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I.

Worin der Richter John Proth eine seiner angenehmsten Amtspflichten erfüllt, bevor er nach seinem Garten zurückkehrt.

 

Es liegt kein Grund dafür vor, den Lesern zu verheimlichen, daß die Stadt, in der diese seltsame Geschichte beginnt, in Virginien, in den Vereinigten Staaten von Amerika zu suchen ist. Mit ihrer Erlaubnis wollen wir sie Whaston nennen und in den östlichen Teil des Staates ans rechte Ufer des Potomac verlegen. Wir halten es aber für nutzlos, die Koordinaten dieser Stadt genauer anzugeben, da man sie doch selbst auf den besten Landkarten der Union vergeblich suchen würde.

Am Vormittag des 12. März des ... nun, eines gewissen Jahres konnten diejenigen Einwohner von Whaston, die zur rechten Zeit durch die Exeterstraße kamen, einen eleganten Herrn die Straße, die ziemlich starken Fall hat, langsam auf und ab reiten sehen, bis er schließlich auf dem fast im Mittelpunkte der Stadt gelegenen Konstitutionsplatze einmal stillhielt.

Der Reiter, ein Mann vom reinsten Yankeetypus, der ja zuweilen auch eine originelle Vornehmheit verrät, konnte nicht älter als dreißig Jahre sein. Er war von übermittler Größe, von gutem, kraftstrotzendem Aussehen und hübscher Gestalt und hatte dunkle Haare sowie kastanienbraunen Bart, dessen Spitze sein Gesicht mit den sorgsam rasierten Lippen noch etwas verlängerte. Ein weiter Mantel bedeckte ihn bis zu den Beinen und lag ausgebreitet auf dem Rücken des Pferdes. Er handhabte sein muntres, tänzelndes Tier mit ebensoviel Geschick wie Sicherheit. Alles an seiner Erscheinung wies auf einen tatkräftigen, entschlossenen und wohl der ersten Eingebung folgenden Mann hin. Sicherlich schwankte er niemals zwischen Wunsch und Befürchtung hin und her, wie das Sache eines zaudernden Charakters ist. Endlich hätte ein Beobachter wahrnehmen müssen, daß die natürliche Ungeduld des Mannes sich nur unvollkommen hinter einer äußerlichen Kälte verbarg.

Warum war nun wohl dieser Reiter hier in einer Stadt, wo keiner ihn kannte, keiner ihn vorher je gesehen hatte? Beschränkte er sich vielleicht darauf, sie nur zu durchqueren oder wollte er etwa einige Zeit hier verweilen? Ein Hotel aufzusuchen hätte er, im zweiten Falle, nur die Qual der Wahl gehabt, dafür war Whaston weit und breit bekannt. In keinem andern Zentrum der Vereinigten Staaten oder in andern Ländern könnte ein Reisender einen bessern Empfang, willigere Bedienung, vorzüglichere Verpflegung und tadelloseren Komfort, obendrein noch zu sehr mäßigem Preise finden. Es ist wirklich bedauerlich, daß die Landkarten die Lage einer mit solchen Vorzügen ausgestatteten Stadt nicht genau angeben.

Doch nein, jener Fremdling schien nicht die Absicht zu haben, sich in Whaston irgend länger aufzuhalten, und das einladende Lächeln der Hoteliers blieb auf ihn jedenfalls ohne Eindruck. Wie in Gedanken versunken und ganz unachtsam auf alles um sich her, folgte er der sich am Rande des Konstitutionsplatzes hinziehenden Straße, die ein umfängliches ebenes Terrain einschließt ... ohne jede Ahnung, daß er hier die öffentliche Aufmerksamkeit erregte.

Und Gott weiß, wie stark sie erregt war, diese öffentliche Aufmerksamkeit! Seit dem Auftauchen des fremden Reiters wechselten schon Herr und Diener, an der Haustür stehend, ihre Gedanken über diesen aus.

»Von wo aus ist er denn hierher gekommen?

– Von der Exeterstraße her.

– Ja, woher aber von außerhalb?

– Er soll, wie man sagt, durch die Wilcox-Vorstadt hereingekommen sein.

– Er reitet nun aber schon eine halbe Stunde hier um den Platz herum.

– Ja; er wird wohl jemand erwarten.

– Wahrscheinlich, und offenbar mit einiger Ungeduld.

– Er sieht immer die Exeterstraße hinauf ...

– Von da her wird man jedenfalls kommen.

– Was heißt das ›man‹? ... ›Sie‹ oder ›er‹?

– Wahrlich ... er hat ein hübsches, vornehmes Aussehen!

– Sie meinen also, es handle sich hier um ein Rendez-vous?

– Ja, um ein Rendez-vous, doch nicht in dem Sinne, wie Sie es verstehen.

– Woher wollen Sie das wissen?

– Sehr einfach, der Fremdling dort hat schon dreimal vor der Tür des Herrn John Proth Halt gemacht ...

– Und da Herr John Proth in Whaston als Richter fungiert ...

– Nun ja, so wird der junge Mann da einen Prozeß haben ...

– Und sein Gegner hat sich bis jetzt noch nicht eingefunden ...

– Ganz recht.

– Schön! Na, der Richter Proth wird beide bald genug miteinander ausgesöhnt haben.

– Ja ... der ist ein geschickter Mann.

– Und ein braver Mann obendrein.«

Es war ja wirklich möglich, daß das für jenen Reiter der Grund seiner Anwesenheit in Whaston war. Schon mehrmals hatte er vor der Tür John Proths sein Pferd pariert, doch ohne aus dem Sattel zu steigen. Er sah nur die Tür an und warf einen Blick nach den Fenstern des Hauses hinauf, blieb aber ruhig sitzen, so als ob er erwarte, daß jemand auf der Schwelle erschiene, bis ihn sein vor Ungeduld mit den Füßen stampfendes Pferd weiter zu reiten nötigte.

Als er dann wieder einmal an derselben Stelle hielt, öffnete sich plötzlich die Haustür und es zeigte sich ein Mann auf dem Absatz der kleinen Freitreppe, die nach dem Trottoir hinunterführte.

Kaum hatte der Fremde den Erschienenen bemerkt, als er sich schon, den Hut lüftend, an diesen mit den Worten wandte: »Herr John Proth, wenn ich nicht irre?

– Der bin ich, antwortete der Richter.

– Nur eine einfache Frage, die von Ihrer Seite nichts weiter als ein Ja oder Nein verlangt.

– Und die lautet? ...

– Ist wohl heute früh schon jemand bei Ihnen gewesen, der nach Mister Seth Stanfort gefragt hat?

– Daß ich nicht wüßte.

– Danke bestens.«

Der Reiter nahm hierbei nochmals den Hut ab, ließ den Zügel lockerer und trottete in kurzem Trab die Exeterstraße hinauf.

Jetzt unterlag es – so urteilte man allgemein – keinem Zweifel mehr, daß der Unbekannte mit John Proth etwas zu tun hatte. Nach der Art und Weise, wie er seine kurze Frage stellte, war er offenbar selbst jener Seth Stanfort, der zu der bestimmten Zusammenkunft zuerst eingetroffen war. Nun gab es aber auch noch ein interessantes Rätsel zu lösen: War die Stunde des Zusammentreffens jetzt schon endgültig verpaßt, und würde der unbekannte Reiter die Stadt verlassen, um nicht wieder dahin zurückzukehren?

Da wir uns in Amerika, d. h. bei dem allerwettlustigsten Volke befinden, das es hienieden gibt, wird man ohne Schwierigkeit glauben, daß bezüglich der baldigen Wiederkehr oder des endgültigen Weggangs des Fremden zahlreiche Wetten abgeschlossen wurden, Wetten um einen halben Dollar bis hinunter auf fünf bis sechs Cents – zwischen dem Personal der Hotels und den auf dem Platze zusammengeströmten Neugierigen – höhere nicht, die Beträge würden aber von den Verlierenden prompt bezahlt, und von den Gewinnern – es waren alle höchst ehrenwerte Leute – schmunzelnd eingestrichen werden.

Der Richter John Proth hatte sich begnügt, dem Reiter, der sich der Wilcox-Vorstadt zuwendete, mit den Blicken zu folgen. Er war ein Philosoph, der Amtsrichter John Proth, ein kluger Beamter, der, so könnte man sagen, schon volle fünfzig Jahre Klugheit und Philosophie in sich aufgestapelt hatte, obgleich er selbst erst ein halbes Jahrhundert alt war, d. h. also, daß er schon ein Weiser und ein Philosoph in der Stunde war, wo er das Licht der Welt erblickte. Hierzu nehme man, daß sein Leben als Hagestolz – ein weitrer unbestreitbarer Beweis von Klugheit – nie von Sorgen getrübt worden war, was doch, das wird jedermann zugeben, die praktische Verwertung der Philosophie wesentlich erleichtert. In Whaston geboren, hatte er, selbst in den Jugendjahren, seine Vaterstadt kaum je oder überhaupt niemals verlassen, und hier wurde er von allen, die zu seinem Gerichtssprengel gehörten und die seine vortrefflichen Eigenschaften kannten, ebenso geliebt wie aufrichtig verehrt.

Von geradsinnigem Charakter, erwies er sich stets nachgiebig gegen die Schwächen, zuweilen sogar gegen die Fehler andrer Leute, und faßte seine Aufgabe nur als die Verpflichtung auf, die ihm zur Entscheidung vorliegenden streitigen Angelegenheiten auszugleichen, die Parteien, die vor seinem Tribunal erschienen, versöhnt heimzuschicken, alle Ecken und Kanten abzurunden, jedes Räderwerk gleichsam zu ölen und die in jeder, selbst der vollkommensten gesellschaftlichen Ordnung unausbleiblichen Stöße nach Möglichkeit zu mildern.

John Proth erfreute sich eines gewissen Wohlstands. Wenn er die Funktionen eines Richters erfüllte, so geschah das eigentlich nur aus Liebhaberei, und es kam ihm niemals der Gedanke, eine höhere Stellung zu erstreben. Er liebte die Ruhe, für sich und für andere, und betrachtete die Menschen alle als nahe Nachbarn, mit denen man alle Ursache hat, immer auf gutem Fuße zu stehen. Früh auf und zeitig zu Bett war seit langem seine Gewohnheit. Wenn er auch einige Lieblingsautoren der Alten und der Neuen Welt las, so begnügte er sich doch meist mit einer ehrbaren, wackeren Zeitung der Stadt, mit den »Whaston News«, worin die Anzeigen mehr Platz einnahmen als die Politik. Jeden Tag machte er einen ein- bis zweistündigen Spaziergang, bei dem die Hüte durch das viele Grüßen abgenützt wurden, was ihn dann zwang, den seinigen alle drei Monate durch einen neuen zu ersetzen. Außer der Zeit dieser Spaziergänge und der, die seine Berufstätigkeit in Anspruch nahm, blieb er in seiner friedlichen und hübsch ausgestatteten Wohnung und pflegte in seinem Garten die Blumen, die ihm dafür dadurch dankten, daß sie ihn mit ihren frischen Farben und ihrem lieblichen Dufte erfreuten.

Nachdem wir diesen Charakter mit einigen Strichen gezeichnet und das Bild John Proths in einen passenden Rahmen gebracht haben, wird man leicht begreifen, daß sich der genannte Richter durch die an ihn gerichtete Frage des Fremden nicht sonderlich aus der Ruhe bringen ließ. Hätte jener, statt sich an den Hausherrn zu wenden, dessen alte Dienerin Kate gefragt, so hätte diese wahrscheinlich noch manches andre zu erfahren gewünscht. Sie würde ihn nicht losgelassen und gefragt haben, was man antworten sollte, wenn sich jemand nach seiner Person erkundigte, und jedenfalls hätte es der würdigen Kate nicht mißfallen zu hören, ob der Fremde, sei es im Laufe des Vor- oder Nachmittags, wieder zum Hause Mr. John Proths zurückkehren werde oder nicht.

John Proth selbst würde sich eine solche Neugier, eine solche Indiskretion niemals verziehen haben, bei seiner Dienerin, die ja dem schwächeren Geschlechte angehörte, mußte er sie schon entschuldigen. Nein, Mister John Proth hatte nicht einmal bemerkt, daß das Eintreffen, die Anwesenheit und endlich das Verschwinden des Fremdlings den Maulaffen auf dem Konstitutionsplatze aufgefallen war, und nach Schließung seiner Haustür zog er sich ruhig zurück, um im Garten seinen Blumen, den Rosen, Iris, Geranien und Reseden zu trinken zu geben.

Die Neugierigen taten nicht desgleichen, sondern blieben noch beobachtend stehen.

Der Reiter war inzwischen ans Ende der Exeterstraße gelangt, die sich als Hauptader durch den Westen der Stadt hinzieht. Als er die Wilcox-Vorstadt erreichte, die die genannte Straße mit dem Zentrum von Whaston verbindet, hielt er sein Pferd an und sah sich, ohne den Sattel zu verlassen, nach allen Seiten um. Von dieser Stelle aus lag die Umgebung eine reichliche Meile weit vor ihm offen, und er konnte bis auf drei Meilen die vielfach gewundne abfallende Straße bis zu dem Flecken Steel übersehen, dessen Glockentürme sich jenseits des Potomac vom Horizont abhoben. Seine Blicke überflogen diese Straße aber vergeblich. Offenbar entdeckte er nicht, was er suchte. Das veranlaßte ihn zu lebhaften, ungeduldigen Bewegungen, die sich auf sein Pferd fortpflanzten, das er stramm im Zügel halten mußte.

So verstrichen zehn Minuten, dann begab sich der Reiter langsamen Schrittes wieder die Exeterstraße hinunter und zum fünften Male nach dem offenen Platze.

»Alles in allem, murmelte er nach einem Blick auf seine Uhr, kann von einer Verzögerung noch nicht die Rede sein. Es war ja auf zehn Uhr sieben Minuten verabredet, und jetzt ist es erst kaum halb zehn. Die Entfernung zwischen Whaston und Steel, von wo sie kommen muß, ist ebenso groß wie die zwischen Whaston und Brial, woher ich gekommen bin, und die ich vielleicht in noch nicht zwanzig Minuten zurückgelegt habe. Die Straße ist gut, das Wetter trocken, und ich wüßte nicht, daß ein Hochwasser etwa die Brücke weggerissen hätte. Da liegt also kein Grund zur Verzögerung, kein Hindernis vor. Wenn sie unter diesen Umständen das Stelldichein verfehlt, so wird das ihr eigener Wille sein. Die Pünktlichkeit besteht doch darin, zur rechten Zeit zur Stelle zu sein, nicht aber vorzeitig einzutreffen. Eigentlich bin ich es ja, der unpünktlich ist, denn ich bin um viel mehr zu zeitig gekommen, als es sich für einen methodischen Menschen ziemt. Freilich – von jedem anderen Gefühle abgesehen – erforderte es schon die einfache Höflichkeit, daß ich zuerst zum Stelldichein kam.«

Dieses Selbstgespräch dauerte die ganze Zeit an, wo der Fremde die Exeterstraße hinunter ritt, und endigte nicht eher, als bis die Hufeisen des Pferdes von neuem auf den Macadam des Platzes aufschlugen.

Die, die auf das Wiedererscheinen des Fremden gewettet hatten, hatten also die Einsätze gewonnen. Sie zeigten diesem, als er an den Hotels vorüberkam, auch ein recht freundliches Gesicht, während die Verlierenden ihn nur mit Achselzucken begrüßten.

Endlich schlug die Rathausuhr zehn. Sein Pferd anhaltend, zählte der Fremde die zehn Schläge und überzeugte sich von der Übereinstimmung der öffentlichen Uhr mit der eignen, die er aus der Tasche hervorzog.

Nun fehlten nur noch sieben Minuten an der für das Rendez-vous bestimmten Zeit, die bald nachher also schon überschritten war.

Seth Stanfort kehrte nach dem Eingange der Exeterstraße zurück; offenbar konnte weder er noch sein Pferd sich ruhig verhalten.

Jetzt herrschte auf dieser Straße ein lebhafter Verkehr. Mit denen, die diese hinaufgingen, beschäftigte sich Seth Stanfort nicht im geringsten. Seine ganze Aufmerksamkeit galt nur denen, die die Straße herabkamen, und er lugte scharf nach diesen aus, sobald sie an deren hochgelegenem Ende auftauchten. Die Exeterstraße ist so lang, daß ein Fußgänger reichlich zehn Minuten braucht, sie zu durchmessen, drei oder vier Minuten aber nur ein schnellfahrender Wagen oder ein Pferd in gestrecktem Trab.

Um die Fußgänger kümmerte sich unser Reiter freilich kaum, er sah sie sogar nicht einmal. Sein vertrautester Freund hätte zu Fuß an ihm vorübergehen können, er hätte ihn gewiß gar nicht bemerkt. Die erwartete Person konnte nur zu Wagen oder zu Pferde ankommen.

Würde sie aber zur erwähnten Zeit eintreffen? Daran fehlten nur noch drei Minuten, gerade genug Zeit, die Exeterstraße hinunterzufahren, auf deren Höhenpunkte zeigte sich aber weder ein Wagen, noch ein Kraftfahrrad oder ein Bizyklett, ebensowenig ein Automobil, das, wenn es mit achtzig Kilometer Geschwindigkeit in der Stunde dahinsauste, sein Ziel noch ganz kurz vor dem Zeitpunkte für das Rendez-vous erreicht hätte.

Seth Stanfort durchmaß die Exeterstraße noch mit einem letzten Blicke. In seinen Augen leuchtete ein Blitz auf, der durch die Pupille hervorschoß, während er im Tone unerschütterlicher Entschlossenheit die Worte murmelte:

»Wenn sie um zehn Uhr sieben Minuten nicht hier ist, heirate ich überhaupt nicht!«

Wie eine Antwort auf diese Erklärung hörte man da im gleichen Augenblick den Galopp eines Pferdes, das oben von der Straße herunterkam. Auf dem Tiere, einem prächtigen Zelter, saß eine junge Frau, die es mit ebensoviel Grazie wie Sicherheit lenkte. Die Leute wichen vor ihm zurück, so daß sich ihm bis zum Platze hinunter kein Hindernis entgegenstellte.

Seth Stanfort erkannte die, die er erwartete; seine Züge wurden wieder ruhiger. Er trieb sein Pferd an und begab sich ruhigen Schrittes vor das Haus des Richters.

Das reizte natürlich die neugierige Menge, die sich herandrängte, ohne daß der Fremde von ihr auch nur im geringsten Notiz nahm.

Einige Sekunden später sprengte auch die Reiterin auf den Platz ein und ihr von weißem Schaume bedecktes Pferd hielt zwei Schritte vor der Tür.

Der Fremde gab sich zu erkennen und sagte:

»Ich begrüße Miß Arcadia Walker ...

– Und ich Mister Seth Stanfort,« erwiderte Arcadia Walker, indem sie sich mit graziöser Bewegung leicht verbeugte.

Selbstverständlich verloren die Eingebornen das Paar, das sie nicht kannten, keine Sekunde aus den Augen.

»Wenn sie wegen eines Prozesses gekommen sind, raunten sie einander zu, so möchte man wünschen, daß dieser Prozeß zum Vorteil beider ausginge.

– Das wird auch der Fall sein, oder Mister Proth wäre nicht der geschickte Mann, der er doch ist.

– Und wäre keines von beiden verheiratet, so wär's das beste, die ›Geschichte endete mit einer Hochzeit?‹«

So flogen die Worte hinüber und herüber, so äußerten sich die Ansichten der Müßiggänger, doch weder Seth Stanfort noch Miß Arcadia Walker schien die ziemlich lästige Neugier, die sie erweckten, zu beachten.

Seth Stanfort wollte eben absteigen, um an die Tür des Mr. John Proth zu klopfen, als diese sich schon öffnete.

Mr. John Proth erschien auf der Schwelle, diesmal aber auch die alte Dienerin Kate dicht hinter ihm.

Beide hatten Pferdegetrappel vor dem Hause gehört, und der Richter, der seinen Garten, sowie die Dienerin, die ihre Küche verließ, wollten wissen, was das zu bedeuten hätte.

Seth Stanfort blieb also im Sattel und wendete sich an den Beamten.

»Herr Richter John Proth, sagte er, ich bin Seth Stanfort aus Boston, Massachusetts.

– Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mister Seth Stanfort.

– Und hier ist Miß Arcadia Walker aus Trenton, New-Jersey.

– Ich fühle mich sehr geschmeichelt, der Miß Arcadia Walker gegenüberzustehen.«

Und während John Proth erst den ihm Fremden angesehen hatte, wendete er all seine Aufmerksamkeit jetzt der jungen Dame zu.

Miß Arcadia Walker war eine reizende Person, und man wird es verzeihen, wenn wir gleich eine Skizze von ihr entwerfen. Ihr Alter: vierundzwanzig Jahre. Augen: blau, etwas hell. Haare: dunkel kastanienbraun. Teint: von einer Frische, die vom Atem der freien Luft nicht verändert wurde. Zähne: tadellos weiß und vollkommen regelmäßig. Größe: etwas über mittel. Haltung: vorzüglich. Bewegungen: von bestechender Geschmeidigkeit und vielleicht etwas nervöser Grazie. In der Amazonentracht, die sie eben trug, folgte sie schmiegsam den Bewegungen ihres Pferdes, das mit dem Seth Stanforts den Boden um die Wette stampfte. Ihre von feinen Handschuhen bedeckten Hände spielten gleichsam mit den Zügeln, und jeder Sachkenner würde in ihr sofort eine gewandte Kunstreiterin vermutet haben. Ihre ganze Erscheinung trug den Stempel echter Vornehmheit und jenes besondere »ich weiß nicht, was« der oberen Klassen der Union, die man recht wohl die amerikanische Aristokratie nennen könnte, wenn diese Bezeichnung nicht gar zu grell gegen die demokratischen Instinkte der Eingebornen der Neuen Welt abstäche.

Miß Arcadia Walker, eine Dame, gebürtig aus New-Jersey, ohne jede nähere Verwandtschaft, frei in ihrem Tun und Lassen, unabhängig durch ihr Vermögen und etwas abenteuerlustig veranlagt, wie alle jungen Amerikanerinnen, führte ein Leben ganz nach ihrem Geschmacke. Da sie seit mehreren Jahren viel reiste und die wichtigsten Länder Europas besucht hatte, war sie gründlich von allem unterrichtet, was in Paris, London, Berlin oder in Rom geschah und als guter Ton galt. Über das, was sie auf ihren ununterbrochenen Wanderungen gesehen oder gehört hatte, verstand sie obendrein mit den Franzosen, den Engländern, den Deutschen und den Italienern in deren Muttersprache zu plaudern. Sie war eine höchst gebildete Person, unterrichtet von einem gegenwärtig schon von der Erde geschiedenen Lehrer, der sie höchst sorgfältig erzogen hatte. Auch an praktischem Geschäftssinn fehlte es ihr nicht; den bewies sie schon mit der Verwaltung ihres Vermögens, wobei sie ihre Interessen stets recht geschickt wahrzunehmen wußte.

Was hier von Miß Arcadia Walker gesagt ist, läßt sich »symmetrisch« – ja, das ist das rechte Wort – auch auf Mr. Seth Stanfort anwenden. Dieser stand ebenso unabhängig da, war ebenso reich, liebte ebenso das Reisen und war in der ganzen Welt herumgekommen, nur dadurch unterschied er sich von Arcadia, daß er in seiner Vaterstadt Boston wohnte. Im Winter ein ständiger Besucher der Alten Welt und der Großstädte in dieser, war er hier öfters mit seiner abenteuerlustigen Landsmännin zusammengetroffen. Im Sommer kehrte er nach seiner Heimat zurück und verweilte hier meist in den Seebädern, wo sich dann die Familien der reichen Yankees aufzuhalten pflegen. Auch hier waren Miß Arcadia Walker und er einander wiederholt begegnet.

Die gleiche Geschmacksrichtung hatte die beiden jungen, lebensfrohen Leute, von denen die neugierigen Adamssöhne und vor allem die Evastöchter sagten, daß sie wie für einander geschaffen wären, mehr und mehr einander genähert. Wie sollten sie auch nicht übereingestimmt haben, bei ihrer gleichen Reiselust, bei dem gleichen Verlangen, dahin zu eilen, wo irgend ein Vorfall im politischen oder militärischen Leben die öffentliche Aufmerksamkeit erregte? Da kann es denn auch nicht wundernehmen, daß Mr. Seth Stanfort und Miß Arcadia Walker auf den Gedanken kamen, ihre Lebensbahnen zu vereinigen, was ja an ihren Gewohnheiten nichts ändern würde. Sie bildeten dann nicht mehr zwei Schiffe, die eines das andere begleiteten, sondern ein einziges, das vorzüglich ausgerüstet, getakelt und geführt war, sich auf allen Meeren der Erde zu bewähren.

Es war also kein Prozeß, keine Verhandlung, keine Ordnung einer streitigen Angelegenheit, die Seth Stanfort und Miß Arcadia Walker veranlaßte, vor dem Richter dieser Stadt zu erscheinen. Nein; nach Erledigung der gesetzlichen Formalitäten bei den zuständigen Behörden in Massachusetts und in New-Jersey hatten sie für den 12. März zur schon erwähnten Zeit – zehn Uhr sieben Minuten – ihr Zusammentreffen in Whaston verabredet, um hier den Bund einzugehen, womit man, wie die Leute sagen, den wichtigsten Schritt im Leben tut.

Nachdem die Vorstellung des Mr. Seth Stanfort und der Miß Arcadia Walker in der angeführten Weise erfolgt war, hat John Proth den Fremden und die diesen begleitende Dame nur noch zu fragen, aus welchem Grunde sie vor ihm erschienen.

»Seth Stanfort wünscht der Ehemann der Miß Arcadia Walker zu werden, erklärte der eine.

– Und Miß Arcadia Walker wünscht die Ehefrau des Mister Seth Stanfort zu werden,« setzte die andere hinzu.

Der Beamte verneigte sich höflich mit den Worten:

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Mister Stanfort, und ebenso zur Ihrigen, Miß Arcadia Walker.«

Jetzt machten die beiden jungen Leute eine graziöse Verbeugung.

»Wann wäre es Ihnen genehm, den Trauungsakt zu vollziehen? fuhr John Proth fort.

– Gleich auf der Stelle ... wenn Sie keine andere Abhaltung haben, antwortete Seth Stanfort.

– Denn wir verlassen Whaston, sobald ich Mistreß Stanfort geworden bin,« erklärte Miß Arcadia Walker.

Der Richter Proth verriet durch seine Haltung, wie sehr er und mit ihm die ganze Stadt bedauere, daß das schöne junge Paar, das augenblicklich die Stadt mit seiner Gegenwart beehrte, nicht länger innerhalb der Mauern Whastons zu weilen gedenke. Dann fügte er hinzu:

»Ich stehe vollständig zu Ihren Diensten,« und damit wich er einige Schritte zurück, um den Zutritt zum Hause freizugeben.

Mr. Seth Stanfort hielt ihn jedoch durch einen Wink zurück.

»Ist es notwendig, fragte er, daß Miß Arcadia Walker und ich vom Pferde absteigen?«

John Proth dachte einen Augenblick nach.

»O, keineswegs, versicherte er. Man kann sich ebensogut zu Pferde wie zu Fuß trauen lassen.«

Es dürfte wohl schwierig sein, irgendwo, selbst in dem so originellen Amerika, einen gefälligeren, entgegenkommenderen Beamten zu finden.

»Gestatten Sie nur noch eine Frage, fuhr John Proth fort. Sind auch schon alle gesetzlich vorgeschriebenen Formalitäten erledigt?

– Ja, gewiß,« versicherte Seth Stanfort.

Damit übergab er dem Richter zwei große Kuverts mit den Erlaubnisscheinen, die nach Entrichtung der betreffenden Gebühren von den Gerichtsschreibereien in Boston und in Trenton ausgefertigt waren.

John Proth nahm die Papiere in Empfang, setzte seine Brille mit goldenem Gestell auf und durchlas aufmerksam die offiziellen und durch einen Stempel der Behörde beglaubigten Schriftstücke.

»Die Papiere sind in Ordnung, sagte er, und ich bin also bereit, Ihnen den Trauschein auszustellen.«

Niemand wird sich wohl darüber wundern, daß die zu immer größerer Zahl angewachsenen Neugierigen sich um das Paar drängten, wie ebensoviele Zeugen einer feierlichen Verbindung, die unter Umständen vor sich ging, welche in jedem andern Lande als ganz außergewöhnlich erscheinen würden. Das genierte aber die beiden Verlobten nicht, ja es mißfiel ihnen nicht einmal.

John Proth trat wieder auf die ersten Stufen seiner Freitreppe zurück und sagte mit lauter, für alle verständlicher Stimme:

»Mister Seth Stanfort, es ist also Ihr ernster Wille, Miß Arcadia Walker zur Frau zu nehmen?

– Ja.

– Und Sie, Miß Arcadia Walker, sind ebenso gewillt, den Mister Seth Stanfort zum Manne zu nehmen?

– Ja.«

Der Beamte sammelte sich einige Sekunden, dann verkündete er so ernsthaft, wie ein Photograph im Augenblicke der Objektivöffnung »Jetzt recht ruhig und freundlich!« sagt, mit nachdrücklicher Betonung:

»Im Namen des Gesetzes erkläre ich Sie, Mister Seth Stanfort aus Boston, und Sie, Miß Arcadia Walker aus Trenton, hiermit für ehelich verbunden!«

Die beiden jungen Gatten näherten sich ihm und ergriffen seine Hand, wie um den eben vollzogenen Akt noch zu besiegeln.

Gleichzeitig überreichten sie ihm aber jedes einen Fünfhundertdollarschein.

»Als Honorar, sagte dazu Seth Stanfort.

– Für die Armen der Stadt,« sagte Mistreß Arcadia Stanfort.

Nachdem sich dann noch beide vor dem Richter verbeugt hatten, gaben sie ihren Pferden die Zügel und galoppierten in der Richtung nach der Wilcox-Vorstadt davon.

»Na ja, gut ... gut! rief Kate, die vor Verwunderung so gelähmt war, daß sie ausnahmsweise zehn Minuten lang ganz stumm dagestanden hatte.

– Was soll das heißen, Kate?« fragte Mr. John Proth.

Die alte Kate ließ ihren Schürzenzipfel fallen, den sie einen Augenblick wie ein gelernter Seiler zusammengedreht hatte.

»Ach ... ich weiß nicht ... ich meine nur, Herr Richter, gestand sie, daß die beiden Leutchen da rechte Toren sind.

– Ohne Zweifel, ehrsame Kate, ohne Zweifel, stimmte John Proth ihr bei, während er seine friedliche Gießkanne wieder zur Hand nahm. Ist denn das etwa aber etwas so Wunderbares? Sind denn die, die sich verheiraten, nicht immer etwas närrische Leute?«


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