Jules Verne
Die Eissphinx. Zweiter Band
Jules Verne

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VII. Der Umsturz des Eisberges

Ich mußte auf Händen und Füßen hinkriechen, um nach dem Verdeck zu gelangen.

Der Kapitän Len Guy, der seine Cabine ebenfalls verlassen hatte, glitt auf den Knien hin, so schräg lag das Schiff nach Backbord, und hielt sich schließlich an einem Handgriff des Gangspills fest.

Auf dem Vorderdeck, zwischen dem Castell und dem Fockmast, ragten einige Köpfe aus den Falten eines Segels hervor, das über die Leute wie ein zusammenbrechendes Zelt heruntergefallen war.

An Steuerbord hingen an den Wanten Dirk Peters, Hardie, Martin Holt und Endicott mit entsetzten Gesichtszügen.

In diesem Augenblicke hätten der Hochbootsmann und er gewiß die Hälfte der ihnen für die Weiterfahrt zugesicherten Belohnung darum gegeben, aus dieser Lage befreit zu sein.

Da kam ein Mann auf Händen und Füßen zu mir herangekrochen, denn auf dem Deck konnte seiner schiefen Lage wegen niemand aufrecht stehen. Das Schiff hatte sich nämlich wenigstens um fünfzig Grad geneigt.

Hurliguerly war es, der sich über die Planken hinschleppte.

Lang ausgestreckt und die Füße gegen den Rahmen meiner Cabinenthür gestemmt, fürchtete ich nicht, weiter hinzurutschen.

So reichte ich dem Hochbootsmann die Hand, um sich ihn neben mir aufrichten zu lassen, was uns nach einiger Anstrengung auch gelang.

»Was ist geschehen?« fragte ich.

»Eine Strandung, Herr Jeorling!«

»Wie? Wir liegen an der Küste?« rief ich.

»Eine Küste läßt wohl ein Land vermuthen,« antwortete der Hochbootsmann ironisch, »doch was das Land betrifft, so hat es das nie anders als in der Einbildung dieses Teufelskerls Dirk Peters gegeben!«

»Nun . . . was ist dann vorgekommen?«

»Inmitten des Nebels ist ein Eisberg herangetrieben, von dem wir uns nicht klarhalten konnten . . .«

»Ein Eisberg, Hochbootsmann?«

»Ja . . . ein Eisberg, der grade diesen Augenblick gewählt hat, sich einmal auf eine andre Seite zu legen! . . . Beim Umdrehen hat er die »Halbrane« mitgenommen, als ob sie ein Spielzeug wäre, und so sitzen wir jetzt gut hundert Fuß über der Oberfläche des Antarktischen Meeres fest!«

Wer hätte bei der abenteuerlichen Fahrt der »Halbrane« wohl an einen so seltsamen Unfall gedacht! . . . Hier im tiefsten Süden war unser einziges Transportmittel aus seinem natürlichen Elemente gerissen, durch den Umsturz eines Eisberges auf eine Höhe von über hundert Fuß gehoben worden! O, welches Ende mit Schrecken! Während eines Polarsturmes unterzugehen, bei einem Ueberfall durch Wilde umzukommen, zwischen mächtigen Eismassen zerquetscht zu werden, das sind Gefahren, denen jedes, durch die Polarmeere segelnde Schiff ausgesetzt ist. Daß die »Halbrane« aber von einem dahintreibendem Berge grade in dem Augenblicke, wo dieser eine andre Lage annahm, gepackt und hoch hinaufgehoben wurde . . . nein, das ging über die Grenzen des Wahrscheinlichen hinaus!

Ob wir bei den uns zu Gebote stehenden Mitteln imstande sein würden, die Goëlette von dieser Höhe wieder herunter zu befördern, vermochte ich nicht zu beurtheilen. Ich wußte nur das Eine, daß der Kapitän Len Guy, der Lieutenant und die alten Mannschaften, nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hatten, die Leute dazu seien, auch der entsetzlichsten Lage gegenüber nicht zu verzweifeln. Sie ließen gewiß kein Rettungsmittel unversucht. Worin ein solches bestehen sollte, das hätte für jetzt freilich niemand sagen können.

Ein Nebelschleier, wie aus grauem Crêpe bestehend, verhüllte andauernd den Eisberg. Man sah nichts von seiner Masse aus der engen, spaltenartigen Einbuchtung, worin die »Halbrane« festsaß, ebensowenig konnte man erkennen, welchen Platz er unter der nach Südosten treibenden Flottille einnahm.

Die einfachste Klugheit erforderte es, die »Halbrane« auszuräumen, da diese durch eine plötzliche Erschütterung des Eisbergs noch mehr umgelegt werden konnte. Wir wußten ja nicht, ob das Schiff eine dauernde Lage angenommen hatte und ein erneuter Umsturz des Eisberges war auch nicht ausgeschlossen. Wurde die Goëlette dabei aber vielleicht wieder hinuntergeschleudert, wer hätte aus einem solchen Sturze heil und gesund hervorgehen können, abgesehen davon, daß das Schiff dabei jedenfalls versinken mußte?

Binnen wenigen Minuten war die »Halbrane« von der Mannschaft verlassen. Jeder suchte Zuflucht, so gut es anging, in Erwartung, daß die Dunsthülle des Eisbergs endlich verschwinden würde. Jetzt drangen die schrägen Strahlen der Sonne nicht einmal hindurch, und kaum bemerkte man die röthliche Scheibe jenseits der Anhäufung der undurchsichtigen Bläschen, die deren Flammenbüschel verlöschten.

Auf zehn bis zwölf Schritt hin konnten wir einander jedoch sehen. Die »Halbrane« bildete indeß nur eine formlose Masse, deren dunkle Farbe sich von dem weißlichen Eise deutlich abhob.

Jetzt tauchte die Frage auf, ob von allen denen, die sich im Augenblicke der Katastrophe irgendwo auf dem Deck der Goëlette anklammerten, nicht Einer oder der Andere über die Schanzkleidung hinaus ins Meer geschleudert worden sei.

Auf Befehl des Kapitän Len Guy kamen die anwesenden Matrosen nach der Gruppe, in der ich mich mit dem Lieutenant, dem Hochbootsmann und den Maaten Hardie und Martin Holt befand.

Jem West rief alle Namen auf . . . fünf der Leute antworteten nicht: der Matrose Drap (einer von der alten Mannschaft) und vier neue Leute, nämlich zwei Engländer, ein Amerikaner und einer von den Feuerländern, die an den Falklands an Bord genommen worden waren.

Der Unfall kostete also fünf der unsrigen das Leben – es waren die ersten Opfer seit der Abfahrt von den Kerguelen . . . würden es auch die letzten sein? . . .

Es unterlag ja kaum einem Zweifel, daß die Unglücklichen umgekommen waren, denn wir riefen sie vergebens überall auf dem Eisberge, wo sie sich an einem Vorsprunge vielleicht hätten anklammern können.

Die Nachsuchungen, die nach Aufsteigen des Nebels unternommen wurden, blieben fruchtlos. Als die »Halbrane« von unten gepackt wurde, war die Erschütterung so heftig gewesen und so urplötzlich gekommen, daß sich jene Leute nicht mehr an der Schanzkleidung hatten festhalten können, und selbst ihre Leichen, die die Strömung schon mit fortgetragen haben mochte, fand wahrscheinlich niemand wieder.

Als das Verschwinden jener fünf von uns bestätigt war, schlich sich die Verzweiflung wohl in Aller Herzen. Zu lebhaft tauchte jetzt die Perspective der Gefahren auf, die eine Expedition durch das antarktische Gebiet bedrohten.

»Und Hearne?« . . . ließ eine Stimme sich vernehmen.

Martin Holt war es, der während des allgemeinen Schweigens diesen Namen aussprach.

War der Segelmaat nicht in der engen Abtheilung des Frachtraumes, in der er eingeschlossen war, erdrückt worden?

Jem West begab sich nach der Goëlette, kletterte an einer vom Vordertheil herabhängenden Trosse hinauf und drang nach dem Volkslogis vor, neben dem man nach dem Schiffsraum hinabgelangen konnte.

Wir erwarteten regungslos und schweigend Aufklärung über das Schicksal Hearne's, obwohl dieser böse Geist der Mannschaft kein Mitleid verdiente.

Und doch, wie viele von uns dachten jetzt daran, daß, wenn sein Rath befolgt und die Goëlette wieder nach Norden zurückgeführt worden wäre, eine ganze Schiffsbesatzung nicht als einzigen Zufluchtsort nur einen dahintreibenden Eisberg gehabt hätte! Und welch' schwere Verantwortlichkeit lastete auf mir, der ich die Fortsetzung der Reise so hartnäckig betrieben hatte!

Endlich erschien der Lieutenant wieder auf dem Verdeck und Hearne folgte ihm nach. Wie durch ein Wunder hatten Scheidewände, Rippen und Schiffsbekleidung grade an der Stelle, wo der Segelmeister eingesperrt war, völlig stand gehalten.

Hearne lief längs der Goëlette hin, schloß sich, ohne ein Wort zu äußern, seinen Kameraden wieder an und wir hatten zunächst nichts mehr mit ihm zu thun.

Gegen sechs Uhr morgens verschwand der Nebel infolge einer merkbaren Temperaturerniedrigung. Es handelte sich dabei nicht um Dünste, die sich ganz zu Eis verwandelten, sondern es bildete sich der sogenannte Rauhfrost, der unter diesen hohen Breiten zuweilen beobachtet wird. Der Kapitän Len Guy erkannte die Erscheinung an der ungeheuern Menge prismatischer Fäden oder Fasern mit im Sinne der Windrichtung gerichteter Spitze, die von der dünnen, auf den Seiten des Eisbergs abgelagerten Schicht hervorstanden. Dieser Rauhfrost darf nicht mit dem Reif der gemäßigten Zone verwechselt werden, denn letzterer entsteht erst durch Erstarrung auf dem Erdboden u. s. w. abgelagerter Feuchtigkeit.

Jetzt vermochten wir auch die Größe der Eismasse zu beurtheilen, auf der wir wie Fliegen auf einem Zuckerhute saßen, und von unten gesehen, konnte die Goëlette sicherlich nicht größer erscheinen, als die Jolle eines Handelsschiffes.

Der Eisberg, dessen Umfang drei- bis vierhundert Toisen betragen mochte, hatte eine Höhe von hundertdreißig bis hundertvierzig Fuß. Er mußte demnach, der Rechnung nach, vier- bis fünfmal so tief im Wasser liegen und folglich ein Gewicht von Millionen von Tonnen haben.

Mit demselben war folgendes vorgegangen:

Nachdem der unterste Theil des Eisbergs durch die Berührung mit wärmerem Wasser zernagt war, hatte er sich etwas gehoben, wodurch sein Schwerpunkt verlegt wurde; dann aber konnte eine Gleichgewichtslage nur durch einen plötzlichen Umsturz wieder hergestellt werden, und dadurch war über die Meeresfläche gehoben worden, was früher darunter lag. Von dieser Schaukelbewegung gepackt, war auch die »Halbrane« wie durch einen ungeheuern Hebelarm emporgeschnellt worden. In den Polarmeeren »wenden sich« gar häufig Eisberge »auf die andere Seite« und das bildet eine der größten Gefahren für Schiffe, die sich grade in ihrer Nähe befinden.

Unsre Goëlette lag jetzt in einer Vertiefung in der Westflanke des Eisbergs eingesenkt. Mit emporgetriebenem Hintertheil und gesenktem Vordertheile neigte sie sich weit über Backbord. Das erweckte in uns den Gedanken, daß sie beim geringsten Stoße wohl die Böschung des Eisbergs hinab und ins Meer gleiten könne. Auf der Seite, nach der hin sie lag, war der Anprall heftig genug gewesen, um einige Planken der Rumpfwand und der Schanzkleidung, in der Länge von etwa zwei Toisen, einzudrücken. Gleich beim ersten Stoße waren die Seile, die die Küche vor dem Fockmast festhielten, gesprungen und diese bis zum Eingange des Deckhauses hinuntergepoltert, dessen Thür, zwischen den beiden Cabinen des Kapitän Len Guy und des Lieutenants, aus den Haspen gerissen war. Bramstenge und Oberbramstenge waren nach Zerreißung der Wanten heruntergestürzt, und man sah die frische Bruchstelle in der Höhe des Eselshauptes. Trümmer aller Art, Raaen, Balken, ein Theil der Segel, Fässer, Kisten, Hühnerkäfige u. dgl., alles lief Gefahr, nach dem Grunde der Eisklippe hinabzugleiten und mit ihr wegzutreiben.

Am meisten beunruhigte uns in der gegenwärtigen Lage der Umstand, daß das eine Boot der »Halbrane«, das an Backbord, bei dem Unfalle zertrümmert worden war. Jetzt besaßen wir nur noch das zweite – zum Glück das größere – das in den Davits an Steuerbord hing. Vor allem galt es nun dieses, vielleicht unser einzigstes Rettungsmittel, in Sicherheit zu bringen.

Aus der ersten Besichtigung ergab sich, daß die Untermasten der Goëlette fest stehen geblieben waren und, wenn das Fahrzeug etwa wieder flott wurde, noch Dienste leisten konnten. Wie vermochten wir unser Fahrzeug aber dieser Eisbucht zu entreißen, es seinem natürlichen Element zurückzugeben, es wie ein neugebautes Schiff gleichsam vom Stapel zu lassen?

Als ich mit dem Kapitän Len Guy, dem Lieutenant und dem Hochbootsmann allein war, fragte ich sie um ihre Ansicht hierüber.

»Unbestritten ist ein solcher Versuch mit großen Gefahren verknüpft,« antwortete Jem West, »da er aber unumgänglich ist, werden wir ihn unternehmen. Ich glaube, wir müssen bis zum Fuße des Eisberges eine Art Bett ausbrechen . . .«

»Und das, ohne einen Tag zu zögern,« setzte der Kapitän Len Guy hinzu.

»Haben Sie's gehört, Hochbootsmann?« fuhr Jem West fort. »Gleich heute ans Werk!«

»Ich verstehe, und daran werden Alle gern helfen,« antwortete Hurliguerly. »Vorher erlauben Sie aber eine Bemerkung, Kapitän . . .«

»Und die wäre? . . .«

»Vor Beginn der Arbeit sollten wir doch wohl den Schiffsrumpf untersuchen, nachsehen, welche Havarien er erlitten hat und ob wir diese überhaupt ausbessern können. Wozu sollte es dienen, ein leckgeschlagenes Fahrzeug, das doch gleich unterginge, aufs Wasser zu setzen?«

Die Richtigkeit dieser Bemerkung wurde allseitig anerkannt.

Nach Zerstreuung des Nebels beleuchtete jetzt heller Sonnenschein die Ostseite des Eisbergs, von der aus der Blick einen breiten Sector des Meeres umfaßte. An dieser Seite zeigte der Abhang statt spiegelglatter Flächen, auf denen der Fuß nicht hätte haften können, Erhöhungen, Vorsprünge, wallartige Höcker und selbst ebene Flächen, die es erlaubten, ein zeitweiliges Lager aufzuschlagen. Dabei mußte man freilich darauf achten, sich gegen herabstürzende gewaltige Blöcke zu schützen, von denen manche schlecht unterstützt lagen und beim ersten Stoße hinuntergeworfen werden konnten. Im Laufe des Vormittags rollten auch wirklich einzelne mit betäubendem Gepolter ins Meer hinab.

Im Ganzen schien der Eisberg in seiner neuen Lage aber recht gesichert zu sein. Von dem Augenblick an, wo sich sein Schwerpunkt unter der Schwimmlinie befand, war ein erneuter Umsturz kaum zu fürchten.

Seit dem Eintritt der Katastrophe hatte ich noch keine Gelegenheit gehabt, mit Dirk Peters zu sprechen. Da er beim Mannschaftsappell auf seinen Namen geantwortet hatte, wußte ich, daß er sich nicht unter den Opfern derselben befand. Jetzt sah ich ihn regungslos auf einem schmalen Vorsprunge stehen; wohin seine Blicke sich richteten, das ist wohl leicht zu errathen . . .

Der Kapitän Len Guy, der Lieutenant, der Hochbootsmann und die Maate Martin Holt und Hardie, die ich begleitete, begaben sich nun nach der Goëlette, um eine genaue Untersuchung ihres Rumpfes vorzunehmen. An der Steuerbordseite machte das keine Schwierigkeiten, da die »Halbrane« nach der entgegengesetzten geneigt lag. Auf der andern Seite mußte man freilich wohl oder übel einen Weg durch das Eis bis zum Kiel brechen, wenn kein Theil des Schiffsrumpfes ununtersucht bleiben sollte.

Nach zweistündiger, sorgfältiger Besichtigung wurde denn dabei Folgendes gefunden:

Die Havarien erwiesen sich als unbedeutend und derartig, daß sie hier recht wohl ausgebessert werden konnten. Zwei oder drei, durch die Gewalt des Stoßes zertrümmerte Planken zeigten ihre verdrehten Pflöcke (Schiffsnägel) und aufgesprungene Fugen. Im Innern waren alle Rippen unverletzt und auch die Bauchplanken nicht von der Stelle gewichen. Unser Fahrzeug, das für Fahrten in den Polarmeeren gebaut war, hatte also zusammengehalten, wo andere mit weniger fester Construction unzweifelhaft in Stücke gegangen wären. Nur das Steuer hatte sich aus seinen Haspen gehoben; das konnte aber leicht wieder in Ordnung gebracht werden.

Nach beendigter äußerer und innerer Besichtigung erkannten wir, daß die Beschädigungen leichterer Art waren, als man wohl befürchten mußte, und in dieser Beziehung fühlten wir uns also recht beruhigt.

Beruhigt . . . nun ja . . . wenn es gelang, die Goëlette wieder flott zu machen.

Nach dem Frühstück wurde beschlossen, daß die Mannschaft daran gehen sollte, ein schräg abfallendes Bett auszuhöhlen, worin die »Halbrane« bis zum Fuße des Eisbergs hinabgleiten könnte. Gebe der Himmel, daß dieser Versuch gelänge, denn unter den jetzigen Verhältnissen der Unbill des südlichen Winters zu trotzen, sechs volle Monate auf dem irgendwohin treibenden Eisberge zuzubringen – wer hätte daran ohne Entsetzen denken können? Ueberraschte uns der Winter noch hier, so wäre keiner von uns dem schrecklichsten Tode, dem Tode durch Erfrieren, entgangen.

In diesem Augenblicke rief Dirk Peters, der, etwa hundert Schritte entfernt stehend, den südlichen und östlichen Horizont musterte, mit lauter Stimme:

»Gegengebraßt!«

Gegengebraßt? Was verstand der Mestize darunter, wenn nicht das, daß die schwimmende Eismasse plötzlich still gehalten hätte. Ueber den Grund dieser Erscheinung nachzugrübeln oder nach ihren Folgen zu fragen, dazu war jetzt keine Zeit.

»Es ist doch richtig,« erklärte der Hochbootsmann. »Der Eisberg bewegt sich nicht mehr, und vielleicht liegt er gar schon seit dem Umsturz auf demselben Flecke!«

»Wie,« rief ich, »er treibt nicht mehr weiter . . .«

»Nein,« antwortete der Lieutenant, »und der Beweis dafür, daß die andern, die dahintreiben, ihn hinter sich zurücklassen.«

In der That blieb unser Eisberg, während fünf oder sechs andre sich noch nach Süden hin entfernten, an der Stelle gefesselt, als wäre er auf eine Untiefe aufgelaufen.

Die einfachste Erklärung hiefür war, daß seine neue unterste Schicht den Grund des Meeres berühren mochte und daran haftete, was jedenfalls so lange fortdauern würde, bis der jetzt eingetauchte Theil sich – auf die Gefahr eines neuen Umsturzes hin – wieder erhob.

Das war freilich eine ernste Complication, denn die Gefahren einer dauernden Festlegung in dieser Gegend überwogen jedenfalls die der Zufälligkeiten beim Weitertreiben. Mindestens konnten wir im zweiten Falle hoffen, auf ein Festland oder eine Insel zu treffen, ja sogar, wenn die Strömungen ihre frühere Richtung beibehielten und das Meer offen blieb, bis über die Grenzen des südlichen Polargebietes hinauszukommen

In welcher Lage befanden wir uns nun nach drei Monaten dieser schrecklichen Fahrt! Von William Guy, seinen Gefährten von der »Jane« und von Arthur Pym konnte gar nicht mehr die Rede sein; alle Hilfsmittel, über die wir noch verfügten, mußten für unsre eigene Rettung aufgeboten werden . . . War es wohl zu verwundern, wenn die Matrosen von der »Halbrane« sich schließlich auflehnten, den Einflüsterungen Hearne's Gehör gaben, wenn sie ihre Vorgesetzten – und daneben besonders mich – für die Folgen einer solchen Fahrt verantwortlich machten?

Und was sollte denn geschehen, da, trotz des Verlustes von vier der ihrigen, die Kameraden des Segelwerksmaats noch immer das numerische Uebergewicht hatten?

Daran dachten – das sah ich deutlich – auch der Kapitän Len Guy und Jem West.

Zählten die Angeworbenen von den Falklands jetzt auch nur vierzehn Mann gegen zwölf von der alten Mannschaft, so lag doch die Befürchtung nahe, daß sich auch noch einzelne von diesen auf die Seite Hearne's schlagen würden. Wer konnte wissen, ob diese Leute, von der Verzweiflung getrieben, nicht daran dachten, sich des einzigen, uns noch verfügbaren Bootes zu bemächtigen, damit nach Norden wegzufahren und uns auf dem Eisberg zurückzulassen? Das legte uns den Zwang auf, das Boot in Sicherheit zu bringen und es jede Minute sorgsam zu überwachen.

Ueberdies war mit dem Kapitän Len Guy seit den letzten Ereignissen eine auffallende Veränderung vor sich gegangen. Er schien gegenüber den Gefahren der Zukunft ganz umgewandelt zu sein. Bisher nur mit dem Gedanken, seine Landsleute aufzufinden, beschäftigt, hatte er die Führung der Goëlette ausschließlich dem Lieutenant überlassen, und übrigens hätte er diese gar keinem befähigteren und ergebeneren zweiten Officier anvertrauen können. Vom heutigen Tage ab sollte er aber seine Functionen als erster Vorgesetzter wieder aufnehmen, sie mit der durch die Umstände gebotenen Energie erfüllen und an Bord »der Herr nach Gott« werden.

Seinem Befehle entsprechend, sammelten sich die Mannschaften um ihn auf einer größeren Fläche, ein wenig links von der »Halbrane«. Hier befanden sich von den alten Leuten die Maate Martin Holt und Hardie, die Matrosen Rogers, Francis, Gratian, Burry, Stern, der Koch Endicott und, ich rechne ihn diesen zu, Dirk Peters, von den neuen Mannschaften Hearne und dreizehn Matrosen von den Falklands. Die letzteren bildeten eine Gruppe für sich, deren Wortführer der Segelwerksmeister war, welcher einen so verderblichen Einfluß auf sie ausübte.

Der Kapitän Len Guy warf einen festen Blick auf seine ganze Mannschaft und begann dann mit sichtlich erregter Stimme:

»Matrosen von der ›Halbrane‹! Ich habe zu Euch zuerst von denen Eurer Kameraden zu sprechen, die verschwunden sind. Fünf von den unsrigen kamen bei dieser Katastrophe ums Leben . . .«

»Während uns andern ebenso das Loos bevorsteht, in diesen Meeren zugrunde zu gehen, wohin wir verschleppt wurden, trotz . . .«

»Schweig, Hearne!« rief Jem West, bleich vor Wuth. »Schweig oder . . .«

»Hearne hat ausgesprochen, was er zu sagen hatte,« fiel der Kapitän Len Guy frostig ein. »Jetzt ist es geschehen und ich erwarte, daß er mich nicht ein zweites Mal unterbricht!«

Vielleicht hätte der Segelmeister doch noch etwas erwidert, denn er wußte, daß er die Mehrzahl von der Mannschaft hinter sich hatte; Martin Holt ging aber schnell auf ihn zu, drängte ihn zurück, und so schwieg er denn.

Der Kapitän Len Guy gab hierauf seinen Gefühlen Ausdruck und sagte mit einer, allen zu Herzen gehenden Erregung:

»Unsre Pflicht ist es, für die zu beten, die bei dieser gefährlichen, im Namen der Menschlichkeit unternommenen Reise ihr Leben gelassen haben. Gott wolle ihnen vergelten, daß sie sich für ihresgleichen hingeopfert haben, und er möge unser Gebet nicht unerhört verhallen lassen. Auf die Knie, Ihr Leute von der ›Halbrane‹!«

Alle knieten auf der Eisfläche nieder und ein Murmeln stillen Gebetes stieg zum Himmel empor.

Wir warteten, bis der Kapitän Len Guy sich erhob, um selbst wieder aufzustehen.

»Jetzt,« fuhr er fort, »nach denen, die todt sind, ein Wort an die noch Lebenden. Ihnen erkläre ich, daß sie, auch unter den Verhältnissen, in denen wir uns zur Zeit befinden, mir unverweigerlich zu gehorchen haben, was ich auch befehlen mag. Ich werde keinen Widerstand, kein Zaudern dulden. Die Verantwortung für Aller Heil fällt mir zu und ich werde sie keinem Andern abtreten. Ich befehle hier an Bord . . .«

»An Bord . . . wo es kein Schiff mehr giebt!« wagte der Segelmeister einzuwerfen.

»Du irrst, Hearne. Das Schiff ist noch da und wir werden es wieder aufs Meer setzen, doch hätten wir auch nur noch unser Boot, so bin ich dessen Kapitän! . . . Wehe dem, der das vergäße!«

An diesem Tage erhielt der Kapitän, nachdem er mittelst Sextanten die Sonnenhöhe gemessen und mittelst des glücklicherweise unversehrt gebliebenen Chronometers die Zeit festgestellt hatte, folgendes Besteck:

Südliche Breite: 88°55'.
Westliche Länge: 39°12'.

Die »Halbrane« lag nicht weiter als einen Grad und fünf Minuten – d. h. fünfundsechzig Seemeilen – vom Südpole entfernt.

 


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