hatte er ihrer nicht gedacht, hatte nicht an sie denken wollen, und der Beruf, sein Pflichteifer, sein Ehrgeiz hatten ihm geholfen dabei. In dieser Stunde dachte er noch einmal an sie, und so, als ob er sie noch immer liebte. –

Es war ein verstörter Tag. Die Sonne, die am Morgen freundlich geschienen, hatte sich am Mittag verkrochen, nun zog noch einmal Schneegewölk herauf – oder brachte es erlösenden, auch die winterliche Eifel befreienden Regen? Adami sah von seinem Fenster das Band der Straße mit den demütigen Bäumchen, und auch er war demütig. Erbärmlich wie diese windgezausten, geduckten Ebereschen standen die Menschen, sie grünten im Frühling und versuchten das Blühen, und dann kam das Schicksal, der unbarmherzige Wind, und duckte ihnen die Krone.

Der Mann fühlte sich ohnmächtig. Alle Erfolge, die er erreicht hatte, erschienen ihm heute zwecklos. Zwei schuldige Häupter würden fallen: Johannes Bückler – Hans Bast Nikolai – und noch andere vielleicht ihnen folgen, aber was wurde damit erreicht? Ein abschreckendes Beispiel wurde gegeben, und doch wurden die Menschen nicht bester dadurch. Geschlechter würden kommen, Geschlechter gehen, Zeiten über die Länder hinrasen, die aus ihrem Bauch wiederum Kinder gebären, und diese Kinder zeugten wiederum Söhne, die Räuber waren, Diebe und Mörder. Er fühlte sich ganz verzagt und ganz machtlos.

Gott sei Dank, daß es an seine Tür klopfte! Er wurde abgelenkt. Der jüngste Üßmüller war es, der bei ihm eintrat. »Nun, was führt Ihn denn her?« Er sah es, der junge Mann hatte etwas Besonderes auf dem Herzen.

Verlegen stand Martin und nahm seinen Hut bald in die rechte Hand, bald in die linke. »Ich möcht die Maria sprechen. Sie will ja nit, dat ich bei sie komm. Aber ich muß sie sprechen.« Das letzte sagte er fest. Sein ehrlicher Blick sah Adami offen ins Gesicht: »Friedensrichter, Ihr wißt et, der Krinkhofer sitzt im Gefängnis, ihm wird der Prozeß gemacht – steht et arg schlimm um ihn?«

Der Friedensrichter bestätigte: »In der Tat.«

Der junge Mann nickte: »Dat hab ich mir gedacht. Darum muß ich die Maria sprechen. Ich will ihr sagen: dat ändert nix zwischen dir und mir. Da können die Leut sagen, wat sie wollen, und wenn der Hubert und der Nikla auch noch so dawider sind.«

»Er will sie doch heiraten?« In der Stimme Adamis klang einiges Erstaunen.

»Warum denn nit?« Nun war der Martin erstaunt. Wie konnte der Friedensrichter nur daran zweifeln? »Die kann doch nix für dat, wat ihr Vatter getan hat. Aber sie will nit. Jetzt weiß ich, warum sie immer und immer mich hingehalten hat mit unserm Verspruch.« Er war ganz gerührt. »Ach, Herr, da kann en Mann weit suchen, bis er so eine wieder findt. Un wenn sie zehnmal en Vatter hätt wie der Hans Bast, heiraten tät ich sie doch. Kann ich die Maria nit emal zu sprechen kriegen?«

Adami hatte dem jungen Mann still zugehört, nun ging er selber, ihm die Magd zu holen. Er hatte Maria geheißen, sich niederzulegen, ihre Augen hatten so krankhaft fiebrig geglänzt, und sie schien ihm nicht ganz ihrer Sinne mehr mächtig. Aber als er jetzt an ihre Kammer klopfte, antwortete sie nicht; er sah hinein, sie war nicht darin und auch nicht in der Küche. Er rief laut nach ihr. Im ganzen Haus war sie nicht. –

Maria hatte auf ihrem Bett gelegen; ihr Inneres war wie ausgeweidet, nur das Herz war noch darin geblieben, das drehte sich rastlos herum in der hohlen Brust, es war qualvoll. Wenn sie doch schlafen könnte! Aber das konnte sie nicht, wachen Auges mußte sie immer starren, hinaus durchs Kammerfensterchen über die Felder, die noch unbestellt lagen, hin zum Felsenhaupt der Lay, deren oberster Scheitel sich über das Hochland reckte. Da – da vorbei ging der Fußpfad hinab zur Mühle. Es war so ein lieblicher Weg, aber sie würde ihn nie mehr gehen. Diese Schluchten, diese Wälder, diese Wiesen, diesen Wildbach nicht mehr sehen. Ach, diesen Weg war sie zuletzt mit dem Martin gegangen! Noch fühlte sie all die Küsse, die er ihr aufgedrückt hatte; sie hatten sich gar nicht trennen mögen. Und doch war das noch nicht der letzte Abschied gewesen. Morgen mußte sie nun auch von hier fort!

Seit Maria gehört hatte, daß Hans Bast in Koblenz gefangen saß und welches Los seiner harrte, hatte sie nur noch den einen Gedanken: Flucht. Sie mochte den Martin nicht mehr sehen, sie schämte sich zu sehr. Und wenn sie hier länger blieb, dann konnte sie ihm nicht entgehen, er hatte ja gesagt: »Ich komm herauf zu dir, und wenn du et auch nit willst, ich komm doch!« Er würde ihr aufpassen. Flüchten, sich flüchten! Sich und den Vater ihm ganz aus dem Weg räumen, damit er wenigstens von allem frei kam. Ach, und er würde des noch froh werden. Denn jetzt wußte er es ja auch, was sie schon längst wußte! Sie kniff die Augen zu, kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Nein, sie könnte dem Martin nie mehr begegnen. Es könnte wohl sein, er käme nicht mehr herauf – ach, er hatte vielleicht gar nicht mehr den Wunsch und kein Verlangen mehr, sie zu sehen! – dann dürfte sie ruhig hierbleiben. Aber nein, nein, das hielte sie dann nicht aus: ihm so nah sein und doch nicht bei ihm sein dürfen, nein! Es war das einzige, sie machte sich morgen beim ersten Tagesstrahl auf, verließ auch dieses Haus und lief davon. Was rannte sie denn so unsinnig? Ach, es wollte sie ja gar keiner mehr einholen! Sie weinte.

Da tauchte vor ihren tränenverschleierten Blicken plötzlich eine Gestalt in den Feldern auf, eine wohlbekannte. Sah sie recht? Sie sprang vom Bett, drückte sich nah ans Fensterchen und starrte mit brennenden Augen hinaus. Er war es, er war es! Sie sah ihn näher und näher kommen, raschen Schrittes ging er. Schon konnte sie sein Gesicht deutlich erkennen, sein blondes Haar hell unterm Hut flattern sehen. Jetzt aber schnell fort! Wohin? Sie huschte eilends zum Haus hinaus, Regen fing an zu klatschen. Oh, daß sie ihm nur nicht zu begegnen brauchte! Sie verkroch sich beim Pferd in den dunkelnden Stall.

Hier fand sie Adami. »Hier bist du?« Er war sehr verwundert. Sie stand hinterm Pferd ganz in die Ecke gedrückt. »Der Martin ist da!«

»Wat will er?«

»Dich sehen, mit dir sprechen.«

»O nein, o nein!« Sie wehrte wild ab.

Das Mädchen war wirklich krank, es zitterte ja. »Komm ins Haus, Maria!« Er sprach freundlich zu ihr. Das konnte er wohl verstehen, daß sie verstört war, aber nun war der Martin ja da, und der war ein so verständiger Mensch, ein so prächtiger Mensch, der würde sie trösten. Aber je mehr er zum Lobe des jungen Mannes sprach, desto hartnäckiger drückte sie sich in die Ecke.

»Ich will ihn nit sehn – nie, nie mehr sehn – um Jesu willen, oh, so laßt mich doch!«

»Maria«, rief da des Martin Stimme. Es war ihm zu lang geworden im Zimmer, er war nachgekommen. Nun stand er im Stall, und es war, als sei der dunkle Raum heller geworden. Seine Stimme klang zuversichtlich und frei. »Wenn du nit zu mir kommen willst, dann komm ich zu dir und hol dich herein. Komm, Maria!« Er nahm sie bei der Hand und zog sie aus der Ecke.

Adami sah erstaunt, daß sie sich ziehen ließ; aber es war etwas Mechanisches darin, wie sie die Füße setzte, und sie hielt die Augen geschlossen. Er folgte dem Paar ins Haus und hieß es eintreten in sein Wohnzimmer, nicht in die Amtsstube, die so öde war.

Da saßen sie nun zu dreien, er auf dem Kanapee unter einem, jetzt in allen Amtshäusern des Rheinlandes verbreiteten Stich: »Napoleon Bonaparte, der Erste Konsul« – die jungen Leute auf zwei Stühlen ihm gegenüber. Maria hing nur auf einem Stuhleckchen, wie gewillt, jede Minute aufzuspringen und davonzulaufen. Aber Martins Hand hielt sie fest. Die schwarzen Wimpern beharrlich auf die bleiche Wange gesenkt, die dunklen Brauen zusammengezogen, daß sie sich wie düstere Schatten über der Nasenwurzel berührten, den Mund fest geschlossen, so saß sie stumm.

»Warum läufst du fort vor mir?« fragte Martin. »Ich lauf dir doch nach. Und wenn du bis dahin läufst, wo die Welt 'n End hat.«

Sie rührte sich nicht.

Er sprach weiter: »Ich hab dat Aufgebot gestern bestellt. Nächsten Sonntag hängen wir aus an der Kirch. Über vier Wochen bist du mein Frau.«

»Nein«, sagte das Mädchen. Es sah nicht auf.

»Doch«, sagte der Bursche. Fester drückte er ihre Hand und sah sie liebreich an. »Hast du mich denn nit e bißche lieb?«

»Doch, doch«, schluchzte sie plötzlich, »ich hab dich sehr lieb, aber gerad darum will ich dich nit. Du sollst kein Frau haben, auf die alle Leut mit Fingern zeigen: dat is dem Hans Bast seine Tochter, der war en Räuber und –«, sie schrie auf, riß sich los und verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Martin, und wenn et dazu noch wahr wär, dat eine Kugel vom Hans Bast deinen Vatter getroffen hat – o Jesus Maria, dat wird doch nit auch noch wahr sein?!«

»Sei ruhig!« Der Martin sprach zuversichtlich. »Ich glaub dat nit. Und dat ich nit glaub, dat is doch die Hauptsach. Und wenn et wär, kannst du dafür? Ich lieb dich, ich will dich, und alles andere geht mich nix an!«

Adami wunderte sich über den Müllerssohn – so jung noch und so viel Energie! Und eigentlich nur ein einfacher Mensch, ein Landkind, und doch so viel Feingefühl. Und vor allem so große Liebe! Es wurde ihm plötzlich heiß, es stieg ihm wie Scham zu Kopf: war denn auch er dieser Unbekümmertheit fähig, die alles andere beiseiteläßt und einzig und allein dem Trieb folgt, der den Baum blühen läßt und die Frucht reifen?! Sein Gesicht war sehr ernst. Er beneidete diesen jungen Menschen und bewunderte ihn zugleich. Und mit dieser Bewunderung kam ihm auch eine Beruhigung. Ach, was hatte er sich so oft um des Landes Schicksal gegrämt und um des Volkes Seele gebangt! Wozu das Bangen, wozu die Trübseligkeit? Aus dem Volk selber kam doch die Erneuerung, das fand sich zurecht wieder ganz allein. So wie diesen hier, gab es noch manchen, viele, und ihnen wurden Söhne geboren – nein, ihm brauchte nicht bange zu sein um ein Volk, das im tiefsten Kern voller Kraft war und gesund!

Freundlich sah er den jungen Mann an und nickte ihm zu. Dann drückte er Maria sanft nieder auf ihren Stuhl: »Du sollst ihm folgen, getrosten Mutes. Du hast vielleicht an ihm gutzumachen, was, weiß ich jetzt noch nicht. Wir werden es erfahren, wenn Hans Bast seinen Mund auftut. Aber wartet nicht, Kinder, werdet schon eher Mann und Frau; ihr kommt sonst nicht mehr zur Ruhe. Heutzutage muß man Mut haben – der Martin hat ihn. Willst du dich so von ihm beschämen lassen, Maria? Mich dünkt, es ist Feigheit von dir, wenn du nicht seine Hand nimmst. Halte dich fest an ihr!«

Damit ging er hinaus und ließ die beiden allein.


 << zurück weiter >>