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XVIII.

Worin Herr von Schnack und seine zahlreichen Begleiter, um zur Feuerkugel zu gelangen, auch vor einem Einbruch nicht zurückschrecken.

 

Da entstand aber ein Sturmlauf sondergleichen.

Die in einem Augenblick überallhin verbreitete Meldung brachte die Touristen und die grönländische Bevölkerung außer Rand und Band; die auf der Reede liegenden Schiffe wurden von ihrer Mannschaft verlassen und ein wahrer Strom von Menschen wälzte sich in der von dem eingebornen Boten angegebenen Richtung hin.

Wenn aller Aufmerksamkeit jetzt nicht ausschließlich von dem Meteore in Anspruch genommen gewesen wäre, hätten die Leute gerade in demselben Augenblick einen schwer erklärlichen Vorgang bemerken müssen. Wie auf ein geheimes Signal lichtete eines der in der Bai liegenden Schiffe, ein Dampfer, dessen Schornstein schon seit dem Morgen Rauchwolken ausstieß, plötzlich die Anker und steuerte unter Volldampf aufs Meer hinaus. Es war ein Schiff von schlanker Form und jedenfalls ein vorzüglicher Schnellsegler. In wenigen Minuten verschwand er schon hinter der steilen Uferwand.

Ein solches Verhalten hätte doch auffallen müssen. Warum sollte das Schiff nach Upernivik gekommen sein, wenn es dieses gerade verlassen wollte, wo hier etwas Außerordentliches zu sehen war? Die Eile des Menschenhaufens war aber so groß, daß niemand die jedenfalls seltsame Abfahrt bemerkte.

Nur so schnell wie möglich vorwärts zu kommen, das war das einzige, was der sich drängenden Menge, worunter auch einige Frauen und selbst Kinder waren, heute im Sinne lag. Sich stoßend und mit den Ellbogen kämpfend, wälzte sich alles weiter ... nur weiter. Einer war aber doch darunter, der seine Ruhe vollkommen bewahrt hatte. In seiner Eigenschaft als eingefleischter Globetrotter, dessen Blut nichts in Wallung bringen konnte, schritt Mr. Seth Stanfort mit etwas verächtlichem Gesichtsausdrucke inmitten des tobenden Haufens dahin. War es nun feinfühlige Höflichkeit oder sonst ein anderes Gefühl, er hatte sich sogar aus der bisher eingehaltenen Richtung entfernt, um sich Mrs. Arcadia Walker zu nähern und ihr seine Dienste anzubieten. Und es erschien ja ganz natürlich, daß sie, bei ihrem freundschaftlichen Verhältnisse, zusammen wanderten, die Feuerkugel aufzusuchen.

»Endlich ist sie ja heruntergefallen, Mister Stanfort, lauteten Mrs. Arcadia Walkers erste Worte.

– Ja, endlich heruntergefallen, antwortete Mr. Seth Stanfort.

– Endlich heruntergefallen!« ertönte immer und immer wieder der Ruf der ganzen Volksmenge, die nach der Nordwestspitze der Insel zog.

Fünf Personen war es gelungen, sich an der Spitze des Schwarmes zu halten, als vorderster Herr von Schnack, der Vertreter Grönlands auf der Internationalen Konferenz, dem auch die Ungeduldigsten höflich den Vortritt einräumten.

In den kleinen freien Raum hinter diesem hatten sich sofort zwei Touristen eingedrängt, die Herren Dean Forsyth und Hudelson, denen noch Francis und Jenny auf dem Fuße folgten. Die jungen Leute spielten ihre Rolle auch hier in gleicher Weise wie auf dem »Mozik« weiter. Jenny hielt sich immer zu Mr. Forsyth und Francis Gordon widmete seine Sorgfalt dem Doktor Sydney Hudelson. Ihre Bemühungen waren zwar nicht immer gern gesehen worden, jetzt waren die beiden Rivalen aber so in ihre Gedanken versunken, daß sie den Tausch der beiden Helfer gar nicht bemerkten. Es konnte also gar nicht die Rede davon sein, daß sie gegen den Kniff der zwei jungen Leute, die jedes an ihrer Seite gingen, protestierten.

»Der Vertreter wird der erste sein, der von der Feuerkugel Besitz nimmt, brummte Mr. Forsyt.

– Ja, und der die Hand darauf legt, setzte der Doktor Hudelson in dem Glauben hinzu, er antwortete Francis Gordon.

– Das wird mich aber nicht abhalten, meine Rechte geltend zu machen! erklärte Mr. Dean Forsyth an Jenny gewendet.

– Nein, gewiß nicht!« stimmte Mr. Sydney Hudelson ein, der an seine Ansprüche dachte.

Zur größten Befriedigung der Tochter des einen und des Neffen des andern schien es tatsächlich so, als ob die beiden Gegner, ihre persönlichen Zwistigkeiten vergessend, jeder ihren Haß gegen den gemeinsamen Feind zu einem verschmelzen wollten.

Infolge eines Zusammentreffens glücklicher Umstände hatten sich die atmosphärischen Verhältnisse vollständig verändert. Mit dem Umspringen des Windes nach Süden hatte sich der Sturm gelegt. Wenn sich die Sonne über den Horizont auch nur wenige Grade erhob, drang ihr Schein doch durch die von ihren Strahlen halb aufgesaugten Wolken. Kein Regen mehr, keine Windstöße, eine klare Fernsicht, ruhige Luft und eine Temperatur, die sich zwischen neun und zehn Zentigraden hielt.

Zwischen der Station und der Inselspitze waren etwa fünf Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Ein Wagen wäre in Upernivik nicht zu beschaffen gewesen. Es ging sich übrigens ziemlich bequem auf dem flachen, steinigen Boden, dessen Ebene nur in der Inselmitte und in der Nachbarschaft des Ufers mit seinen steilen Felswänden unterbrochen war.

Hinter einem solchen Steilufer war die Feuerkugel niedergegangen und war deshalb von der Station aus nicht zu sehen.

Der Eingeborne, der als erster die große Neuigkeit gebracht hatte, diente als Führer, dicht hinter ihm folgten Herr von Schnack, die Herren Forsyth und Hudelson mit Jenny und Francis, hinter diesen wieder Omikron und der Astronom aus Boston und endlich die ganze Schar der Touristen.

Noch etwas weiter zurück wanderte Mr. Seth Stanfort zur Seite der Mrs. Arcadia Walker. Die beiden Ex-Gatten waren von dem Bruche zwischen den beiden Familien vollständig unterrichtet, und aus den vertraulichen Mitteilungen Gordons, mit dem Mister Seth Stanfort auf der Reise etwas näher bekannt geworden war, hatte dieser auch von den Folgen jener Uneinigkeit erfahren.

– Das wird sich schon wieder ausgleichen, prophezeite Mrs. Arcadia Walker, als auch sie von Stanfort über die Sachlage unterrichtet worden war.

– Wenigstens wäre es zu wünschen, meinte Mr. Seth Stanfort.

– Gewiß, sagte Mrs. Arcadia, und dann wird alles nur um so besser gehen. Wissen Sie, Mister Stanfort, so einige Schwierigkeiten und Beunruhigungen vor der Ehe sind gar nicht vom Übel. Zu leicht abgeschlossene Heiraten gehen oft ebenso leicht wieder auseinander. Meinen Sie das nicht auch?

– Ja, natürlich, Mistreß Arcadia. Unser Beispiel ist ja ein Beweis dafür. Nur fünf Minuten ... im Sattel sitzend ... gerade genug Zeit, einander die Hand zu bieten ...

– Um das nach sechs Wochen, da aber zur Verabschiedung voneinander, zu wiederholen! unterbrach ihn Mrs. Arcadia Walker lachend. Nun, wenn sich Francis Gordon und Miß Jenny Hudelson auch nicht zu Pferde trauen lassen, glücklich können sie darum doch ebensogut werden!«

Es bedarf wohl nicht der Versicherung, daß Mr. Seth Stanfort und Mrs. Arcadia Walker unter der Menge von Neugierigen die einzigen waren, die – nur mit Ausnahme der beiden jungen Verlobten – sich in diesem Augenblicke nicht mit dem Meteor beschäftigten und nicht davon sprachen, sondern ruhig philosophierten, wie es wahrscheinlich auch Mr. John Proth getan hätte, an den die wenigen Worte, die sie eben gewechselt hatten, sie so deutlich erinnerten, daß sie ihn mit seinem gutmütigem Gesichtsausdruck vor sich zu sehen glaubten.

Raschen Schrittes gingen alle hin über den nur von magerem Gebüsch unterbrochenen ebenen Erdboden, von dem unzählige Vögel so geängstigt aufflatterten, wie es in den Umgebungen von Upernivik noch nie vorgekommen war. In einer halben Stunde waren über drei Viertel des Weges zurückgelegt und nur noch tausend Meter zu überwinden, die Feuerkugel zu erreichen, die sich den Blicken hinter einer Krümmung des hohen Ufers verbarg. Dort mußte man sie nach der Versicherung des grönländischen Führers finden und dieser Eingeborne konnte sich hier nicht irren. Eben mit Erdarbeiten beschäftigt, hatte er den blendenden Glanz des Meteors ganz deutlich gesehen und das Krachen bei dessen Aufschlagen ebenso gehört wie, selbst in großer Entfernung, noch manche andere.

Ein in dieser Gegend unverständlicher Umstand zwang da die Touristen ein wenig auszuruhen. Es war recht warm geworden. Ja, so unglaublich es erscheinen mag, die Leute wischten sich die Stirn ab, als befänden sie sich in einem weit gemäßigteren Klima. War es nur ihr schneller Marsch gewesen, der die Tätigkeit ihrer Haut angefacht hatte? Gewiß mochte der dazu beigetragen haben, unzweifelhaft war aber auch die Lufttemperatur gestiegen. Hier, ganz nahe der Nordwestspitze der Insel, hätte das Thermometer gegen eins in Upernivik jedenfalls einen Unterschied von mehreren Graden gezeigt. Es schien sogar, als ob die Wärme noch zunähme, je mehr man sich dem Ziele näherte.

»Sollte die Ankunft der Feuerkugel etwa gar das Klima des Archipels verändert haben? fragte Mr. Stanfort lachend.

– Das wäre wenigstens ein Glück für die Grönländer! antwortete Mrs. Arcadia im nämlichen Tone.

– Möglicherweise befindet sich der Goldblock, übermäßig erhitzt durch die Reibung an den Luftschichten, noch in glühendem Zustande, erklärte der Astronom aus Boston, und seine strahlende Wärme macht sich bis hierher fühlbar.

– Sehr schön! rief Mr. Seth Stanfort, und da sollen wir wohl warten, bis er sich abgekühlt hat?

– Die Abkühlung würde schneller erfolgt sein, wenn er außerhalb der Insel, statt auf diese niedergefallen wäre,« sagte Francis Gordon, auf seine Lieblingsansicht zurückkommend, leise für sich.

Auch ihm und nicht ihm allein war es recht warm geworden. Herr von Schnack und Mr. Wharf schwitzten wie er und ebenso die ganze Volksmenge samt den Grönländern, denen so etwas noch niemals vorgekommen war.

Nachdem man sich eine gute Weile verschnauft hatte, ging es mit frischen Kräften weiter. Noch fünfhundert Meter und jenseits der Uferhöhe würde sich die Feuerkugel in all ihrem blendenden Glanze zeigen.

Leider mußte Herr von Schnack, der an der Spitze ging, schon nach zweihundert Metern wieder Halt machen und hinter ihm die Herren Forsyth und Hudelson und hinter diesen wieder die ganze ungeduldige Menschenmenge. Diesmal war es nicht die Wärme, die alle zum zweitenmal zum Halten nötigte, sondern ein unerwartetes Hindernis, ja das unerwartetste Hindernis, das man in einem Lande wie diesem hätte voraussehen können.

Eine Einhegung von Pfählen, die untereinander dreifach mit Eisendraht verbunden waren und die sich in einem endlosen Bogen fortsetzte, reichte rechts und links bis hinunter zum Strande und versperrte den Weg auf allen Seiten. Ja, in gewisser Entfernung erhoben sich höhere Pfähle als die andern und trugen einen Anschlag, worauf der Inhalt gleichmäßig in englischer, französischer und dänischer Sprache wiederholt war. Herr von Schnack, der gerade einen dieser Anschläge vor sich hatte, las darauf höchst verwundert die Worte: »Privateigentum! Eintritt streng verboten!«

Ein Privatbesitztum ... hier in so weltferner Gegend, das war doch etwas gar zu Außergewöhnliches! An den sonnenreichen Ufern des Mittelländischen Meeres und selbst an den mehr nebeligen des Ozeans drängen sich wohl die Landsitze, doch hier an den Ufern des Eismeers? Was konnte der seltsame Besitzer nur mit diesem unfruchtbaren und steinigen Stück Land beginnen?

Jedenfalls ging das Herrn von Schnack nichts an. Absurd oder nicht von dem Mann, ein Privatbesitztum versperrte ihm den Weg und dieses mehr moralische Hindernis hatte all seinen Wagemut gebrochen. Ein amtlicher Abgeordneter respektiert natürlich die Grundsätze, worauf die zivilisierte Gesellschaft beruht, und die Unverletzlichkeit des Privateigentums ist doch ganz allgemein anerkannt.

An diesen Grundsatz hatte der Eigentümer also Sorge getragen, die zu erinnern, die ihn etwa vergessen hätten. »Eintritt streng verboten!« erklärte ausdrücklich und in drei Sprachen den Willen des Besitzers.

Herr von Schnack war völlig verdutzt. Hier stehen zu bleiben erschien ihm doch als eine sehr starke Zumutung ... doch die Kehrseite: Das Eigentum eines andern mit Verachtung aller göttlichen und menschlichen Gesetze zu verletzen!

Ein von Minute zu Minute zunehmendes Murren entstand inzwischen am Ende des Zuges und setzte sich in wenigen Augenblicken bis an seine Spitze fort. Die hintern Reihen, die die Ursache der Verzögerung nicht kannten, gaben ihrem Unwillen darüber unverblümten, lauten Ausdruck. Von dem Zwischenfalle unterrichtet, beruhigte sie das auch noch nicht, im Gegenteil steigerten sich die Proteste zu einem Höllenspektakel, da alle auf einmal durcheinander schrien.

Sollte man denn vor diesem Drahtzaune für immer stehen bleiben? Sollte man, nach Zurücklegung Tausender von Seemeilen, um hierher zu kommen, sich nun lächerlicherweise von einer schwachen Einhegung vom letzten Ziele zurückhalten lassen? Der Besitzer des Stückchens Land konnte doch nicht so töricht sein, sich auch für den Eigentümer der Feuerkugel zu betrachten? Er hatte also gar kein Recht, den Zutritt zu verbieten. Und wenn er das doch beabsichtigte, so würde man sich diesen ganz einfach zu erzwingen haben.

Ob Herr von Schnack von dieser Hochflut von Gründen wohl besiegt wurde? Jedenfalls gerieten seine Grundsätze ins Schwanken. Genau vor ihm und nur mit einem dünnen Faden geschlossen, befand sich in der Einhegung eine kleine Tür. Mit einem Messer zerschnitt Herr von Schnack den Faden und ohne daran zu denken, daß ihn diese Handlung zu einem gewöhnlichen Einbrecher stempelte, betrat er das verbotene Gebiet.

Die einen durch die Tür, die andern, indem sie über die Drähte sprangen, drängte die geschlossene Menge sich nach. In kürzester Zeit hatten dreitausend Menschen das »Privateigentum« überschwemmt, eine erregte, lärmende Menge, die lebhaft über diesen unerwarteten Fall hin und her sprach.

Wie durch Zauberschlag trat da aber allgemeine Ruhe ein.

Hundert Meter vom Drahtzaune wurde plötzlich eine Art, bisher von einer Bodenwelle verdeckte Blockhütte sichtbar, und eben öffnete sich deren Tür, in der ein Mann von recht seltsamem Äußern erschien. Der redete die Eindringlinge ruhig an:

»Heda! Halt einmal, Ihr da drüben! rief er französisch mit etwas rauher Stimme. Was ist das für eine Frechheit, auf eingehegtes Privateigentum einzudringen? Gibt es Gesetz und Ordnung hier in Grönland gar nicht mehr?«

Herr von Schnack verstand französisch. Er blieb auf der Stelle stehen und hinter ihm ebenso die Touristen, die – wohl in gleicher Empfindung – dem ungewöhnlichen Sprecher dreitausend gespannte Gesichter zuwandten.


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