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XIII.

Worin man, wie es der Richter John Proth vermutet hatte, einen dritten und bald noch einen vierten Aspiranten auftauchen sieht.

 

Wir tun jedenfalls besser, auf eine Schilderung der tiefen Betrübnis der Familie Hudelson und Francis Gordons von vornherein zu verzichten. Gewiß hätte Francis nicht gezaudert, mit seinem Onkel zu brechen, von seiner Zustimmung abzusehen, seinem Zorne zu trotzen und die unvermeidlichen Folgen auf sich zu nehmen, doch was ihm Mr. Dean Forsyth gegenüber möglich war, war es nicht auch gegenüber Mr. Hudelson. Vergeblich hatte dessen Gattin sich bemüht, seine Zustimmung zu erlangen und den gewählten Trauungstag einhalten zu lassen, doch kein Bitten, keine sanften Vorwürfe vermochten den starrsinnigen Doktor zu erweichen. Loo – sogar die kleine Loo – war von ihm unerbittlich zurückgewiesen worden trotz ihrer Bitten, ihrer Liebkosungen und ohnmächtigen Tränen.

Von jetzt ab war überhaupt jeder weitere ähnliche Versuch unmöglich, da der Onkel und der Vater, beide von reiner Tollheit erfaßt, nach sehr entlegenen Ländern abgereist waren.

Und wie zwecklos sollte sich diese Abreise erweisen! Wie unnütz die Ehescheidung Mr. Seths und Mrs. Arcadias, deren letzte Ursache die Behauptungen der beiden Astronomen gewesen waren! Wenn diese vier Personen sich nur eine vierundzwanzigstündige Frist zu ruhiger Überlegung gegönnt hätten, würde ihr Verhalten gewiß ein ganz andres gewesen sein.

Schon am nächsten Morgen veröffentlichten nämlich die Whastoner und viele andere Zeitungen mit der Unterschrift I. B. K. Lowenthals, des Direktors der Sternwarte in Boston, ein Eingesandt, das die Sachlage von Grund aus änderte. Für die beiden Whastoner Berühmtheiten lautete dessen Inhalt, wie man aus dem Nachstehenden ersehen wird, wenig schmeichelhaft.

»Eine Mitteilung, die in den letzten Tagen von zwei Amateur-Astronomen der Stadt Whaston ausgegangen ist, hat eine unerhörte Erregung hervorgerufen. Uns ist es nun ein Bedürfnis, diese Angelegenheit aufzuklären.

»Zunächst gestatte man uns, das lebhafteste Bedauern darüber auszusprechen, daß hier bedeutungsvolle Mitteilungen recht leichtherzig veröffentlicht worden sind, ohne vorher der Kontrolle wirklicher Fachgelehrter unterbreitet worden zu sein. An solchen Fachmännern fehlt es ja nicht. Ihre durch Prüfungen und Diplome bestätigten Kenntnisse betätigen sie an zahlreichen offiziellen Observatorien.

»Es verdient ja gewiß alle Anerkennung, zuerst einen Himmelskörper wahrgenommen zu haben, der so freundlich war, über das Gesichtsfeld eines nach dem Himmel gerichteten Fernrohrs hinzuziehen. Ein solcher glücklicher Zufall hat aber nicht die Eigenschaft, mit einem Schlage einfache Amateure zu Mathematikern von Beruf zu verwandeln. Wenn man, diese Binsenweisheit verkennend, sich da an Aufgaben heranwagt, deren Lösung eine tiefere Sachkenntnis erfordert, setzt man sich der Gefahr aus, Irrtümer von der Art zu begehen, wie wir sie jetzt zu zerstreuen verpflichtet sind.

»Es ist ganz richtig, daß die Feuerkugel, die alle Welt beschäftigt, augenblicklich eine Störung erfahren hat. Die Herren Forsyth und Hudelson haben aber sehr unrecht gehandelt, sich mit einer einzigen Beobachtung zu begnügen und auf dieser unvollkommenen Grundlage Berechnungen aufzustellen, die übrigens selbst nicht fehlerfrei sind. Wenn man sich auch nur an die Störung hält, die die Genannten am Abend des 11. oder am Morgen des 12. Mai beobachtet haben, kommt man schon zu ganz abweichenden Resultaten. Doch noch mehr: Die Störung in der Bewegung der Feuerkugel hat am 11. oder 12. Mai weder angefangen, noch an diesen Tagen aufgehört. Die erste Störung datiert vielmehr vom 10. Mai und ist bis zur Stunde noch nicht abgeschlossen.

»Diese Störung oder richtiger diese einander folgenden Störungen haben nun einerseits die Folge gehabt, die Feuerkugel der Erdoberfläche zu nähern, anderseits sie aus ihrer ersten Bahn zu lenken. Am 17. Mai hatte die Entfernung der Feuerkugel von uns um 78 Kilometer abgenommen und die Abweichung aus ihrer Bahn betrug da 55 Bogenminuten.

»Diese doppelte Veränderung im Zustande der Dinge ist ferner nicht auf einmal eingetreten. Sie bildet vielmehr eine Summe sehr kleiner Veränderungen, die einander seit dem 10. dieses Monats gefolgt sind.

»Bisher ist es unmöglich gewesen, die Ursache der Störung zu ergründen, die die Feuerkugel erlitten hat. Nichts am Himmel erscheint geeignet, sie zu erklären. Die Nachforschungen hierüber werden noch ununterbrochen fortgesetzt und es ist anzunehmen, daß sie binnen kurzem zum Ziele führen.

»Wie dem aber auch sein mag, es war mindestens vorschnell, das Herabfallen dieses Asteroiden anzukündigen und gar noch den Ort und die Zeit seines Falles vorauszubestimmen. Wenn die unbekannte Ursache, die die Feuerkugel beeinflußt, in gleicher Weise fortwirkt, wird diese schließlich allerdings herabstürzen, doch bisher berechtigt uns nichts zu der Behauptung, daß dieser Fall eintreten müsse. Augenblicklich hat ihre Schnelligkeit freilich notwendigerweise zugenommen, da sie einen kleineren Kreislauf beschreibt. Sie würde aber, wenn die Kraft, die ihre Geschwindigkeit gesteigert hat, zu wirken aufhörte, gar keine Veranlassung haben, herunterzufallen.

»Im entgegengesetzten Falle würde es, da die bei jedem Vorübergange des Meteors bis heute nachgewiesenen Störungen immer ungleiche gewesen sind und der Wechsel ihrer Intensität keinem bekannten Gesetze zu gehorchen scheint, zwar zulässig sein, das Herabfallen des kleinen Himmelskörpers vorherzusagen, nicht aber den Ort und das Datum dieses Ereignisses zu bestimmen.

»Alles in allem kommen wir also zu dem Schlusse: Das Herabfallen der Feuerkugel ist wahrscheinlich, doch keineswegs gewiß. Auf keinen Fall aber ist es in der nächsten Zeit zu erwarten.

»Wir empfehlen demnach, sich zu beruhigen gegenüber einem Vorgange, der zunächst hypothetisch bleibt, und wenn er sich verwirklichen sollte, mindestens keine praktischen Folgen haben kann. Wir werden übrigens fortan Sorge tragen, das Publikum durch tägliche Mitteilungen auf dem Laufenden zu erhalten, indem wir von Tag zu Tag über die Weiterentwicklung der Sache berichten werden.«

Ob wohl Mr. Seth Stanfort und Mrs. Arcadia Walker von diesen Auslassungen I. B. K. Lowenthals Kenntnis hatten? Das ist dunkel geblieben. Was dagegen Mr. Dean Forsyth und den Doktor Hudelson betrifft, bekam der erste in Saint Louis im Staate Missouri und der zweite in New York die sie angehende Zurechtweisung des Direktors der Bostoner Sternwarte in die Hand. Von diesem Nasenstüber aber wurden sie so rot, als hätten sie eine derbe Ohrfeige erhalten.

Wie grausam ihre Erniedrigung aber auch war, es blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Mit einem Gelehrten wie I. B. K. Lowenthal läßt man sich am besten auf keinen Streit ein.

Mr. Forsyth und Mr. Hudelson ließen die Ohren hängen, als sie nach Whaston umkehrten, der eine unter Aufopferung seines bis San Francisco bezahlten Billetts, der andere, indem er den Preis für seine bis Buenos-Ayres belegte Kabine einer habgierigen Dampfergesellschaft überließ.

In ihrem Heim eingetroffen, stiegen sie voller Ungeduld der eine auf seinen Turm, der andre auf seine Warte. Hier brauchten sie nicht viel Zeit, sich zu überzeugen, daß I. B. K. Lowenthal recht hatte, da sie außerordentliche Mühe hatten, ihre vagierende Feuerkugel wieder zu entdecken, und da sie diese nicht an der Stelle fanden, die sie nach ihren – falschen! – Berechnungen einnehmen sollte.

Mr. Dean Forsyth und der Doktor Hudelson sollten sehr bald die Wirkungen ihres peinlichen Irrtums empfinden. Was war jetzt aus den Zügen geworden, die sie triumphierend jeden nach seinem Bahnhof begleitet hatten? Offenbar hatte sich die Gunst des Volkes von ihnen abgewendet. Wie schmerzlich mußte es aber für sie sein, sich, nachdem sie ihre Popularität in langen Zügen genossen hatten, dieser berauschenden Labung plötzlich beraubt zu sehen.

Ihre Aufmerksamkeit wurde aber bald noch durch eine ernste Sorge in Anspruch genommen. Wie es der Richter John Proth mit etwas dunkeln Worten schon vorausgesagt hatte, erhob sich jetzt ihnen gegenüber ein dritter – unpersönlicher – Bewerber. Zuerst war es nur ein unsicheres Gerücht, das von Mund zu Mund ging, nach wenigen Stunden verwandelte sich dieses Gerücht aber zur offiziellen Neuigkeit, die urbi et orbi mit Trompetenschall verkündigt wurde.

Dieser dritte Aspirant, der in sich die ganze zivilisierte Erde vereinigte, war natürlich schwer zu bekämpfen. Wären Mr. Dean Forsyth und der Doktor Hudelson nicht durch ihre Leidenschaft geblendet gewesen, so hätten sie dessen Eingreifen von Anfang an voraussehen müssen. Statt sich gegenseitig einen lächerlichen Prozeß aufzuhalsen, hätten sie sich sagen müssen, daß die verschiedenen Regierungen der Erde sich notwendigerweise mit diesen Tausenden von Milliarden beschäftigen würden, die, wenn sie plötzlich die vorhandene Goldmenge vermehrten, eine schreckliche finanzielle Revolution hervorrufen müßten. Dieser so natürliche und einfache Gedanke war Mr. Dean Forsyth und dem Doktor Hudelson jedoch nicht gekommen, und die Meldung von dem Zusammentreten einer internationalen Konferenz traf sie deshalb wie ein Blitzstrahl.

Sie beeilten sich, darüber Erkundigungen einzuziehen. Die Meldung erwies sich als richtig. Man nannte sogar schon einzelne Namen von Mitgliedern an der geplanten Konferenz, die in Washington – leider wegen der weiten Reise mancher Teilnehmer viel später, als es erwünscht gewesen wäre – teilnehmen sollten. Unter den obwaltenden Umständen hatten die Regierungen deshalb beschlossen, daß in Washington die bei der amerikanischen Regierung beglaubigten Gesandten zu einer Vorkonferenz zusammentreten sollten, ohne erst auf die Delegierten der verschiedenen Staaten zu warten. Die außerordentlichen Deputierten würden dann während des Fortganges der vorbereitenden Verhandlungen eintreffen, in denen man das Terrain sozusagen zu sondieren beabsichtigte, so daß beim Zusammentreten der eigentlichen Konferenz schon in deren erster Sitzung ein bestimmtes Programm vorgelegt werden konnte.

Der Leser erwarte hier nicht eine Aufzählung aller der Staaten, die man als berechtigt zur Teilnahme an der Konferenz ansah. Diese Liste würde, wie gesagt, die ganze zivilisierte Erde umfassen. Kein Kaiser- und kein Königreich, keine Republik und kein Fürstentum war ja an diesem Rechtsstreite uninteressiert und alle hatten einen Deputierten ernannt, von Rußland bis China, die das erste durch Herrn Ivan Saratoff aus Riga, das zweite durch Seine Exzellenz Lio Maon Tchi aus Kanton vertreten waren, und bis zu den Duodez-Republiken San Marino und Andorra, deren Interessen die Herren Beveragi und Ramonscho wahrnehmen sollten.

Vorläufig waren alle Ansprüche erlaubt, alle Hoffnungen berechtigt, denn niemand wußte ja, wo das Meteor auf die Erde fallen werde, vorausgesetzt, daß das überhaupt geschah.

Die erste Sitzung fand am 25. Mai in Washington statt. Man begann damit, die Frage Forsyth-Hudelson ganz von den Verhandlungen auszuschließen, was übrigens nicht mehr als fünf Minuten in Anspruch nahm. Die beiden Herren, die eigens nach der Bundeshauptstadt gereist waren, bemühten sich vergeblich, Gehör zu erlangen. Man wies ihnen aber hier wie unwillkommenen Eindringlingen einfach die Tür. Nun stelle man sich ihre Wut vor, als sie nach Whaston zurückkamen. Wahrheitsgemäß müssen wir freilich sagen, daß ihre Klagen ohne Erfolg blieben. In der Presse, die ihnen so lange Weihrauch gestreut hatte, fand sich kein einziges Journal, das für sie eingetreten wäre. Man hatte sie ja früher genug gefüttert mit einem »hochgeehrten Bürger Whastons«, mit einem »genialen Astronomen – und einem »ebenso hervorragenden wie bescheidenen Mathematiker». Jetzt blies man eine andre Tonart.

»Was hatten die Phantasten überhaupt in Washington zu suchen? ... Sie waren zwar die ersten gewesen, die das Auftauchen des Meteors gemeldet hatten, doch was weiter? ... Verlieh ihnen dieser glückliche Zufall irgendwelche Rechte? Hatten sie etwas mit dessen Herabfallen zu tun? ... Wahrlich, man hatte nicht die geringste Veranlassung, über so lächerliche Ansprüche ein Wort zu verlieren!« so lautete es jetzt in der Lokalpresse. Sic transit Goria mundi!

Nach Erledigung dieser Frage begannen die ernsten Verhandlungen der Vorkonferenz.

Mehrere Sitzungen widmete man da der Aufstellung der Liste derjenigen selbständigen Staaten, die zur Teilnahme an der Konferenz berechtigt sein sollten. Viele von ihnen hatten in Washington keinen beglaubigten diplomatischen Vertreter. Es handelte sich deshalb darum, das Prinzip ihrer Berechtigung zur Mitarbeit unentschieden zu lassen bis zu dem Tage, wo die Konferenz ihre entscheidenden Verhandlungen beginnen würde. Die Aufstellung jener Liste ging nicht so glatt ab und die Verhandlungen darüber wurden bisweilen so lebhaft, daß man wegen der Zukunft besorgt werden konnte. So erhoben z. B. Ungarn und Finnland den Anspruch, unmittelbar vertreten zu sein, ein Anspruch, gegen den die Kabinette von Wien und Sankt Petersburg einen scharfen Protest erhoben. Anderseits bestand eine Uneinigkeit zwischen Frankreich und der Türkei wegen Tunesiens, deren Ausgleichung durch die persönliche Einmischung des Beys noch weiter erschwert wurde. Japan war wieder mit den Ansprüchen Koreas unzufrieden. Kurz, die Mehrzahl der Nationen stieß auf ganz ähnliche Schwierigkeiten, und nach sieben aufeinanderfolgenden Sitzungen war man noch zu keiner Entscheidung gekommen, als am 1. Juni ein unerwarteter Zwischenfall eine neue Erregung der Allgemeinheit veranlaßte.

Wie er versprochen hatte, gab I. B. K. Lowenthal jeden Tag von dem Meteor in Gestalt kurzer Noten in der Presse Nachricht. Bisher hatten diese Meldungen nichts Außerordentliches enthalten. Sie beschränkten sich darauf, aller Welt mitzuteilen, daß die Bewegung des Meteors noch immer kleinen Veränderungen unterliege, die zusammengenommen zwar dessen Herabfallen immer wahrscheinlicher machten, es jedoch noch keineswegs als gewiß ansehen ließen.

Die am 1. Juni veröffentlichte Mitteilung unterschied sich aber wesentlich von den früheren. Es schien wirklich so, als ob die Störungen der Feuerkugel ansteckend wirkten, denn I. B. K. Lowenthal zeigte sich jetzt selbst in ähnlicher Weise gestört.

»Nicht ohne wirkliche Erregung, schrieb er an genanntem Tage, bringen wir die seltsamen Erscheinungen zur öffentlichen Kenntnis, deren Zeugen wir gewesen sind, Tatsachen, die auf nichts Geringeres hinauslaufen als auf eine Erschütterung der Grundlagen, worauf die astronomische Wissenschaft, d. h. die Wissenschaft überhaupt, beruht, denn die menschlichen Kenntnisse bilden ein solidarisch verbundenes Ganzes. Wie unerklärt und unerklärlich jene Erscheinungen aber auch sind, können wir doch deren unwidersprechliche Gewißheit nicht verkennen.

»Unsre früheren Mitteilungen haben das Publikum davon benachrichtigt, daß die Bewegung der Feuerkugel ununterbrochen einander folgende Störungen erfahren hat, deren Ursache und Gesetz zu erkennen bisher unmöglich gewesen ist. Das ist eine höchst abnorme Erscheinung. Der Astronom liest sonst im Himmel wie in einem Buche, und im allgemeinen geht dort nichts vor, was er nicht vorhergesehen hätte oder dessen Resultate er mindestens nicht hätte Voraussagen können. So treten z. B. die Finsternisse, die schon Jahrhunderte vorher angekündigt waren, mit der bestimmten Sekunde ein, als gehorchten sie dem Befehle des vergänglichen Wesens, dessen Scharfblick sie schon im Nebel der Zukunft entdeckt hatte und der im Augenblicke der Erfüllung seiner Vorhersage dann schon Jahrhunderte lang im ewigen Schlummer ruht.

»Wenn die beobachteten Störungen auch abnorm waren, so widersprachen sie doch nicht den Leitsätzen der Wissenschaft, und wenn ihre Ursache unerkannt blieb, haben wir das der Unvollkommenheit unserer analytischen Methode zuzuschreiben.

»Heute liegt das nicht mehr so. Seit vorgestern, dem 30. Mai, hat der Gang der Feuerkugel neue Störungen erfahren, die mit unsern begründetsten theoretischen Kenntnissen in schreiendem Widerspruche stehen. Damit ist gesagt, daß wir die Hoffnung aufgeben müssen, dafür je eine befriedigende Erklärung zu finden, da die Grundsätze, die das Gewicht von Axiomen hatten und auf denen unsre Berechnungen beruhen, in vorliegendem Fall nicht anwendbar sind.

»Auch der mindestgeschickte Beobachter hat, beim zweiten Vorübergang der Feuerkugel, am Nachmittage des 30. Mai, jedenfalls wahrnehmen können, daß diese, statt sich der Erde zu nähern, wie sie es seit dem 10. Mai ohne Unterbrechung getan hatte, im Gegenteil merkbar von uns abgerückt war. Gleichzeitig ist die Abweichung von ihrer Bahn, die seit zwanzig Tagen das Streben zeigte, eine nordost-südwestliche Änderung einzugehen, plötzlich zum Stillstand gekommen.

»Diese unerwartete Erscheinung hatte schon etwas Unverständliches an sich, als man gestern, am 31. Mai und beim vierten Vorübergange des Meteors nach Tagesanbruch, konstatieren mußte, daß dessen Kreisbahn wieder genau eine nord-südliche geworden war, während seine Entfernung von der Erde sich seit dem Tage vorher nicht verändert hatte.

»So ist die gegenwärtige Sachlage. Die Wissenschaft ist ohnmächtig, Tatsachen zu erklären, die alle Charaktere mangelnden Zusammenhangs aufweisen würden, wenn in der Natur überhaupt etwas ohne Zusammenhang bestehen oder sich ereignen könnte.

»In unsrer ersten Mitteilung hatten wir ausgesprochen, daß das noch ungewisse Herabfallen der Feuerkugel mindestens als wahrscheinlich zu betrachten sei. Jetzt wagen wir es nicht mehr, uns so zuversichtlich auszusprechen und ziehen es vor, bescheiden unsre Unwissenheit einzugestehen.«

Und wenn ein Anarchist eine Bombe in die achte vorbereitende Sitzung geschleudert hätte, er würde kaum eine Wirkung erzielt haben, die sich mit der dieser I. B. K. Lowenthal Unterzeichneten Mitteilung hätte messen können. Man riß sich um die Zeitungen, die sie brachten und mit Bemerkungen begleiteten, welche mit Ausrufungszeichen gespickt waren. Der ganze Nachmittag verging unter Zwiegesprächen und oft recht nervösem Meinungsaustausch ... sehr zum Nachteil der mühsamen Arbeiten der Konferenz.

An den folgenden Tagen wurde das noch schlimmer, die einander auf dem Fuße folgenden Mitteilungen I. B. K. Lowenthals wurden immer überraschender. Inmitten des so wunderbar geregelten Balletts der Gestirne schien die Feuerkugel, ein einzelner Kavalier ohne Maß und Ziel, einen richtigen Cancan zu tanzen. Bald neigte sich ihre Bahn um drei Grade nach Osten, bald schwankte sie wieder um vier Grade nach Westen zurück. Wenn sie sich bei dem einen Vorübergange der Erde genähert zu haben schien, war sie bei dem nächsten von ihr wieder um mehrere Kilometer weiter entfernt. Das war rein zum Tollwerden!

Dieser Tollheit verfiel nach und nach auch die Internationale Konferenz. Unsicher über den praktischen Nutzen ihrer Besprechungen, arbeiteten die Diplomaten nur lässig und ohne festen Willen, zu einem Ende zu kommen.

Inzwischen verfloß die Zeit. Von verschiedenen Himmelsgegenden der Erde strömten die Vertreter aller Nationen Amerika und Washington mit Volldampf entgegen. Viele von ihnen waren schon angekommen, und bald waren ihrer genügend viele, sich, ohne weitere Kollegen abzuwarten, ordnungsmäßig zu konstituieren. Sollten diese dann ein noch ungelöstes Problem vorfinden, von dem nicht einmal der erste Punkt aufgehellt war?

Die Mitglieder der Vorkonferenz griffen sich jetzt an der Ehre an, und um den Preis einer wütenden Arbeit gelang es ihnen, sich in acht Sondersitzungen über die Liste der Staaten zu einigen, die zu den Sitzungen zugelassen werden sollten. Deren Zahl wurde auf zweiundfünfzig festgesetzt, nämlich fünfundzwanzig für Europa, sechs für Asien, acht für Afrika und siebzehn für Amerika. Darunter waren vierundzwanzig Erbmonarchien (Kaiser- und Königreiche), zweiundzwanzig Republiken und sechs Fürstentümer. Diese zweiundfünfzig Staaten waren damit also, teils an sich selbst, teils wegen ihrer Vasallenstaaten und Kolonien, als die einzigen rechtmäßigen Besitzer der Erdkugel anerkannt.

Es war auch die höchste Zeit, in den Vorversammlungen darüber schlüssig zu werden. Die zu dem Kongresse zugelassenen zweiundfünfzig Delegierten waren bereits zum größten Teil in Washington eingetroffen und jeden Tag kamen noch neue daselbst an.

Die Internationale Konferenz trat zum erstenmal am 10. Juni, Nachmittag zwei Uhr, und zwar unter dem Vorsitze des Alterspräsidenten Soliès, einem Professor der Ozeanographie und Delegierten des Fürstentumes Monaco, zusammen. Dann ging man sofort an die Konstituierung eines ständigen Bureaus.

Gleich durch die erste Abstimmung wurde – mit Rücksicht auf das Land, das den Kongreß bei sich aufnahm – Mr. Harvey, ein hervorragender Rechtsanwalt und Vertreter der Vereinigten Staaten, zum Vorsitzenden erwählt. Das Amt des zweiten Vorsitzenden fiel nach längerem Meinungsaustausch dem Vertreter Rußlands, einem Herrn Saratoff, zu. Die französischen, englischen und japanischen Abgesandten bestimmte man dann noch zu Schriftführern der Konferenz.

Nach Erledigung dieser Formalitäten begrüßte der Vorsitzende die Versammlung mit einer sympathischen und sehr beifällig aufgenommenen kurzen Ansprache und kündigte dann an, daß man zunächst drei Unterausschüsse zu wählen haben werde, denen die Aufgabe zufiele, vom demographischen, finanziellen und juristischen Gesichtspunkte aus die beste Arbeitsmethode zu suchen.

Schon begann man mit der Stimmenabgabe, als sich ein Saaldiener dem Präsidentenstuhle näherte und dem Mr. Harvey ein Telegramm übergab.

Mr. Harvey las das Telegramm, je weiter er aber darin las, verrieten seine Gesichtszüge ein immer zunehmendes Erstaunen. Nach kurzer Überlegung zuckte er zwar verächtlich mit den Schultern, das hinderte ihn jedoch nach nochmaligem kurzen Nachdenken nicht, mit der Glocke zu läuten, um die Aufmerksamkeit seiner Kollegen zu erwecken.

»Meine Herren, begann jetzt Mr. Harvey, als Ruhe eingetreten war, ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, daß ich soeben das Telegramm hier erhalten habe. Ich zweifle nicht im mindesten, daß es von einem Narren oder von einer Person herrührt, die sich einen sehr unangebrachten Scherz erlaubt. Immerhin erscheint es mir geboten, Ihnen den Inhalt mitzuteilen. Das – übrigens mit keinem Namen unterzeichnete – Telegramm lautet folgendermaßen:

 

»Herr Präsident,

ich habe die Ehre, die Internationale Konferenz dahin zu verständigen, daß die Feuerkugel, auf die sich Ihre Verhandlungen beziehen, keineswegs eine herrenlose Sache, sondern mein persönliches Eigentum ist.

Die Internationale Konferenz hat also gar keine Existenzberechtigung, und wenn sie weitere Sitzungen abhält, werden ihre Arbeiten doch fruchtlos bleiben.

Nur meinem Willen folgend, nähert sich das Meteor der Erde und nur bei mir wird es schließlich herabfallen; es ist also mein unbestreitbares Eigentum.«

 

– Und dieses Telegramm ist ohne Unterschrift? fragte der englische Abgeordnete.

– Ohne jede Andeutung über den Absender.

– Unter diesen Umständen, erklärte der Vertreter Deutschlands, brauchen wir darauf ja gar keine Rücksicht zu nehmen.

– Das ist auch meine Ansicht, stimmte ihm der Vorsitzende zu, und ich glaube des Beifalls meiner Kollegen sicher zu sein, wenn ich dieses Dokument einfach den Archiven der Konferenz einverleiben lasse. Das ist doch auch Ihre Ansicht, meine Herren? ... Es erfolgt kein Widerspruch? ... Meine Herren, die Sitzung nimmt ihren Fortgang.«


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