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II

Auf der Eurener Flur reifte das Obst. Apfelbäume, Birnbäume in großer Zahl. Wie ein weiter Garten, von sanften Höhen schirmend beschützt, lag die Flur gegenüber der Stadt, Durch die Tore der alten Römerbrücke, Euren zu, strömten die Menschen. Sonst ging man hinüber, um Viez zu trinken – die Eurener machten einen vorzüglichen Most, in hohen Haufen geschichtet lag im Herbst das Obst, der Kelter harrend, am Straßenrand – heute wurden viel Äpfel zertreten, viel Birnen zerquetscht. Man rannte, man stürmte, um ja nichts zu versäumen. Es war ein Volksfest, der vornehmere Bürger hielt sich fern.

Aber die schwarze Suzette, des Bürgermeisters schöne Tochter, und ihre Freundin, die blonde Minette, ließen sich sehen auf der Eurener Flur. Sie hatten heute morgen eine Rolle gespielt im Dekadensaal, nun ließen sie sich am Nachmittag noch einmal bewundern. Sie gingen Arm in Arm, in denselben durchsichtig-weißen Kleidern vom Vormittag. Die schmiegten sich den schlanken Hüften eng und glatt an; hochgegürtet hob die kurze Taille den Busen, den ein zartes Flortuch bedeckte. Statt der Kränze, die sie am Morgen getragen, umwanden jetzt Bänder zweifach das Haar; süß lächelten die jungen Gesichter unter den Löckchen vor, die in die Schläfen hingen. Den Zipfel des langwallenden Rockes über dem Arm, den seidenen Beutel am Bändel, setzten sie behutsam die Füßchen in den schmalen, weit ausgeschnittenen Kreuzbänderschuhen.

Die beiden Freundinnen teilten sich in die Gunst des französischen Kapitäns, der, sporenklirrend, das schwarze Bärtchen als Fliege am Kinn, elegant in knapp anliegenden Reithosen, neben ihnen herschritt. Hauptmann d'Aubry hatte keinen Blick für die an ihm vorbeiströmende Menge; hochmütig streifte sein Auge flüchtig das Gerüst des Galgens, bei dem französische Soldaten Berge von Reisig schichteten. Das Gerüst sollte brennen. Ein Galgenarm war schon heruntergeschlagen, lachend hatte man ihn herabpoltern sehen, ein dreister Junge hatte ihn durchgesägt. Nun hing der Bube oben am Querbalken, bleckte die Zunge heraus wie einer, der gehängt worden, verdrehte die Augäpfel, daß man nur mehr das Weiße sah, und ließ den schlanken Körper hin und her schlenkern, wie der Wind manchesmal den entseelten Leib eines Gerichteten bewegt hatte. Die Zuschauer klatschten Beifall. Andere Zeiten! Dank der neuen Gesetze bedurfte man des Galgens nicht mehr; Gerechtigkeit und Frieden kamen von Frankreich herüber, sie würden herrschen, und niemand mehr würde sündigen. –

Die beiden Demoisellen kicherten: solch anmutig gedrechselte Komplimente hatte ihnen noch kein Trierer Jung' gesagt. Die schwarze Suzette wurde ganz elegisch, wenn sie dachte, daß sie doch eigentlich Herrn Friedrich Adami, dem Assessor beim Tribunal zu Koblenz, ihre Hand zugesagt hatte. Ach, der war so weit weg, eine ganze gewundene Moselstrecke lag zwischen ihm und ihr, Berge und Täler und wieder Berge, man fuhr mit dem Schiffchen drei Tage fast. Und gar mit der Diligence! Wer weiß, ob man sich überhaupt wiedersah, die Wege waren so unsicher, es trieb sich viel Gesindel herum, versprengte Marodeure – sie würde Herrn Adami gar nicht zuraten, so bald die Reise nach Trier zu wagen. Und wenn's etwa wahr wäre, daß er als Friedensrichter in den Kanton Lutzerath versetzt würde? Maria Josef, sie würde sich wohl hüten, da oben in Lutzerath, dem öden Eifelnest, ihre Jugend und Schönheit zu vertrauern.

Feuriger wurden die Blicke, die sie mit d'Aubry tauschte. Der war eigentlich ein Marquis, aber seinen hohen Titel hatte er fallen lassen, der paßte nicht in die Zeit, nur das »de« hatte er beibehalten.

Die blonde Minette mit den goldenen Locken wurde ganz eifersüchtig: sollte es nicht wahr sein, was der schöne Hauptmann ihr gestern am Gatter ihres Gärtchens zugeflüstert hatte, als er vorbeiritt und sie gerade Blumen schnitt? Sie hatte immer etwas zu tun im Garten, wenn er vorbeiritt in seine Kaserne im Kloster der Minoriten. Daß sie die Schönste der Schönen sei, eine blonde Sonne, hatte er geflüstert und ihre Hand geküßt mit einem solch saugenden Druck seiner Lippen, daß es sie durchschauerte wie nie zuvor.

D'Aubry teilte heute seine Gunst: Tag und Nacht taufte er scherzend die beiden Freundinnen – auf einen holden Tag eine süße Nacht. Sie verstanden recht gut Französisch. Der Kapitän bot beiden den Arm, es war nötig hier im Gedränge.

Einen Augenblick wallte es in Suzette auf: wenn Adami das erfuhr, daß sie einen anderen am Arm hing! Und Minette kam es plötzlich, daß es doch nicht recht sei, mit einem Franzos so zu spazieren. Aber das waren nur flüchtige Bedenken. Schon dämmerte es, der frühe Septemberabend begann sich zu senken.

Am Weg, unweit des Waldes, der an die Flur grenzte, hielt der Bursche auf seinem Gaul, mit dem Pferd des Hauptmanns am Zügel. Die Stute »Liberté« war unruhig, so lange zu stehen, das vertrug sie nicht. Auch Jean-Claude war ärgerlich, er riß die Stute im Maul, daß sie schäumte und auch sein Klepper unter ihm zu tänzeln begann. Er wollte zum Ball, er wollte sich auch amüsieren.

Da sagten sie »Freiheit und Gleichheit« – war das Freiheit, wenn er hier wie ein Sklave ausharren mußte? War das Gleichheit, wenn er nicht auch ein hübsches Mädchen in den Arm nehmen durfte? Brüderlichkeit – wenigstens eine von den zweien hätte der d'Aubry ihm überlassen können. Überhaupt der! Es wollte dem Burschen gar nicht so scheinen, als sei der Kapitän etwas Rechtes. Was der für Narben auf dem Rücken hatte! Er hütete sich zwar, sie zu zeigen, aber der Bursche hatte sie doch gesehen. Und Redensarten hatte der, Flüche, wie der gemeinste Fuhrknecht!

Jean-Claude – »Schankelödchen« hatte ihn seine Mutter genannt, er war von der Grenze zu Haus – ritt langsam auf und nieder. Vom Galgen her tönte lauter Gesang, Kreischen und Lachen; im Feuerschein sah er hüpfende Gestalten. Die tanzten wohl gar? Auf der Eurener Höhe krachte und knatterte es plötzlich, hoch bäumten die Pferde sich auf; droben wurde geschossen. Und jetzt flammte das Freudenfeuer eines mächtigen Holzstoßes.

» Sacré nom de dieu!« Der Bursche fluchte, beinahe hätte die Liberté einen Mann umgestoßen, der gebückt am Rain stand. Neben ihm tauchte jetzt noch ein zweiter auf. Unwillkürlich hielt der Bursche die Pferde fester: was wollen die? Scheu suchte er sie zu erkennen. Buschklepper? Aber dann lachte er. Die beiden Männlein in langen Röcken, abgegriffenen hohen Hüten und mit Ziegenbärten hatten nichts Erschreckendes an sich.

»Schöne Peerd,« sagte Moyses Mohnsam aus Bridel, und Herzchen Rosenblatt aus Reil streichelte unter leisem Schnalzen der Zunge die Liberté. »Gott der Gerechte, was kann der Mosjö reiten die wilden Peerd«, meinte Moyses bewundernd.

Der junge Mensch fühlte sich geschmeichelt; seine Reitkunst war nicht weit her, ehe die Franzosen ihn angeworben, hatte er nur auf dem Schneiderbock gesessen. Sein Hauptmann korrigierte immer an seinem Sitz. Aha, nun sah man's aber doch, daß er gut reiten konnte! Leute, die so flüchtig vorübergingen, sprachen ihn schon sogar darauf an. Er hatte keine Ahnung davon, daß die zwei ihn schon lange beäugten.

Hinterm ersten Waldbusch hatten sie niedergeduckt gesessen, sich leise wispernd einander mitgeteilt: wenn der Bückler vielleicht, oder ein anderer von jenen, so ein Pferd kriegen könnte! Dreißig Karolin und mehr wäre dran zu verdienen, der Bückler war nicht knauserig. Ob nichts zu machen war hier mit 'nem Handel? –

Jean-Claude war ein guter Junge, gefällig sprang er ab und ließ die beiden Juden die Pferde mustern. Sie taten's genau. Der eine behorchte Herz und Lunge und sah den Tieren ins Maul, der andere maß die Länge der Schweife und begutachtete dann besonders die Beine. Sie schienen Jean-Claude etwas von Pferden zu verstehen. Er hatte es ja immer gesagt, die Liberté war ein bißchen schwach auf der Vorderhand, und der Adonis hatte mit der Zeit einen Senkrücken gekriegt.

Ob die Pferdchen wohl zu verkaufen wären, fragten die Juden. – » Non, non.«

Sie verstanden sich ganz gut, lange Kriegsläufte und seit zwei Jahren französisch geworden, hatten auch den gemeinen Mann genug von der Sprache gelehrt. Und des Jean-Claude Mutter war von Geburt eine Deutsche, in großer Freude und in großem Schmerz vergaß sie 's Französisch, dann sprach sie Deutsch.

Wenn der Mosjö das Geschäft vermitteln wollte, würde es sein Schaden nicht sein. Die Landsleute brauchten Pferde, es waren ihnen alle abgenommen worden im Krieg – was sollte die Stute kosten?

Parbleu, sie hörten doch, daß die Pferde nicht zu verkaufen waren. Gleich würde der Kapitän kommen, dem sie gehörten; das heißt, sie gehörten der Republik, alles Eigentum war jetzt gemeinsam.

»Bei mein Gesund,« sagte Herz Rosenblatt und schlug klatschend der Liberté auf den Schenkel, »er spricht wie der weise Salomo!« Aber aufsitzen durfte man doch wohl einmal?

Dagegen hatte der Bursche nichts. Der Alte war dürr, ausgemergelt von Hunger, der würde die Liberté nicht drücken durch sein Schwergewicht. Verdutzt riß er die Augen auf: konnte der aber reiten! Wie angepicht saß der Händler, seine Rockschöße, zerschlissen und zerschlumpt, klatschten der Stute die Lenden, und sie, dadurch angeregt, schlug einen scharfen Galopp an. Ein paar Augenblicke sah es aus, als wollte die Liberté davonjagen auf Nimmerwiedersehen.

In Herz Rosenblatts Seele rangen Gewalten. Wenn er nun wegjagte? Einholen würde ihn niemand. Er hatte seine Gefreundte, da stellte er's Gäulchen unter. Und wenn alles still war davon, holte er's sich nach Reil – was würde viel Wesens jetzt sein um ein Pferd? Aber dann empörte er sich gegen sich selber: pfui, Herzchen Rosenblatt, du wirst doch nicht stehlen? So alt schon, fünfzig und drüber, und noch nicht redlich? Aber heißt das denn stehlen, wenn man einem was wegnimmt, was dem gar nicht gehört? Nicht gehört und doch gehört! Rosenblatt stieß dem Pferd die Hacken in die Seiten, es machte Sätze, hoch und höher, klatschender flatterten die Rockschöße, zerschlissen und zerschlumpt, der graue Ziegenbart wehte, eine wilde Leidenschaft kam Rosenblatt an. Wenn er den Gaul hätte, verkaufte, was für ein Geschäft! Er war ein gemachter Mann, sein Weib brauchte dann nicht mehr in Lumpen zu gehen, seine Kleinen nicht barfuß zu laufen – Herzchen Rosenblatt, Herzchen Rosenblatt, beim Gott deiner Väter, weh geschrien über deine Redlichkeit – ach, ach, und Moyses Mohnsam war ja auch dabei!

Mit einem gewaltigen Ruck hielt plötzlich der Jude das Pferd an, daß es sich beinahe auf die Hinterhand setzte. Er glitt herab, schweißüberströmt, totenblaß, hochatmend stand er vor dem verblüfften Burschen.

Der war heilfroh, sein Tier wiederzuhaben – dem Volk war ja nicht zu trauen.

» Allons« sagte er grob und schmitzte dem Alten mit den Lederriemen der Zügel ins Gesicht. »Pack' Er sich jetzt auf der Stelle!«

Moyses Mohnsam hatte sich schon zeitiger zurückgezogen, nun wankte der andere ihm nach; Blut schoß ihm aus der Nase und mischte sich mit dem Wasser, das ihm aus den Augen floß. Mit dem Geschäft war es nichts gewesen.

Den Rücken gekrümmt, demütigen Schrittes, verloren sich die beiden jetzt unter der Menge – vielleicht, daß es doch noch etwas zu handeln gab! –

Tiefer sank der Abend, es war schon ganz Nacht. Im huschenden Feuerschein tauchten Gesichter auf, die sich vordem nicht hatten sehen lassen. Wo das Gewühl am dichtesten war, drängten sich fremde Gestalten. Wer war der junge Mensch im dreieckigen hochgeschlagenen Hut, das Haar lang hängend auf den Bürgerrock aus blauem Tuch, das Kinn vergraben in hohe Halsbinde? Ein lustiger Geselle, er sprang wie ein Fohlen. Bald hatte er eine Frauensperson an der Hand.

War das nicht die Bänkelspielerin, die eine Woche zuvor sich hatte sehen lassen auf dem Trierer Markt im handbreiten Röcklein? Sie hatte getanzt auf dem Seil, das haushoch gespannt war über dem Pflaster, und hatte ein dreistes Stück aufgeführt mit einer Mannsperson, die verkleidet war als Hanswurst. Sie hatte auch gesungen zu Harfenspiel, war dann mit dem Teller sammeln gewesen von Haustür zu Haustür. Der Büttel hatte sie endlich verscheucht. Aber heut trug sie eine Haube wie andere Frauen aus dem Volke auch, hatte das Haar sittsam gescheitelt und das Kleid lang bis auf die Schuh. Aber doch war es dieselbe, denn – ein plötzliches Aufkreischen der Nächststehenden – sie schleuderte gewandt einem großen Mann mit der Spitze ihres Fußes den Hut vom Kopf. Hastig bückte sich der Erschrockene danach; es bückten sich viele, bald wälzte sich ein Knäuel von Menschen am Boden herum.

»Mein Hut, mein Hut!« Der Hut, der Hut – ja, wo war der? Und wo war die Châtelaine von Madame Mohr, wo das großblumige Taschentuch von Bürger Haas? Fischer Mathes vermißte seine Schnupftabaksdose, er klagte um sie wie um ein verlorenes Kind. Allgemeine Verwirrung, gewaltiges Entsetzen: was war nicht alles abhanden gekommen! Dieser hatte seine Uhr nicht mehr, jener suchte verzweifelt seine Börse. Diebe, Diebe – Zetermordio! An den Galgen mit den Halunken! Ach, der Galgen, der stand nicht mehr, ein Häuflein Asche nur war von ihm übriggeblieben. »Holt den Büttel! Haltet den Dieb!« Der mußte noch hier sein; da lief ja einer. »Haltet ihn, haltet ihn!«

Hinter Herz Rosenblatt setzten ihrer vier, fünfe drein. Die Seele im Leib zitterte ihm. Oh, wäre er nur nicht gelaufen! Er war sich keines Unrechts bewußt, nur nach einem Handelchen spürend war er umhergeschlichen; da kam der Lärm. Und nun wußte er aus Erfahrung: der Jud, der Jud, der hat's immer getan. Und angstvoll machte er sich auf die Beine. Er lief wie der Wind. Aber sie holten ihn rettungslos ein. Und sie visitierten ihm die Kleider, rissen die armen Plundern dabei vollends entzwei, durchsuchten ihn bis auf die nackte Haut und konnten nichts finden. »Er hat's fortgeworfen, rasch weggeschmissen!« Man hatte es ja gesehen. Sie bläuten auf den Herz Rosenblatt ein und zerschlugen ihm schier die Knochen. –

Das Fest der Galgenverbrennung hatte kein freundliches Ende genommen. Die Trierer drängten nach Haus, es war ihnen unheimlich geworden auf der Eurener Flur. So weit war es also schon gekommen mit der Unsicherheit, daß man nicht mehr geschützt war dicht vor Triers Toren? Es war bald ganz ruhig auf der Eurener Flur, still blinzelnd nur guckte der Mond über die schweigenden Höhen.

Der französische Kapitän mit den Demoisellen hatte auch den Heimweg angetreten, aber er ging nicht die Landstraße, die die anderen gingen. Er hatte sich seitab verloren, und seine Begleiterinnen hatten nichts dawider. Suzette fühlte sich sicherer vor neugierigen Augen im deckenden Busch, da konnte sie niemand an Adami verraten. Und auch Minette wurde freier, der Vater würde es doch nicht gern gesehen haben, daß sie am Arm des Franzosen ging. Im Wald war's ganz finster, der Pfad, der parallel mit der Landstraße auf die Stadt zulief, war schmal, sie mußten sich dicht aneinanderdrängen. Links die Blonde, rechts die Schwarze; die zarten Arme verliebt an sich drückend, verlangsamte d'Aubry immer mehr den Schritt. Hatte er sein Pferd, seinen Burschen denn ganz vergessen? »Setzen wir uns ein wenig, mes charmantes!«

*

Jean-Claude hatte lange gewartet. Erst in Geduld, dann in Ungeduld, zuletzt in Wut: kam der Kerl denn noch immer nicht? »Vermaledeites Cochon!« Er hatte ihn wohl mit den Mamsellen verschwinden sehen. Nun würde er sich auch nicht länger zum Narren halten lassen. Müde war er auch: morgens den Thron gestürmt, abends den Hanswurst von so einem gemacht, dazu die Langeweile des Wartens. Er band beide Pferde an; den Adonis drüben an die Buche, die Liberté hier an die Birke, er selber ließ sich an einen Tannenstamm nieder. Verträumt starrte Jean-Claude in das große Schweigen. Wie sich das Silber des Mondes immer mehr und mehr übers Feld ergoß! Nebel stiegen auf, leicht wehende, weißliche Schleier; eine Unke rief unter Steinen, das klang wie Glöckchen, und Grillen zirpten ihr Schlummerlied, ganz traulich, so wie abends bei Saarlouis in der Mutter Haus. Die gute Frau, ob sie wohl noch lebte? Seit die Franzosen ihn angeworben – wie verfluchte er das bereits –, hatte er nichts mehr von ihr gehört. Sie konnte nicht schreiben, und wenn sie auch hätte schreiben können, wo sollte ein Brief ihn finden? Bald hier, bald dort; hingeblasen bei der Trompete Ton, hingewirbelt bei Trommelschlag, ohne eigenen Willen, dem Kommando blind folgend, das war Soldatenlos. Wenn er sich Mühe gegeben, hätte er vielleicht ein Briefchen zustande gebracht, aber Dienst machen, Montur putzen, Pferde striegeln, essen, trinken, schlafen und wieder Dienst machen und Montur putzen und Pferde striegeln, das nahm die Lust. Und doch mußte Jean-Claude jetzt so sehr der Frau gedenken, an deren Herd er gesessen hatte, seit er sitzen konnte. Da hatten die Grillen gezirpt in der Hüttenmauer, geradeso wie jetzt, und die Mutter hatte ihm übers Gesicht gestrichen mit der Hand, die rauh war von Arbeit und doch so weich: »Schlafe, schlafe Schankelödchen!« Jean-Claude schlief ein.

Um die Pferde herum bewegte sich etwas – waren es Schatten? »Bei mein Gesund, e feines Peerdchen«, wisperte Mohnsam. »Was wird der Herr mir geben dafür, daß ich ihn hab' geführt her?«

Der Fremde im dreieckig aufgekrempten Hut, der vorhin am Galgen getanzt hatte, spuckte verächtlich aus: »Gor neist, du Hund!«

»Nichts, gar nichts? Ich schrei Zeter!«

Der Jude wollte schreien, aber er brachte nichts Lautes heraus, die Hand des Fremden preßte ihm die Gurgel zusammen. Ein Tritt – Moyses Mohnsam fiel um, lag am Boden. Er getraute nicht mehr sich zu rühren und auch nicht zu schreien.

Gewandt band der andere beide Pferde los, auf die Liberté schwang er sich, den Klepper nahm er an den Zügel. Heidi, fort, lautlos – ein Spuk.

An den Häusern von Euren vorbei stob der nächtliche Reiter. Plötzlich scheute das Handpferd.

»So kommste nit weit«, sagte eine Stimme. Keck stand das Weibsbild, mit dem er vorhin getanzt hatte, vor dem Reiter. »Nimm mich mit, laß mich aufsitzen!«

»Wohin willste denn?«

»Zum Hannes Bückler.« Die Bänkelspielerin lachte. »Hab' dich gleich erkannt. Hab' dein Bild angeschlagen gesehen. Jetzt hab' ich dich, Johannes Durchdenwald!« Sie lachte immer übermütiger.

»Schrei nit so!«

»Hab' auch deine Gesellen erkannt, drei waren bei dir. Hab ihnen geholfen beim Hut, bei der Uhr, beim Fazenetle Taschentuch., bei der Geldbörs und was sonst noch da war.«

»Sitz auf!«

Sie schürzte den Rock. An den Sattelknopf fassend, schwang sie sich leicht auf den Klepper. Sie setzte sich wie ein Mann.

»Du gefällst mir. Wo haste 's Reiten her?«

»Von mei'm Schatz, dem französischen Husarenoffizier. Bin mit dem gezogen en ganzes Jahr, auch als Husar.«

»Potz Teufel!« Er sah sie bewundernd an. Hatte sie ihm vorhin schon gefallen am Galgenplatz, daß er sie beim Tanz an sich preßte mit verliebter Glut, so gefiel sie ihm jetzt noch tausendmal mehr. »Wie heißt du?«

»Julie. Bin das Julchen aus Weyerbach. Aber der Hunsrück kann mir nit gefallen, 's zu armselig da. Und zu eintönig. Kennst ja auch die Elendsgegend.«

»Woher weißt du das?« fuhr er sie an.

»Ei je, dat weiß doch ein jeder, wo der Bücklerhannes her is. Frag' jedes Kind nach dem Hannes aus Rastätten – sie kennen dich all!«

Ein eitles Lächeln erschien auf seinem hübschen Gesicht. »Ei ja, sie kennen mich wohl. Der Johannes Durchdenwald schreibt ein klein Briefchen nur, und sie tragen ihm 't Geld in den Wald, wohin er sich 't hat bestellt. Aber weh dem, der ihn angibt!« Drohend sagte er's und sah sie scharf an.

»Ja, du bist fürchterlich!« Sie lachte schelmisch. Dann neigte sie sich zu ihm hinüber und legte den Arm um seinen Hals. »Nimmst du mich zu dir? Mein' Vatter hat man gehängt auf der rechten Rheinseit, meinen Bruder geköppt auf der linken Rheinseit, von meiner Mutter weiß ich nit, ist die auch tot, oder sitzt sie im Spinnhaus. Hannes, du Lieber, paß ich nit zu dir?« Sie schmeichelte sich an ihn.

Er küßte sie entbrannt. Ihre Pferde gingen dicht nebeneinander, so dicht, daß die Leiber sich aneinander rieben. So ritten sie, langsam, ohne Furcht, die ganze Nacht.


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