Jules Verne
Die Eissphinx. Zweiter Band
Jules Verne

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IX. Was nun?

Wie vom Donner gerührt und vor den Kopf geschlagen fühlten wir uns, als die Goëlette, wie ein Felsstück bei einer Lawine, im Abgrunde verschwand. Von unserer Goëlette war nichts mehr, nicht einmal ein Trümmerrest übrig. Hundert Fuß durch die Luft, das dauerte einen Augenblick, und jetzt . . . lag sie vielleicht fünfhundert Fuß tief im Meere! Wie vor den Kopf geschlagen, konnten wir an die Gefahren der Zukunft jetzt gar nicht denken, wir standen erstarrt, wie Leute, die, wie man sagt, ihren Augen nicht mehr trauen mögen.

Diesem Zustand folgt naturgemäß der der vollständigsten Erschlaffung. Kein Laut war zu hören, keine Bewegung zu spüren. Wir standen wie in den Boden eingemauert. Nichts hätte das Entsetzliche dieser Lage treffend zu bezeichnen vermocht.

An Jem West sah ich, wie ihm nach dem Verschwinden der Goëlette im Wasser eine schwere Thräne aus den Augen quoll. Die »Halbrane«, die er so sehr liebte, war so plötzlich vernichtet! Ja, der Mann mit dem so energischen Charakter . . . er weinte! . . .

Drei von den Unsrigen waren umgekommen . . . und auf welch schreckliche Weise! Rogers und Gratian, zwei der zuverlässigsten Matrosen . . . ich sehe sie noch die Arme wie um Hilfe flehend ausstrecken, dann bei den Sprüngen der Goëlette hinausgeschleudert mit ihr versinken! Und der Andre von den Falklands, ein Amerikaner, zerdrückt . . . zerschmettert, und nichts von ihm mehr übrig, als eine formlose Fleischmasse in einer Blutlache. Damit hatten wir seit zehn Tagen drei neue Opfer dieser verderbenschwangern Fahrt zu verzeichnen. Oh, während das Glück uns bis zur Stunde begünstigt hatte, wo die »Halbrane« ihrem Elemente entrissen wurde, peitschte uns jetzt das Unglück mit grausamsten Schlägen. Und war der letzte nicht der allerschlimmste, sollte es nicht der Todes- oder Gnadenstoß für uns sein?

Endlich wurde der Bann des Schweigens durch laute Stimmen gebrochen, durch Aufschreie der Verzweiflung, die dieses unheilbare Unglück rechtfertigte. Mehr als Einer sagte sich wohl, es wäre besser gewesen, mit an Bord der »Halbrane« zu sein, als diese den Abhang hinuntersprang. Dann wäre alles vorbei, wie für Rogers und Gratian! Diese sinnlose Expedition hätte das einzige Ende gefunden, das so viele Tollkühnheiten und Unklugheiten verdienten!

Endlich fanden die Leute wieder Worte und – wenn nicht Hearne, der, an der Seite stehend, sich schweigend stellte – wenigstens seine Kameraden riefen:

»Nach dem Boote! . . . Nach dem Boote!«

Die Aermsten waren ihrer Sinne nicht mehr mächtig; der Schrecken verwirrte sie. Sie drangen nach der Wandvertiefung zu, wo unser einziges, übrigens für Alle nicht hinreichendes Boot seit der Entladung der Goëlette geschützt untergebracht worden war.

Der Kapitän Len Guy und Jem West stürmten aus dem Lager hervor.

Ich eilte zu ihnen hin und mir folgte der Hochbootsmann. Wir waren bewaffnet und entschlossen, von unsern Waffen Gebrauch zu machen. Die wüthenden Leute durften sich des Bootes nicht bemächtigen. Es war nicht das Eigenthum eines Einzelnen . . . es gehörte Allen!

»Hierher, Matrosen!« rief der Kapitän Len Guy.

»Hierher,« wiederholte Jem West, »oder ich schieße auf jeden, der einen Schritt weiter thut!«

Die Arme ausgestreckt, hielten Beide die Pistolen drohend hinaus. Der Hochbootsmann zielte schon mit der Flinte auf die Leute und ich hielt meinen Carabiner bereit, im Nothfalle mit einzugreifen.

Vergeblich! Die Verblendeten hörten nichts, wollten nichts hören, und einer von ihnen, der schon nahe an das Boot herangekommen war, brach von einer Kugel des Lieutenants getroffen zusammen. Seine Hände fanden an dem Abhange keinen Halt, und über die eisige Fläche hinunter gleitend, verschwand er im Abgrunde.

War das der Anfang eines Gemetzels? . . . Wollten sich auch noch andere niederschießen lassen? . . . Würden die alten Leute von der Mannschaft Partei für die neuen ergreifen?

Ich konnte in diesem Augenblicke wahrnehmen, daß Hardie, Martin Holt, Francis, Bury und Stern zögerten, sich auf unsere Seite zu stellen, während der einige Schritt seitwärts stehende Hearne sich hütete, die Empörer etwa durch Winke zu ermuthigen.

Wir konnten ihnen das Boot unmöglich überlassen, konnten nicht zugeben, daß sie es aufs Meer setzten, daß zehn bis zwölf sich darin einschifften und uns auf diesem Eisberg, jedes Mittels zum Fortkommen beraubt, zurückließen.

Doch wie von den Furien des Schreckens gepeitscht, ohne Vorstellung jeder Gefahr, gegen alle Drohungen taub, wollten sie sich des Bootes bemächtigen. Da krachte ein anderer, vom Hochbootsmann abgegebener Schuß und einer der Matrosen stürzte, mit einer Kugel in der Brust, auf der Stelle todt nieder.

Jetzt zählten die entschlossensten Spießgesellen des Segelmeisters einen Amerikaner und einen Feuerländer weniger.

Da tauchte dicht vor dem Boote eine Mannesgestalt auf.

Dirk Peters war es, der sich von der andern Seite her herangeschlichen hatte.

Der Mestize legte eine seiner gewaltigen Hände auf den Vordersteven und gab mit der andern den Wüthenden ein Zeichen, sich zu entfernen.

Da Dirk Peters zur Stelle war, brauchten wir uns unserer Waffen nicht mehr zu bedienen; er genügte schon allein, das Boot zu vertheidigen.

Und wirklich, als fünf oder sechs Matrosen dennoch näher herandrängten, sprang er auf sie zu, packte den einen am Leibgurt, hob ihn in die Höhe und warf ihn zehn Schritte weit zurück. Da der Aermste sich nirgends fest halten konnte, wäre er auch ins Meer gestürzt, wenn Hearne nicht hinzugeeilt wäre und ihn noch in der letzten Secunde gehalten hätte.

Es schien ja schon genug, daß Zwei von den Kugeln gefallen waren.

Gegenüber diesem Eingreifen des Mestizen legte sich die Meuterei sofort. Uebrigens waren auch wir nun dicht bis ans Boot gelangt, gleichzeitig mit denen unserer Leute, deren Zögern nicht lange angedauert hatte.

Immerhin waren die andern uns an Zahl noch überlegen – dreizehn gegen zehn.

Der Kapitän Len Guy zeigte sich, obwohl der Zorn ihm aus den Augen sprühte, ganz kaltblütig, ebenso wie Jem West. Zuerst versagte ihm freilich die Sprache, seine Blicke ließen aber errathen, was nicht über seine Lippen kam. Endlich rief er mit Donnerstimme:

»Ich sollte Euch eigentlich als Verbrecher behandeln, will Euch aber nur als Verführte und Verirrte betrachten! Das Boot gehört keinem Einzelnen, es ist das Eigenthum Aller! Jetzt bildet es unser einziges Rettungsmittel und Ihr habt es stehlen, gemeiner Weise stehlen wollen! Achtet gut darauf, was ich jetzt zum letzten Mal wiederhole: Dieses Boot der ›Halbrane‹ ist die ›Halbrane‹ selbst! Ich bin der Kapitän, und wehe dem, der mir nicht gehorcht!«

Bei den letzten Worten warf der Kapitän einen grimmigen Blick auf Hearne, der gewiß empfand, daß sie auf ihn besonders gemünzt waren. Der Segelmeister hatte sich übrigens, wenigstens offenkundig, an dem wüsten Auftritt gar nicht betheiligt, trotzdem zweifelte aber keiner daran, daß er seine Kameraden aufgewiegelt hatte, sich des Bootes zu bemächtigen, und daß er stets bereit sei, jene noch weiter aufzuhetzen.

»Ins Lager,« befahl der Kapitän Len Guy, »und Du, Dirk Peters, bleibst dort zurück!«

Als Antwort bewegte der Mestize den mächtigen Kopf auf und abwärts und nahm seinen Posten wieder ein.

Die Mannschaft wich ohne ferneren Widerstand nach dem Zeltlager hin zurück. Die einen streckten sich auf ihren Lagerstätten aus, die andern zerstreuten sich in der nächsten Umgebung der Zelte. Hearne machte keine Miene, sich ihnen beizugesellen oder sich Martin Holt zu nähern.

Jetzt, wo die Matrosen zur Unthätigkeit verurtheilt waren, galt es in erster Linie, sich über die sehr verschlimmerte Lage klar zu werden und über die Hilfsmittel, ihr zu entgehen, nachzudenken.

Der Kapitän Len Guy, der Lieutenant und der Hochbootsmann traten zu einer Berathung zusammen und ich schloß mich ihnen an.

Der Kapitän Len Guy eröffnete die Verhandlung mit den Worten:

»Wir haben unser Boot vertheidigt und werden es auch weiter vertheidigen . . .«

»Bis zum Tode!« sagte Jem West.

»Wer weiß,« sagte ich, »ob wir nicht bald gezwungen sein werden, uns darauf einzuschiffen?«

»In diesem Falle,« meinte der Kapitän Len Guy, »würde es sich, da wir nicht Alle darin Platz haben, nöthig machen, eine Auswahl zu treffen. Das Loos hätte die zu bestimmen, die abfahren könnten, und ich verlange hierbei nicht anders behandelt zu werden, als alle Uebrigen.«

»Ei, zum Kuckuck, soweit sind wir doch noch nicht!« platzte der Hochbootsmann heraus. »Der Eisberg ist fest und es ist keine Gefahr, daß er im Winter schmelzen könnte!«

»Nein,« bestätigte Jem West, »das ist nicht zu befürchten. Nöthig ist zunächst nur, daß wir ebenso wie das Boot auch die Nahrungsmittel überwachen.«

»Und ein wahres Glück,« setzte Hurliguerly hinzu, »daß wir unsern Proviant in Sicherheit gebracht hatten . . . Du arme, liebste ›Halbrane‹! . . . Sie hat auf dem Meere geendet, wie die ›Jane‹ . . . ihre ältere Schwester!«

Ja freilich, und aus verschiedenen Ursachen, dachte ich, die eine zerstört durch die Wilden von Tsalal, die andere durch einen Unglücksfall, den kein Menschenscharfsinn je hätte voraussehen oder verhüten können.

»Du hast Recht, Jem,« fuhr der Kapitän Len Guy fort, »wir werden die Leute aber von einer Plünderung der Vorräthe abzuhalten wissen. Nahrungsmittel haben wir für länger als ein Jahr, ohne zu rechnen, was der Fischfang liefern wird.«

»Und es erscheint um so nothwendiger, die Augen aufzuhalten, Kapitän,« fiel der Hochbootsmann ein, »als ich schon einzelne gesehen habe, die um die Fässer mit Wisky und Gin umherschlichen.«

»Und wessen wären die Unglücklichen fähig,« rief ich, »wenn die Trunkenheit ihnen vollends das bischen Besinnung raubte!«

»Nach dieser Seite werd' ich schon Vorsorge treffen,« versicherte der Lieutenant.

»Sollten wir aber,« fragte ich, »nicht gezwungen sein, auf diesem Eisberg zu überwintern?«

»Der Himmel behüte uns vor einem so entsetzlichen Schicksal!« erwiderte der Kapitän Len Guy.

»Und wenn's nicht zu umgehen wäre, Herr Jeorling,« meldete sich der Hochbootsmann, »dann würden wir uns schon einzurichten wissen. Wir höhlten uns einen Unterschlupf im Eise aus, um gegen die strengste Polarkälte geschützt zu sein; so lange wir dann etwas haben, unsern Hunger zu stillen . . .«

Da stiegen in meiner Erinnerung wieder die gräulichen Scenen auf, deren Schauplatz der »Grampus« gewesen war und wobei Dirk Peters zuletzt Ned Holt, den Bruder unsers Segelwerksmaats, niederschlug. Sollten wir auch in so entsetzliche Nothlage kommen?

Bevor wir uns jedoch mit der Zurüstung eines sieben- bis achtmonatigen Winterlagers beschäftigten, erschien es, wenn irgend möglich, doch rathsamer, den Eisberg zu verlassen.

Diesem Punkte lenkte ich deshalb die Aufmerksamkeit des Kapitäns Len Guy und Jem West's zu.

Die Antwort auf eine betreffende Frage war schwierig und es folgte erst ein langes Stillschweigen.

Endlich sagte der Kapitän Len Guy:

»Ja . . . das wäre wohl das Beste, und wenn das Boot uns Alle sammt dem nöthigen Proviant für eine Fahrt von drei bis vier Wochen aufnehmen könnte, würde ich gar nicht zögern, gleich jetzt abzufahren und nach Norden zurückzukehren . . .«

»Nur wären wir,« bemerkte ich dazu, »gezwungen, gegen Wind und Strömung anzukämpfen, und wenn das unsrer Goëlette kaum gelang . . . Drängen wir dagegen in südlicher Richtung weiter vor . . .«

»In südlicher Richtung?« wiederholte der Kapitän Len Guy, der mich ansah, als wollte er im Grunde meiner Seele lesen.

»Warum nicht?« erwiderte ich. »Wäre der Eisberg nicht auf seinem Wege aufgehalten worden, so trieb er vielleicht allein nach dem Lande in dieser Himmelsrichtung, und sollte das Boot nicht thun können, was er gethan hätte?«

Der Kapitän Len Guy, der den Kopf schüttelte, während Jem West still schwieg, gab darauf keine Antwort.

»O, unser Eisberg wird doch auch noch einmal die Anker lichten!« fiel Hurliguerly ein. »Er ist ja nicht mit dem Untergrunde verwachsen, wie die Falklands oder die Kerguelen! Das Sicherste bleibt es also, zu warten, da das Boot uns Alle, dreiundzwanzig Mann, doch nicht forttragen könnte.«

»Es ist gar nicht nöthig, daß alle dreiundzwanzig sich einschiffen,« bemerkte ich dagegen. »Es genügt, wenn fünf bis sechs Mann auf Kundschaft, vielleicht zwölf bis fünfzehn Meilen weit, hinausfahren und nach Süden zu steuern.«

»Nach Süden zu?« unterbrach mich der Kapitän Len Guy.

»Gewiß, Kapitän,« fuhr ich fort. »Ihnen ist doch bekannt, daß die Geographen einstimmig behaupten, daß eine Landveste die antarktischen Polargebiete bedeckt . . .«

»Die Geographen wissen davon aber nichts, können nichts Bestimmtes wissen,« bemerkte der Lieutenant frostig.

»Desto bedauernswerther,« sagte ich, »ist es, daß wir, da wir der betreffenden Gegend schon so nahe sind, keine Lösung der Frage wegen eines polaren Festlandes versuchen sollten!«

Im gegebenen Augenblick glaubte ich diese Angelegenheit indeß nicht weiter verfolgen zu sollen.

Die Aussendung unsers Bootes auf Kundschaft bot übrigens auch gewisse Gefahren, ob es die Strömung nun zu weit hinausführte oder es uns hier an der Stelle nicht wieder auffand. Wenn sich der Eisberg nun vom Grunde wieder abhob und seinen unterbrochenen Weg fortsetzte, was sollte dann aus den Leuten im Boote werden? . . .

Ein Unglück war es, daß das Boot zu klein war, uns Alle mit dem nöthigen Proviant aufzunehmen. Von den alten an Bord waren, Dirk Peters dazu gerechnet, zehn, von den neuen dreizehn Mann, zusammen dreiundzwanzig übrig. Elf bis zwölf Personen aber war das Höchste, was unser Boot tragen konnte. Danach hätten mindestens elf der Unsrigen, durch Ausloosung bestimmt, auf dieser Eisinsel zurückbleiben müssen . . . und was sollte schließlich aus diesen Unglücklichen werden? . . .

Hierzu machte Hurliguerly eine Bemerkung, die gewiß beachtet zu werden verdiente.

»Alles in Allem,« sagte er, »weiß ich nicht, ob die, die sich dann einschifften, besser daran wären, als die Zurückgebliebenen. Ich bezweifle das so stark, daß ich meinen Platz im Boote gern jedem, der es wünschte, abtreten würde!«

Vielleicht hatte der Hochbootsmann Recht. Wenn ich für die Benützung des Bootes sprach, so schwebte mir nur der Gedanke vor, das Meer jenseits des Eisberges untersuchen zu lassen. Schließlich entschied man sich aber doch dafür, eine Ueberwinterung vorzubereiten, auch für den Fall, daß der Eisberg wieder abtreiben sollte.

»Das wird freilich kaum den Beifall der Leute finden,« erklärte der Hochbootsmann.

»Was geschehen muß, geschieht,« erwiderte der Lieutenant, »und gleich von heute an geht es ans Werk!«

Ein trauriger Tag war es, wo die nöthigen Vorbereitungen getroffen wurden.

Offen gestanden, sah ich nur den Koch Endicott, der sich widerspruchslos fügte. Als ein Neger, den die Zukunft wenig kümmert, der von leichtem Charakter und frivol wie alle Angehörigen seiner Rasse war, ergab er sich unbedenklich in sein Schicksal, und eine solche Ergebung ist vielleicht die wahre Philosophie. Handelte es sich darum, Speisen zuzubereiten, so war es ihm gleichgiltig, ob er das hier oder da ausführte, wenn seine Oefen nur irgendwo standen.

So sagte er denn zu seinem Freunde, dem Hochbootsmann, begleitet von dem breitesten Mohrenlächeln:

»Zum Glück ist meine Küche nicht mit der Goëlette zugrunde gegangen, und Sie werden sehen, Hurliguerly, ich sorge hier für ebenso schmackhafte Gerichte, wie an Bord der ›Halbrane‹ – natürlich wenn's nicht an dem fehlt, was dazu gehört!«

»Na, so sehr bald wird das nicht der Fall sein, Meister Endicott,« antwortete der Hochbootsmann. »Den Hunger haben wir kaum zu fürchten, wohl aber den Frost . . . einen Frost, der einen zum Eisklumpen verwandelt, wenn man einen Augenblick stehen bleibt . . . einen Frost, bei dem Euch die Haut platzt und die Hirnschale knackt. Ja, wenn wir ein paar hundert Tonnen Kohle zur Hand hätten! Unser ganzer Vorrath reicht aber nicht weiter, als daß wir den Kochtopf zum Brodeln bringen können . . .«

»Und der Vorrath ist geheiligt!« rief Endicott. »Den darf keiner anrühren! Zuerst kommt die Küche!«

»Aha, verteufelter Mohrenkopf, das ist's, warum Du Dich nicht beklagst! Du weißt ja, daß Du Dir immer Hände und Ohren am Kochofen wärmen kannst!«

»Ja, was wollen Sie denn, Hochbootsmann? Entweder ist man Koch, oder man ist keiner! Wenn man's aber ist, so genießt man auch die Vortheile davon, ich werde indeß darauf sehen, daß für Sie auch ein Plätzchen neben dem Kochofen frei bleibt.«

»Schon gut . . . schon gut, Endicott. Da muß jeder einmal an die Reihe kommen, selbst ein Hochbootsmann darf nicht bevorzugt werden! Das widerfährt nur Dir deshalb, weil Du unsere Suppe zusammenzubrauen verstehst. Alles in Allem ist es das Beste, keinen Hunger zu befürchten zu haben. Die Kälte läßt sich schon ertragen und auch etwas abwehren. Da höhlen wir Löcher im Eisberg aus und kriechen hinein. Ja, warum sollten wir nicht eine gemeinsame Wohnung beziehen, die wir uns mittelst der Axt herstellen? Ich habe mir sagen lassen, daß das Eis die Wärme erhält. Schön, so mag es auch uns die unserige bewahren, mehr verlang' ich von ihm ja gar nicht!«

Inzwischen war die Stunde gekommen, die Zelte wieder aufzusuchen und sich auf dem Lager auszustrecken.

Nur Dirk Peters, der jede Ablösung ablehnte, blieb auf seinem Wachtposten zurück, und niemand fiel es ein, ihm diesen streitig zu machen.

Der Kapitän Len Guy und Jem West zogen sich nicht eher unter ihre Zelte zurück, als nach gewonnener Ueberzeugung, daß sich Hearne und seine Kameraden auf dem gewohnten Platze befanden.

Ich ging auch »nach Hause« und legte mich nieder.

Wie lange ich geschlafen haben mochte, könnte ich nicht sagen, ebensowenig, wie oder um welche Zeit es gewesen sei, als ich infolge eines heftigen Stoßes auf den Boden hinrollte.

Was konnte hier geschehen sein? Handelte es sich um einen erneuten Umsturz des Eisbergs?

Binnen einer Secunde waren wir auf den Füßen und standen in der hellen Polarnacht draußen vor den Zelten.

Eine andere schwimmende Masse von ungeheurem Umfange war an unsern Eisberg angestoßen, der sofort »die Anker lichtete«, wie die Seeleute sagen, und aufs neue nach Süden zu abtrieb.

 


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