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II.

Das den Leser in das Haus Dean Forsyths einführt und ihn in Verbindung mit dessen Neffen Francis Gordon und seiner Haushälterin Mitz bringt.

 

»Mitz ... Mitz!

– Mein Söhnchen? ...

– Was ist denn mit ihm los, mit meinem Onkel Dean?

– Ja, das weiß ich auch nicht.

– Ist er etwa krank?

– Jetzt wohl nicht; wenn das aber so fortgeht, wird er's sicher werden.«

Diese Worte wurden zwischen einem jungen Mann von dreiundzwanzig und einer Frau von fünfundsechzig Jahren gewechselt, und zwar im Speisezimmer eines Hauses der Elisabethstraße in der schon oft genannten Stadt Whaston, wo eben eine der auch nach amerikanischem Muster originellsten Trauungen stattgefunden hatte.

Dieses Haus der Elisabethstraße gehörte dem Mr. Dean Forsyth. Mr. Dean Forsyth zählte fünfundvierzig Jahre, was man ihm auch gut genug ansah. Ein mächtiger, auffallender Kopf, kleine Augen mit einer Brille mit sehr scharfen Gläsern, leicht gewölbte Schultern, ein kräftiger Hals, den in jeder Jahreszeit ein Halstuch, das bis zum Kinn hinaufreichte, in doppelter Lage umhüllte, ein weiter, faltiger Oberrock, eine weiche Weste, deren unterste Knöpfe nie benutzt wurden, etwas zu kurze Beinkleider, die nicht bis auf die Schuhe reichten, eine auf halbergrautem, wirrem Haar tief im Nacken sitzende hohe Mütze, ein Gesicht mit tausend Falten, das mit dem fast allen Nordamerikanern gemeinsamen Spitzbart endigte, ein reizbarer Charakter, der sich immer nur zwei Millimeter von der Marke »Zorn« entfernt hielt ... das wäre etwa das Signalement dieses Mr. Dean Forsyth, von dem sein Neffe Francis Gordon und seine Haushälterin Mitz am Morgen des 21. März sprachen.

Francis Gordon, der seine Eltern schon sehr frühzeitig verloren hatte, war von Dean Forsyth, einem Bruder seiner Mutter, erzogen worden. Obgleich ihm von seinem Onkel später ein gewisses Vermögen zufallen sollte, hatte er nicht geglaubt, sich ernster Arbeit entziehen zu dürfen, und Mr. Forsyth war derselben Meinung gewesen. Der Neffe erwarb sich deshalb auf der berühmten Harward-Universität zuerst die allgemeine höhere Schulbildung und studierte dann die Rechte. Jetzt fungierte er als Advokat in Whaston und war als der schlagfertigste Verteidiger der Witwen und Waisen und als der beste Vermittler in kleinen Streitigkeiten bekannt. Er kannte die Gesetze des Landes gründlich und zeichnete sich durch eine fließende Sprechweise mit eindringlicher, überzeugender Stimme aus. Alle seine Kollegen, die jungen wie die alten, schätzten ihn aufrichtig, und er hatte sich überhaupt nie einen Feind gemacht. Von ansehnlichem Äußern, mit vollen kastanienbraunen Haaren und schönen schwarzen Augen, von elegantem Auftreten, geistvoll ohne Bosheit, dienstwillig ohne sich vorzudrängen, nicht ungeschickt in allen Arten des Sports, dem die amerikanische Gentry so leidenschaftlich zu huldigen pflegt ... dabei war's ja kein Wunder, daß er unter den vornehmen jungen Männern der Stadt mit zu den ersten gehörte. Warum hätte er es da nicht wagen können, sein Herz der reizenden Jenny Hudelson, der Tochter des Doktor Hudelson und dessen Gattin, einer gebornen Flora Clarish, zuzuwenden?

Noch ist es jedoch zu zeitig, die Aufmerksamkeit des Lesers auf diese junge Dame zu lenken. Jenny Hudelson wird richtiger erst im Schoße ihrer Familie auf der Bühne zu erscheinen haben, und dieser Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Zu lange wird das jedoch nicht mehr dauern. Wir sind nur gezwungen, streng methodisch bei der Weiterentwicklung dieser Erzählung zu verfahren, die durch Seitensprünge, zu sehr gestört werden würde.

Was Francis Gordon betrifft, sei hier hinzugefügt, daß er in dem erwähnten Hause der Elisabethstraße wohnte, welches er jedenfalls auch vor dem Tage seiner Vermählung mit der Miß Jenny nicht verlassen würde ... doch nochmals: lassen wir Miß Jenny, wo sie ist, und sagen wir nur, daß die gute Mitz die Vertraute des Neffen ihres Herrn war, den sie wie einen Sohn, eigentlich mehr wie einen Enkel liebte, denn die Großmütter halten ja gewöhnlich den Rekord in der mütterlichen Zärtlichkeit.

Mitz, eine Musterdienerin, derengleichen man jetzt vergeblich suchen würde, gehörte noch zu der jetzt erloschenen Art, die etwas von der Natur des Hundes und der Katze an sich hat: von der des Hundes, der sich treu an seinen Herrn anschließt, und von der der Katze, die an das Haus gefesselt bleibt, in das sie gehört. Man kann sich wohl leicht vorstellen, daß Mitz dem Mr. Dean Forsyth gegenüber das Herz auf der Zunge hatte. Wenn dieser unrecht hatte, sagte sie es ihm frank und frei ins Gesicht, doch mit so bestechenden Wendungen, daß sich ihre Worte in deutscher Sprache gar nicht treu wiedergeben lassen. Wollte Forsyth aber dennoch keine Einsicht haben, so blieb ihm nichts andres übrig, als sie stehen zu lassen, sich in sein Kabinett zurückzuziehen und dieses fest zu verriegeln.

Mr. Dean Forsyth brauchte jedoch niemals zu fürchten, hier allein zu sein. Er fand in dem Zimmer stets noch eine andre Person, die sich in derselben Art den Verweisen und Ermahnungen Mitzens entzogen hatte.

Diese Persönlichkeit hörte auf den Namen Omikron. Ein seltsamer Name, der sich von der untermittlern Natur eines Männchens herleitete, welches, wenn der Betreffende nicht gar so klein gewesen wäre, gewiß auch noch den Zunamen Omega erhalten hätte. Im Alter von fünfzehn Jahren vier Fuß sechs Zoll groß, war das Männchen später nicht weiter gewachsen. Sein richtiger Name lautete Tom Wife, und er war in jenem Alter, schon zu Lebenszeiten des Vaters Dean Forsyths, als junger Diener in dessen Haus gekommen. Da er jetzt fünfzig Jahre zählte, liegt es auf der Hand, daß er bereits fünfunddreißig Jahre bei dem Oheim Francis Gordons im Dienste stand.

Hier müssen wir einflechten, woraus denn dieser Dienst bestand. Darin nämlich, Mr. Dean Forsyth bei seinen Arbeiten zu unterstützen, Arbeiten, für die er eine nicht minder große Leidenschaft hatte als sein Herr.

Mr. Dean Forsyth arbeitete also?

Ja freilich; doch nur aus Liebhaberei, aber mit welchem Eifer, mit welcher Zähigkeit, das wird sich im weitern Verlaufe dieser Erzählung zeigen.

Womit beschäftigte sich denn Mr. Dean Forsyth? Mit Heilkunde oder Rechtswissenschaft, mit Literatur oder Kunst oder vielleicht mit Handelsgeschäften, wie so viele Bürger des freien Amerika?

Fehlgeschossen!

Nun, womit denn dann? fragt der Leser. Doch wohl mit den Wissenschaften?

Auch das nicht, wenigstens dieser Plural ist nicht richtig. Nein, nicht mit den Wissenschaften, sondern mit der Wissenschaft, nämlich der erhabensten, in der Einzahl: ausschließlich mit der, die sich die Astronomie nennt.

Er träumte nur von Planeten- und Sternentdeckungen. Nichts oder fast nichts von dem, was auf unserer Erdkugel vorging, schien ihn zu interessieren, er lebte nur in dem unendlichen Weltraume. Da er darin aber weder ein Frühstück noch ein Mittagsmahl gefunden hätte, mußte er des Tags über wohl oder übel wenigstens zweimal von da herabsteigen. Gerade am heutigen Tage stieg er nicht zur gewohnten Stunde herunter; er ließ auf sich warten, worüber Mitz, die den Tisch längst zurecht gemacht hatte, wirklich schimpfte.

»Er wird also gar nicht kommen? rief sie wiederholt.

– Ist denn Omikron schon da? fragte Francis Gordon.

– Der? ... Na, der steckt doch immer, wo sein Herr ist, erwiderte die Haushälterin. Ich habe wahrhaftig nicht Beine genug – ja, so drückte sich die ehrbare Mitz wirklich aus! – nicht genug, auf seinen Hühnerstall hinaufzuklettern!«

Der betreffende Hühnerstall war nichts mehr und nichts weniger als ein Turm, der zwanzig Fuß über das Dach emporragte oder, um das Kind beim rechten Namen zu nennen, eine Sternwarte. Unter der obern Galerie befand sich ein rundes Zimmer mit vier nach den Haupthimmelsgegenden gerichteten Fenstern. Im Innern standen, auf ihrem Untergestell drehbar, mehrere Fernrohre und einige stark vergrößernde Teleskope, und wenn deren Objektive nicht abgenutzt aussahen, so lag das nicht darin, daß sie unbenutzt gewesen wären. Weit eher war zu befürchten, daß Mr. Dean Forsyth und Omikron dadurch, daß sie mit den Augen immer vor den Okularen ihrer Instrumente lagen, sich die Augen schließlich gründlich verderben würden.

In diesem Zimmer verbrachten die beiden, einander zeitweilig ablösend, den größten Teil des Tages und der Nacht. Sie blickten umher, beobachteten, durchsuchten die Zwischenräume der Sterne immer in der Hoffnung auf eine Entdeckung, die sich mit dem Namen Dean Forsyths verknüpfen sollte. Bei klarem Himmel war das ja leicht; es gehörte hier aber dazu, daß er auch über dem Abschnitt durch den siebenunddreißigsten Breitengrad war, der durch den Staat Virginien verläuft. Wolkengebilde – Cyrrhus-, Nimbus- und Cumuluswolken – gab es hier aber genug und jedenfalls mehr, als sich Herr und Diener wünschten. Und das Jammern, die Drohungen gegen das Firmament, über das der Wind diese Ballen von Wasserdunst hintrieb!

Gerade in den letzten Tagen des März war die Geduld Mr. Dean Forsyths mehr als je auf die Probe gestellt worden. Seit mehreren Tagen blieb der Himmel zur vollen Verzweiflung des Astronomen hartnäckig dicht bedeckt.

Aber heute, am 21. März, wehte ununterbrochen ein scharfer Westwind über die Erde und jagte ein ganzes Meer von trostlos dunkeln Wolken über das Firmament hin.

»Wie schade! seufzte Mr. Dean Forsyth zum zehnten Male nach einem mißglückten Versuch, die dichte Dunstmasse zu durchdringen. – Ich habe so eine Ahnung, daß wir jetzt eine selten wiederkehrende Gelegenheit verpassen, daß uns eine aufsehenerregende Entdeckung verloren geht.

– Das ist wohl möglich, antwortete Omikron, sogar höchst wahrscheinlich, denn vor einigen Tagen schien es mir bei einer kurzen Aufhellung des Himmels, als bemerkte ich ...

– Und ich, ich habe deutlich gesehen, Omikron ...

– Also alle beide, beide zu derselben Zeit!

– Oho, Omikron! protestierte Dean Forsyth.

– Ja ja, Sie natürlich zuerst, lenkte Omikron mit vielsagendem Achselzucken ein. Doch als mir die betreffende Erscheinung auffiel, glaubte ich, sie müsse ... nein, sie rühre unzweifelhaft von ...

– Und ich, fiel ihm Dean Forsyth ins Wort, ich erkläre mit Bestimmtheit, daß es sich dabei um ein von Norden nach Süden hinziehendes Meteor handelte.

– Ganz recht, Mister Dean, perpendikulär zur Bahn der Sonne.

– Zu ihrer scheinbaren Bahn, Omikron.

– Ja, zu ihrer scheinbaren, das versteht sich von selbst.

– Und das war am sechzehnten März.

– Ganz recht, am sechzehnten.

– Um sieben Uhr siebenunddreißig Minuten und zwanzig Sekunden.

– Und zwanzig Sekunden, wiederholte Omikron, wie ich nach unserer Normaluhr festgestellt habe.

– Und seither ist es nicht wieder sichtbar gewesen! rief Mr. Dean Forsyth mit einer drohenden Handbewegung gegen den Himmel.

– Wie wäre das möglich gewesen? ... Wolken, Wolken und immer wieder Wolken! Seit vollen fünf Tagen nicht so viel blauer Himmel, daß sich daraus hätte ein Sacktuch schneiden lassen!

– Ja, ein besonderes Pech, rief Dean Forsyth, mit dem Fuße stampfend. Ich glaube, so etwas kann nur mir passieren!

– Jawohl, nur uns!« berichtigte ihn Omikron, der an den Arbeiten seines Herrn nun einmal einen Halbpart in Anspruch nahm.

Eigentlich hatten ja alle Bewohner der Umgegend dieselbe Berechtigung, sich über die den Himmel verdüsternden Wolken zu beklagen. Ob die Sonne scheint oder nicht, das geht die ganze Welt gleichmäßig an.

So allgemein die Klage über die gegenwärtigen Witterungsverhältnisse aber auch berechtigt gewesen wäre, niemand würde doch die törichte Anmaßung gezeigt haben, darüber in eine so borstige Laune zu geraten wie Mr. Dean Forsyth, als die Stadt jetzt von einem dichten Dunstschleier umhüllt war, gegen den die mächtigsten Teleskope, die besten Fernrohre nichts auszurichten vermochten. Solche Nebeltage sind übrigens in Whaston nichts Seltenes, obgleich die Stadt an dem klaren Wasser des Potomac lag und nicht an den schlammigen Fluten der Themse.

Was hatten denn nun der Herr und der Diener am 16. März bei einer Aufklärung des Himmels gesehen oder zu sehen geglaubt? ... Nichts weniger als eine kugelförmige Feuerkugel, die sich genau von Norden nach Süden mit großer Geschwindigkeit hinbewegte und einen solchen Glanz verbreitete, daß sie siegreich gegen das zerstreute Licht der Sonne ankämpfte. Da ihre Entfernung von der Erde aber sehr, sehr viele Kilometer betragen mußte, wäre es möglich gewesen, sie eine gewisse Zeitlang zu verfolgen, wenn kein so trotzig anhaltender Nebel jede Beobachtung verhindert hätte.

Seit dem erwähnten Zeitpunkte ertönten also die Klagen, die diese unglücklichen Verhältnisse hervorriefen. Würde die Feuerkugel nach dem Horizonte von Whaston zurückkehren? Würde man die Elemente ihrer Bahn berechnen, ihre Masse, ihr Gewicht und ihre Natur noch bestimmen können? Und sollte nicht vielleicht ein anderer Astronom mehr begünstigt sein, einer, der den Weltkörper an einer anderen Stelle des Himmels beobachten konnte? Würde Dean Forsyth, der den Weltraumwandrer so wenig vor seinem Teleskop gehabt hatte, dennoch ausersehen sein, seinen Namen an dessen Entdeckung zu heften, oder würde die Ehre dafür einem jener Gelehrten der Alten oder der Neuen Welt zufallen, einem der Berufsastronomen, die Tag und Nacht den Himmel durchstöbern?

»Diese Ramscher! wetterte Dean Forsyth. Diese schrecklichen Himmelspiraten!«

Am ganzen Vormittag des 21. März hatte es weder Dean Forsyth noch Omikron über sich gewinnen können, trotz der ungünstigen Witterung von dem nach Norden gelegenen Fenster zu weichen. Ihr Unmut hatte, je mehr die Stunden verstrichen, desto mehr zugenommen. Dean Forsyth ließ die Blicke über den weiten Horizont hin schweifen, der an dieser Stelle vom unregelmäßigen Profil der Hügel von Serbor begrenzt wurde, über die der steife Wind die hellgrauen Wolken hinjagte. Omikron erhob sich auf die Fußspitzen, um sich den infolge seiner Kleinheit beschränkten Gesichtskreis zu erweitern. Der eine hatte die Arme gekreuzt und preßte die geballten Fäuste gegen die Brust; der andre hämmerte mit seinen etwas runzligen Fingern auf das Fensterbrett. Einzelne Vögel flatterten mit lautem Gekreisch vorüber, als wollten sie den Herrn und den Diener verspotten, die sich als Zweifüßer nicht von der Erde erheben konnten. O, wenn die hätten den Vögeln in ihrem Fluge folgen können, wie bald hätten sie die Dunstschichten durchmessen und dann vielleicht auch den Asteroiden gesehen, wie er seinen Lauf im blendenden Licht der Sonne fortsetzte.

Eben jetzt klopfte es an die Tür.

Dean Forsyth und Omikron hörten es nicht.

Da öffnete sich die Tür und Francis Gordon erschien auf der Schwelle.

Dean Forsyth und Omikron wendeten sich auch jetzt nicht um.

Der Neffe näherte sich dem Onkel und berührte ihn leicht am Arm.

Mr. Dean Forsyth warf seinem Neffen einen so »entfernten« Blick zu, als käme dieser vom Sirius oder mindestens vom Monde.

»Was ist denn los? fragte er.

– Lieber Onkel, das Frühstück wartet auf Dich.

– Ah, wirklich, erwiderte Dean Forsyth, es wartet also ›das Frühstück‹? ... Na, wir, wir beide hier oben warten ebenfalls.

– Ihr wartet? ... Worauf denn?

– Auf die Sonne, erklärte Omikron, der durch ein beifälliges Kopfnicken seines Herrn belohnt wurde.

– Doch, lieber Onkel, du hast doch, meine ich, die Sonne nicht zum Frühstück eingeladen und man kann sich doch recht gut auch ohne sie zu Tisch setzen.«

Was war darauf zu antworten? Wenn sich das Strahlengestirn nun den ganzen Tag nicht zeigte, würde Dean Forsyth starrsinnig genug sein, das Frühstück erst am Abend zu verzehren?

Höchst wahrscheinlich, denn der Astronom erschien wenig geneigt, der Aufforderung seines Neffen nachzukommen.

»Lieber Onkel, fuhr dieser fort, Mitz wird ungeduldig; bitte, laß dir das gesagt sein!«

Sofort wurde sich Mr. Dean Forsyth der Sachlage bewußt: die Ungeduld der guten Mitz, die kannte er schon lange. Daß sie ihm einen besonderen Boten geschickt hatte, sprach zu deutlich für den Ernst der Lage, daß er sich ohne Zögern fügen mußte.

»Welch' Zeit ist's denn eigentlich? fragte er nur.

– Elf Uhr sechsundvierzig Minuten,« antwortete Francis Gordon.

Tatsächlich zeigte die große Pendeluhr diese Zeit, während Onkel und Neffe einander sonst pünktlich um elf Uhr am Tische gegenübersaßen.

»Elf Uhr sechsundvierzig! rief Mr. Dean Forsyth, eine starke Unzufriedenheit heuchelnd, um seine Unruhe nicht zu verraten. Ich begreife nicht, daß Mitz sich so vergessen kann!

– Aber, liebster Onkel, das war vorhin schon das dritte Mal, daß wir hier an die Tür gepocht hatten.«

Ohne weiter zu antworten, ging Mr. Dean Forsyth die Treppe hinunter, während Omikron, der sonst gewöhnlich den Tisch besorgte, oben zurückblieb, um eine Wiederkehr des Sonnenscheins nicht zu verfehlen.

Der Onkel und der Neffe traten ins Speisezimmer ein.

Mitz befand sich darin. Sie sah ihren Herrn, der den Kopf sinken ließ, scharf an.

»Nun ... und Freund Krone? fragte sie, denn so sprach sie (franz. Ami Krone. Der Übersetzer.) den fünften Vokal des griechischen Alphabetes aus.

– Der ist noch im Turmzimmer beschäftigt, antwortete Francis Gordon. Wir werden heute schon einmal ohne ihn auskommen.

– Mit Vergnügen! erklärte Mitz nicht gerade feinen Tones. Der mag in seinem Observatorium bleiben, so lange es ihm gefällt; da wird hier alles besser klappen als mit diesem Tolpatsch erster Klasse?«

Das Frühstück nahm seinen Anfang ... die Munde öffneten sich aber nur, um zu essen. Mitz, die sonst, wenn sie die Gerichte brachte oder die Teller wechselte, gern ein wenig schwätzte, öffnete heute niemals das Gehege ihrer Zähne. Dieses Schweigen wurde bedrückend, der Zwang lästig. Um dem ein Ende zu machen, fragte Francis Gordon – um nur etwas zu sagen –:

»Bist du mit deinem heutigen Vormittag zufrieden, lieber Onkel?

– Nein, erwiderte Dean Forsyth. Der Zustand des Himmels war nicht günstig, und dieses Beobachtungshindernis hat mich heute besonders geärgert.

– Hattest du etwa eine astronomische Entdeckung in Aussicht?

– Ich glaube ja, Francis. Ich kann darüber aber nicht eher etwas Bestimmtes sagen, als bis eine neue Beobachtung ...

– Da haben wir's ja, Herr Forsyth, unterbrach ihn Mitz trocken, was Sie nun schon acht Tage so in Bann hält, daß Sie in Ihrem Turm bald anwachsen werden, und das Sie die Nacht aus den Federn jagt. Jawohl, die letzte Nacht dreimal, ich hab' es ganz gut gehört, ich habe, Gott sei Dank, keinen Wattepfropfen in den Ohren! setzte sie als Antwort auf eine Geste ihres Herrn hinzu, um zu verstehen zu geben, daß sie keineswegs taub wäre.

– Ja ja, so ist es, meine brave Mitz,« stimmte ihr Dean Forsyth versöhnlichen Tones bei.

Vergebliche Liebesmüh.

»Eine ›astrokomische‹ Entdeckung! Die Haushälterin gebraucht im Originale viele Wörter, wie hier »astrokomisch« für astronomisch, falsch. Leider lassen sich diese deutsch nur selten in gleicher und doch verständlicher Weise wiedergeben. Der Übersetzer. rief die würdige Dienerin voller Entrüstung. Und wenn Sie nun dabei tüchtig heruntergekommen sind, wenn Sie sich von dem Sitzen vor Ihren »Schläuchen« einen Buckel und vielleicht eine gehörige Kurzatmigkeit zugezogen haben, die ... ja, da werden Sie eine hübsche Figur spielen! Oder kommen dann etwa Ihre Sterne herunter, Ihnen zu helfen, und verordnet Ihnen der Doktor vielleicht, sie als Pillen zu verschlucken?«

Schon aus dem Ton der ersten Worte dieser Standrede erkannte Dean Forsyth, daß es besser sei, nicht darauf zu antworten. Er aß also schweigend weiter, aber so zerstreut, daß er manchmal sein Glas für seinen Teller hielt und umgekehrt.

Francis Gordon gab sich alle erdenkliche Mühe, ein Gespräch im Gange zu erhalten, es war jedoch, als ob er nur der Wüste etwas vorpredigte. Sein Onkel saß finster da und schien ihn überhaupt nicht zu hören. So ergriff er den Ausweg, vom Wetter zu reden. Wenn man nichts Gescheites mehr zu sagen weiß, so spricht man eben vom Wetter, wie es gewesen ist, wie es eben ist und wie es sich gestalten wird. Das ist ja ein unerschöpfliches Thema, bei dem auch der Beschränkteste mitreden kann. Hier kam noch dazu, daß sich Mr. Dean Forsyth für atmosphärische Fragen interessierte. In einem Augenblicke, wo dickere Wolken das Speisezimmer einmal noch mehr verdunkelten, hob er den Kopf in die Höhe, sah durchs Fenster und rief, während ihm die Gabel aus der Hand fiel:

»Werden sich diese verwünschten Wolken denn gar nicht einmal vom Himmel wegscheren, und wenn's auch nur um den Preis eines tüchtigen Platzregens wäre?

– Na ... meiner Treu, nahm Mitz wieder das Wort, nach einer dreiwöchigen Dürre würde das doch der Erde recht wohl tun.

– Der Erde ... der Erde! murmelte Mr. Dean Forsyth halblaut, aber so verächtlich vor sich hin, daß er sich folgende Antwort der alten Dienerin zuzog:

– Jawohl, der Erde, mein Herr Forsyth. Ich dächte, die wäre wenigstens ebensoviel wert wie der Himmel, von dem Sie nicht herabsteigen wollen ... nicht einmal mehr zur Zeit des Frühstückes!

– Ereifern Sie sich nicht, meine ›gute Mitz‹,« sagte Francis Gordon fast bittend.

Vergeblich. Die gute Mitz war nicht in der Laune, sich so leicht umstimmen zu lassen.

»Ach was, hier gibt's gar keine ›gute Mitz‹, fuhr sie aufgeregt fort. Sie gucken sich ja nicht einmal den Mond genug an, sonst müßten Sie wissen, daß es im Frühling regnen muß. Wenn es im März nicht regnet, wann soll es denn dann regnen, frag' ich Sie?

– Lieber Onkel, lenkte der Neffe ein, es ist ja richtig, daß wir jetzt im März, am Anfange des Frühlings sind, und da muß man das Wetter ja nehmen, wie es eben ist. Bald kommt aber der Sommer, der wird dir einen reineren Himmel bescheren. Dann kannst du deine Arbeiten unter günstigeren Verhältnissen fortsetzen. Nur ein wenig Geduld, bester Onkel!

– Geduld ... Geduld, Francis? entgegnete Mr. Dean Forsyth, dessen Stirn jetzt nicht weniger finster aussah, als der Himmel draußen, du sprichst von Geduld! Wenn er nun so weit fortgeht, daß man ihn nicht mehr sehen kann? Wenn er sich nun nicht wieder über dem Horizonte zeigt?

– Er? fiel hier Mitz ein. Welcher ›er‹ denn?«

Im gleichen Augenblick ließ sich aber die Stimme Omikrons vernehmen.

»Mister Forsyth! ... Mister Forsyth!

– Da gibt's etwas Neues,« rief der Amateur-Astronom, stieß seinen Stuhl hastig zurück und eilte der Tür zu.

Noch hatte er diese nicht erreicht, als ein heller Strahl durchs Fenster drang und in tausend Lichtflimmern von den Gläsern und Flaschen auf dem Tisch zurückstrahlte.

»Die Sonne ... ah, die Sonne! jubelte Dean Forsyth, während er die Treppe hinaufstürmte.

– Herrgott im Himmel! rief Mitz, auf einen Stuhl niedersinkend. Da ist er nun weg und wenn er erst wieder mit Krone da im Oberstübchen eingeschlossen ist, da soll ihn einmal einer rufen! Ebensogut könnte man den Wind im Sack fangen, Na, das Frühstück wird ja auch mit Hilfe des heiligen Geistes allein alle werden. Und alles das wegen der Sterne!«

Das polterte die vortreffliche Mitz in ihrer meist verdrehten Sprache hervor, obgleich ihr Herr sie nicht hören konnte. Hätte er sie hören können, so wäre übrigens ihr Redestrom auch so gut wie umsonst gewesen.

Außer Atem vom schnellen Steigen betrat Mr. Dean Forsyth sein Observatorium, Es war jetzt ein südwestlicher Wind aufgesprungen, der die Wolken mehr nach Osten hin trieb. Eine große aufgeklärte Stelle ließ schon bis zum Zenith den ganzen Teil des Himmels übersehen, wo das Meteor wahrgenommen worden war. Das Zimmer war jetzt von den Sonnenstrahlen hell erleuchtet.

»Nun, fragte Mr. Dean Forsyth, was gibt es?

– O, die Sonne ist da, antwortete Omikron, doch nicht für lange Zeit, denn von Westen ziehen schon wieder neue Wolken heran.

– Da ist keine Minute zu verlieren!« rief Dean Forsyth, der schon sein Fernrohr einstellte, während der Diener dasselbe mit dem Teleskop tat.

Etwa vierzig Minuten saßen sie eifrigst beschäftigt vor ihren Instrumenten, Geduldig und doch mit fieberhafter Hast drehten sie deren Stellschrauben, um sie immer in der gewünschten Richtung zu halten.

Und mit welch peinlicher Aufmerksamkeit durchsuchten sie alle Ecken und Winkel des eben sichtbaren Teiles des Himmelsgewölbes! Unter so und soviel gerader Aufsteigung und so und soviel seitlicher Abweichung war ihnen die Feuerkugel – offenbar auf geradestem Wege nach dem Zenith von Whaston – zuerst erschienen.

Jetzt war davon nichts, nichts zu entdecken! Nur die ganze wolkenfreie Fläche des Himmels, die doch für Meteore einen so prächtigen Promenadenplatz bildete! Kein leuchtendes Pünktchen in dieser Richtung! Keine Spur von einem Asteroiden!

»Nichts ... gar nichts! sagte Mr. Dean Forsyth, während er sich über die Augen wischte, die von dem angestrengten Sehen mit Blut überfüllt waren.

– Nichts!« stammelte auch Omikron wie ein mitleidiges Echo.

Zu weiteren Beobachtungen war es jetzt schon zu spät. Heranziehende Wolken hatten den Himmel aufs neue bedeckt. Eine nochmalige Aufklärung war für heute wohl nicht zu erwarten. Sehr bald bildeten die Dunstballen nur noch eine einzige schmutziggraue Masse und sandten nachher einen feinen Regen herab. Da blieb nun, zum großen Kummer des Herrn und des Dieners, nichts weiter übrig, als auf jede Beobachtung zu verzichten.

»Und doch, sagte Omikron, sind wir dessen ganz sicher, daß wir ihn gesehen haben!

– Und ob wir dessen sicher sind!« rief Mr. Dean Forsyth, die Arme drohend zum Himmel erhebend.

Und in einem Tone, worin sich Unruhe und Eifersucht mischten, setzte er hinzu;

»Wir sind wohl unserer Sache ganz sicher; andere können ihn aber ebensogut wie wir bemerkt haben ... wenn wir nicht doch nur die einzigen gewesen sind. Es fehlte nur noch, daß er ihn ebenfalls entdeckt hätte ... er ... dieser Sydney Hudelson!«


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