Jules Verne
Die Eissphinx. Zweiter Band
Jules Verne

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II. Beschlossen!

Dirk Peters! . . . Hunt war der Mestize Dirk Peters . . . der getreue Leidensgenosse Arthur Pym's, derselbe, den der Kapitän Len Guy so lange und so erfolglos in den Vereinigten Staaten gesucht hatte und dessen Anwesenheit uns nun einen neuen Grund zur Fortsetzung unsrer Fahrt bieten konnte.

Es würde mich nicht verwundern, daß der mit einigem Spürsinn begabte Leser aus den vorhergehenden Seiten meiner Schilderung in der Person Hunt's schon Dirk Peters errathen, daß er einen solchen Theatercoup erwartet hätte, ja, ich gestehe, eher würd' ich mich über das Gegentheil gewundert haben.

Es war ja natürlich, fast an die Hand gegeben, zu folgendem Gedankengange zu kommen: Wie konnte in dem Kapitän Len Guy und mir, die wir das Buch Edgar Poë's mit der genauen Personalbeschreibung des Dirk Peters so oft gelesen hatten, der Verdacht ausbleiben, daß der Mann, der sich auf den Falklands eingeschifft hatte, und jener Mestize ein und dieselbe Person wären? Bewies das unsrerseits nicht einen bedenklichen Mangel an Scharfsinn? – Ich gebe das zu, und doch läßt es sich in gewissem Maße erklären.

Alles verrieth zwar an Hunt eine indianische Abstammung, die auch die des Dirk Peters war, da er verwandtschaftlich zu dem Stamme der Upsarokas im Fernen Westen gehörte, und das hätte uns wohl schon auf die richtige Fährte leiten können. Man vergegenwärtige sich aber die Umstände, unter denen Hunt sich dem Kapitän Len Guy vorgestellt hatte, Umstände, die einen Zweifel an seiner Identität fast ganz ausschlossen. Hunt wohnte auf den Falklands-Inseln, sehr weit von Illinois, inmitten jener Matrosen von allen Nationalitäten, die auf die Fangzeit warteten, um sich an Bord eines Walfängers zu verheuern. Seit seiner Einschiffung hatte er, uns gegenüber, die größte Zurückhaltung beobachtet. Jetzt war es eigentlich das erste Mal gewesen, daß wir ihn reden hörten, und bisher hatte – wenigstens in seiner Haltung und Führung – nichts zu dem Glauben verleiten können, daß er seinen wahren Namen verheimlichte. Wir haben ja auch gesehen, daß er sich zu dem Namen Dirk Peters erst auf die letzten dringlichen Fragen unsers Kapitäns bekannte.

Hunt war freilich eine außergewöhnliche Erscheinung, ein seltsames Wesen, und mußte schon deshalb einige Aufmerksamkeit erregen. Jetzt fiel mir selbst mehreres auf, wie sein eigenthümliches Verhalten, nachdem die Goëlette den Polarkreis überschritten hatte und sie über das Wasser des freien Meeres hier hinsegelte, seine unablässig nach dem südlichen Horizont gerichteten Blicke, seine Hand, die sich durch eine instinctive Bewegung in derselben Richtung ausstreckte. . . . Ferner war es die Insel Bennet, die er schon besucht zu haben schien und auf der er ein Trümmerstück von der Wand der »Jane« aufgehoben, endlich die Insel Tsalal . . . Hier war er uns immer voraus und wir waren ihm durch das zerrüttete Land wie einem Führer nachgefolgt bis zur Stelle des ehemaligen Dorfes Klock-Klock am Eingange der Schlucht und in der Nähe des Hügels, wo sich einst die jetzt spurlos verschwundenen Labyrinthe kreuzten. Ja, alles das mußte uns eigentlich die Augen öffnen und – wenigstens in mir – den Gedanken wachrufen, daß Hunt in die Abenteuer Arthur Pym's wohl selbst mit verwickelt gewesen wäre.

Und doch, der Kapitän Len Guy hatte ebenso wie sein Passagier Jeorling eine Binde vor den Augen. Ja, ja, ich gesteh' es, wir waren beide blind, während uns doch gewisse Seiten im Buche Edgar Poë's hätten recht helläugig machen müssen.

Zu bezweifeln war jetzt indeß nicht mehr, daß Hunt wirklich Dirk Peters war. Obschon nun um elf Jahre älter, erschien er doch noch so, wie Arthur Pym ihn geschildert hatte. Freilich ist der wilde Ausdruck, von dem der Bericht spricht, nicht mehr erkennbar, doch auch nach Arthur Pym sollte jener ja nur auf »scheinbarer Wildheit« beruhen. Körperlich zeigte sich keine Aenderung – die untersetzte Gestalt, die kräftige Musculatur, die Gliedmaßen »wie aus einer herkulischen Gießform hervorgegangen«, und seine Hände »so breit und so stark, daß sie die Form wie bei andern Menschen kaum noch bewahrt hatten«, seine Arme und gebogenen Beine, sein mächtiger großer Kopf und der über die ganze Gesichtsbreite reichende Mund und »seine Zähne, so lang, daß sie die Lippen nie mehr als theilweise bedeckten« – alles entsprach noch dem von Arthur Pym entworfenen Bilde. Ich wiederhole, daß dieses Signalement wohl auf unsern Recruten von den Falklands-Inseln zutraf; in seinem Gesicht fand man aber nicht mehr jenen Ausdruck, der, wenn er ein Zeichen der Heiterkeit war, nur das einer »teuflischen Heiterkeit« sein konnte.

In dieser Beziehung hatte sich der Mestize mit den Jahren verändert; Erfahrung, Schicksalsschläge, die schrecklichen Ereignisse, deren Zeuge er gewesen – Ereignisse, wie Arthur Pym sagt, »die so gänzlich außerhalb der Grenzen des Dagewesenen lagen, daß kaum ein Mensch daran glauben möchte« – diese Erlebnisse waren auf Dirk Peters nicht ohne Einfluß geblieben. Jedenfalls war er aber der getreue Gefährte, dem Arthur Pym wiederholt seine Rettung zu verdanken hatte, derselbe Dirk Peters, der jenen wie einen Sohn liebte und der niemals die Hoffnung aufgegeben hatte, ihn inmitten der furchtbaren Einöden des Polargebietes noch einmal wiederzufinden.

Warum verheimlichte Dirk Peters auf den Falklands-Inseln seinen Namen, warum bewahrte er sein Incognito auch noch seit der Einschiffung auf der »Halbrane«, warum sagte er nicht gleich, wer er war, da er doch die Absichten des Kapitän Len Guy kannte, dessen Bemühungen nur darauf gerichtet waren, seine Landsleute zu retten, indem er dem Wege der »Jane« folgte?

Warum? . . . Ohne Zweifel aus Furcht, daß sein Name bei Andern nur Abscheu erregen würde. War er es doch, der bei den Schreckensscenen des »Grampus« betheiligt gewesen war . . . der den Matrosen Parker getödtet . . . sich von dessen Fleische ernährt, der mit dessen Blute seinen Durst gestillt hatte! Um seinen Namen zu offenbaren, hätte er wenigstens im voraus wissen müssen, daß die »Halbrane« es auf seine Mittheilungen hin unternehmen würde, nach Arthur Pym zu suchen.

Nachdem er also einige Jahre in Illinois verlebt, hatte sich der Mestize nach den Falklands-Inseln in der Absicht begeben, die erste Gelegenheit zu ergreifen, die ihm eine Rückkehr nach dem tiefsüdlichen Polarmeer versprach. Bei seinem Dienstantritt auf der »Halbrane« hoffte er, den Kapitän Len Guy, nachdem dieser seine Landsleute auf der Insel Tsalal gerettet hatte, auch zu einer Ausdehnung der Fahrt nach noch höheren Breiten zu Gunsten Arthur Pym's bestimmen zu können. Kein Mensch von gesunden Sinnen hätte aber zugestanden, daß jener Unglückliche nach elf Jahren noch auf Erden wandle. Die Existenz des Kapitän William Guy und seiner Gefährten war ja durch die Hilfsquellen der Insel Tsalal einigermaßen gesichert und außerdem bewiesen die Aufzeichnungen Patterson's, daß sich diese, als er von ihnen getrennt wurde, jedenfalls noch dort befanden. Daß aber Arthur Pym noch leben sollte, war doch mindestens viel unwahrscheinlicher.

Der Versicherung des Dirk Peters gegenüber – die übrigens fast gänzlich in der Luft schwebte – verhielt ich mich aber doch nicht so ungläubig, wie das in diesem Falle wohl berechtigt schien. Nein! Als der Mestize ausrief: »Pym ist nicht todt! . . . Pym ist dort! . . . Der arme Pym darf nicht im Stich gelassen werden! . . .« da fand das in meinem Herzen einen lauten Widerhall.

Und dann dachte ich an Edgar Poë und fragte mich, was er wohl sagen, wie er verlegen sein würde, wenn die »Halbrane« den mit zurückbrachte, dessen »plötzlichen und beklagenswerthen Tod« er gemeldet hatte.

Entschieden war ich seit dem Entschlusse, an der Fahrt der »Halbrane« theilzunehmen, nicht mehr derselbe, der praktische, vernünftige Mann wie früher. Ja, für Arthur Pym fühlte ich mein Herz jetzt ebenso lebhaft schlagen, wie das des Dirk Peters. Von der Insel Tsalal wieder nach Norden zu gehen, nach dem Atlantischen Ocean zu steuern, das erschien mir wie die Vernachlässigung einer Menschenpflicht, der Pflicht, einem Unglücklichen zu Hilfe zu eilen, der verlassen in den Eiswüsten des Polargebietes weilte.

Ein Gesuch freilich an den Kapitän Len Guy, die Goëlette in diesen Meeren noch weiter hinauf zu führen, der Besatzung neue Mühsal zuzumuthen, nachdem sie schon so viele Gefahren völlig nutzlos bestanden hatte, das bedeutete wohl nur, sich einer Abweisung auszusetzen, während es doch kaum meines Amtes war, diese Angelegenheit selbst zu betreiben. Und doch fühlte ich, daß Dirk Peters auf mich rechnete, für seinen armen Pym mit einzutreten.

Der Erklärung des Mestizen folgte ein langes Stillschweigen. Gewiß kam es niemand in den Sinn, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Er hatte gesagt: »Ich bin Dirk Peters« – und er war das ganz bestimmt.

Was dann Arthur Pym anging, daß er nach Amerika nicht zurückgekehrt, von seinem einzigen Gefährten getrennt und in dem tsalalischen Boote nach dem Südpol hinaufgetrieben worden sei – das waren an und für sich annehmbare Thatsachen, und nichts berechtigte zu einem Zweifel daran, daß Dirk Peters die Wahrheit gesagt hätte. Daß Arthur Pym aber noch immer am Leben sei, wie der Mestize behauptete, daß uns die Verpflichtung obliege, diesen aufzusuchen, wie er es verlangte, und daß wir uns so vielen neuen Gefahren aussetzen sollten – das war denn doch eine andre Frage.

Um Dirk Peters jedoch zu unterstützen, obwohl ich mich damit auf ein Feld zu begeben fürchtete, von dem ich beim ersten Anlauf zurückgetrieben würde, bezog ich mich auf die mit dem Wunsche des Mestizen ja vereinbare Angelegenheit des Kapitän William Guy und seiner fünf Matrosen, von denen wir auf der Insel Tsalal doch auch keine Spur gefunden hatten.

»Ehe wir einen endgiltigen Beschluß fassen, liebe Freunde,« so begann ich, »erscheint es doch rathsam, den Sachverhalt mit kaltem Blute zu betrachten. Würde es uns nicht für alle Zeit gereuen, uns quälende Gewissensbisse bereiten, wenn wir unsre Expedition vielleicht in dem Augenblicke aufgäben, wo ihr einige Aussicht auf Erfolg winkte? Ueberlegen Sie sich das, Herr Kapitän, und auch Ihr alle, liebe Leute! Vor kaum sieben Monaten wurden Ihre Landsleute von dem unglücklichen Patterson hier in vollem Leben zurückgelassen. Befanden sie sich zu dieser Zeit noch auf Tsalal, so ist das ein Beweis, daß ihnen die Insel elf Jahre hindurch genügende Existenzmittel geboten hatte, ohne daß sie weiter etwas von den Eingebornen zu fürchten brauchten, von denen ein Theil unter uns unbekannten Umständen umgekommen war und ein andrer sich jedenfalls auf andre Inseln der hiesigen Gruppe geflüchtet hatte. Das alles liegt doch klar auf der Hand, und ich weiß nicht, was diesen Schlußfolgerungen entgegenzuhalten wäre.«

Auf meine Rede antwortete niemand – es war eben nichts darauf zu antworten.

»Haben wir den Kapitän der ›Jane‹ und seine Leute hier nicht angetroffen,« fuhr ich lebhafter werdend fort, »so liegt das daran, daß sie nach dem Abgange Patterson's in die Zwangslage gekommen sind, die Insel Tsalal zu verlassen. Meiner Ansicht nach jedenfalls deshalb, weil das Erdbeben diese so stark durcheinander gerüttelt hatte, daß sie unbewohnbar geworden war. Mit Hilfe eines Bootes der Eingebornen haben sie gewiß, unterstützt von der nach Süden verlaufenden Strömung, entweder eine andre Insel oder irgend einen Punkt des antarktischen Festlands erreichen können. Ich glaube nicht zu viel zu behaupten, wenn ich sage, daß die Dinge sich in dieser Weise abgespielt haben werden. Jedenfalls aber weiß ich und wiederhole ich hiermit, daß wir so gut wie nichts gethan hätten, wenn wir jetzt unsre Nachsuchungen aufgäben, von denen die Erlösung Ihrer Landsleute abhängt!«

Ich sah meine Zuhörer fragend an, erhielt aber noch immer keine Antwort.

Eine Beute tiefer Erregung, hatte Kapitän Len Guy den Kopf gesenkt; er fühlte gewiß, daß ich recht hatte, daß ich mit dem Hinweis auf unsere Menschenpflicht den einzigen Weg bezeichnete, den beherzte und mitfühlende Männer einzuschlagen hatten.

»Und um was handelt es sich denn?« fuhr ich nach kurzem Schweigen fort. »Nur darum, noch wenige Breitengrade zu durchsegeln, und zur Zeit, wo das Meer befahrbar ist und uns noch zwei Monate guter Witterung bevorstehen, ohne daß wir etwas vom antarktischen Winter zu fürchten haben, dessen Unbilden zu trotzen ich Sie gar nicht veranlassen möchte. Und wir sollten zaudern, wo die ›Halbrane‹ mit Proviant reichlich versehen, ihre Mannschaft bei vollen Kräften und vollzählig ist, wo keine Krankheit an Bord Eingang gefunden hat! . . . Wir sollten vor eingebildeten Gefahren zurückweichen! . . . Wir hätten nicht den Muth, weiter dorthin . . . dorthin zu gehen!«

Ich wies nach dem südlichen Horizonte, ebenso wie Dirk Peters, der in fast befehlerischer Haltung den Arm in dieser Richtung ausstreckte.

Jetzt waren Aller Augen auf uns gerichtet und dennoch erfolgte keine Antwort.

Unzweifelhaft konnte die Goëlette die Gewässer für noch acht bis neun Wochen lang ohne besonderes Wagniß durchkreuzen. Wir hatten erst den 26. December, und die früheren Forschungsreisen waren erst im Januar, Februar oder gar noch im März ausgeführt worden, wie die Bellingshausen's, Biscoë's, Kendal's und Weddell's, die alle nach Norden zurücksegeln konnten, ehe ihnen der Frost jeden Ausgang versperrte. Waren ihre Schiffe nicht bis zu den hohen Breiten hinauf gelangt, wie zu denen, um die es sich bei der »Halbrane« handelte, so waren sie auch nicht so begünstigt gewesen, wie wir das unter den gegebenen Umständen erwarten durften.

Ich wies auf alles das hin und wartete auf eine zustimmende Erklärung, für die doch niemand die Verantwortung tragen zu wollen schien.

Allgemeines Schweigen . . . alle Augen blicken zu Boden.

Und ich hatte doch nicht ein einziges Mal den Namen Arthur Pym ausgesprochen oder den Wunsch des Dirk Peters unmittelbar unterstützt. In diesem Falle hätte man mir wohl mit Achselzucken . . . vielleicht gar mit persönlichen Drohungen geantwortet.

Ich fragte mich also, ob es – ja oder nein? – mir gelungen wäre, meinen Gefährten denselben Glauben einzuflößen, der meine Seele erfüllte. Da nahm der Kapitän Len Guy endlich das Wort.

»Dirk Peters,« sagte er, »kannst Du behaupten, daß Ihr Beide, Arthur Pym und Du, nach der Abfahrt von Tsalal weiter im Süden noch andre Länder gesehen habt?«

»Gewiß . . . Länder . . .« erklärte der Mestize, »Inseln oder ein Festland . . . verstehen Sie mich recht . . . und dort . . . glaub' ich . . . bin ich überzeugt . . . dort wartet Pym, der arme Pym, daß ihm jemand zu Hilfe komme . . .«

»Dort, wo vielleicht auch William Guy und seine Leidensgenossen warten!« rief ich, um das Gespräch auf ein weniger verfängliches Gebiet zurückzuleiten.

Waren diese Landgebiete schon einmal gesehen worden, so bot sich damit ein Ziel, das nicht so schwer zu erreichen sein konnte. Die »Halbrane« würde nicht aufs Geradewohl hinaussteuern, sondern dahin gehen, wo die Ueberlebenden von der »Jane« möglicher Weise Zuflucht gefunden hatten.

Erst nach einigem Ueberlegen ergriff der Kapitän Len Guy wieder das Wort.

»War der Horizont, Dirk Peters,« wandte er sich wieder an diesen, »jenseits des vierundachtzigsten Grades wirklich durch einen Dunst- oder Nebelvorhang abgeschlossen, wie ihn der Bericht erwähnt? Hast Du den Luftkatarakt gesehen, mit eignen Augen gesehen . . . und auch den Abgrund, in den das Boot Arthur Pym's sich verlor?«

Nachdem er uns einen nach dem andern angesehen hatte, schüttelte der Mestize mit dem Kopfe.

»Ich weiß nicht . . .« stieß er hervor. »Wonach fragen Sie mich, Kapitän? . . . Ein Dunstvorhang? . . . Ja . . . vielleicht . . . und auch Anzeichen von Land im Süden.«

Offenbar hatte Dirk Peters das Buch Edgar Poë's niemals vor Augen gehabt, er konnte vielleicht gar nicht lesen, und nach der Auslieferung des Tagebuchs Arthur Pym's hatte er sich um dessen Veröffentlichung nicht weiter bekümmert. Erst in Illinois und dann auf den Falklands-Inseln zurückgezogen lebend, hatte er von dem Aufsehen, das jenes Werk machte, ebensowenig etwas erfahren, wie von der phantastischen und unwahrscheinlichen Lösung, die unser großer Dichter jenen seltsamen Abenteuern gegeben hatte.

Konnte aber Arthur Pym, bei seiner Neigung zu dem Uebernatürlichen, nicht geglaubt haben, daß er all die wunderbaren Dinge gesehen hätte, die nur Erzeugnisse seiner leicht erregbaren Phantasie gewesen waren?

Da ließ sich, seit dem Anfange dieses Gesprächs zum ersten Male, die Stimme Jem West's vernehmen; doch hatte der Lieutenant sich meiner Meinung angeschlossen, hatten ihn meine Beweisgründe überzeugt und würde er schließlich für die Fortsetzung der Fahrt eintreten? . . . Ich wußte es zunächst nicht.

Jedenfalls begnügte er sich vorläufig, zu fragen:

»Ihre Befehle . . . Kapitän? . . .«

Der Kapitän Len Guy wendete sich der Mannschaft zu. Alte und neue Leute umringten ihn, während der Segelmeister Hearne sich etwas zurückhielt, gewiß bereit einzugreifen, wenn ihm das nöthig erschien.

Mit den Blicken fragte der Kapitän Len Guy den Hochbootsmann und dessen Kameraden, auf deren Ergebenheit er ja von vornherein rechnen konnte. Ob er aus ihrer Haltung aber die Zustimmung zur Fortsetzung der Reise erkannte, vermöchte ich nicht zu sagen, denn ich hörte ihn nur die Worte flüstern:

»Ach, wenn es nur von mir allein abhinge! . . . Wenn mir Alle ihre Unterstützung zusicherten?«

Ohne allgemeine Zustimmung waren neue Nachsuchungen in der That nicht zu unternehmen.

Jetzt ergriff Hearne das Wort.

»Kapitän,« sagte er in rauhem Tone, »schon sind zwei Monate verflossen, seit wir die Falklands verlassen haben. Meine Kameraden sind aber nur zu einer Fahrt angeworben worden, die sie jenseits des Packeises nicht weiter als nach der Insel Tsalal führen sollte!«

»Das nicht!« rief der Kapitän Len Guy, den diese Erklärung Hearne's tief erregte. »Nein, das nicht! Ich habe Euch Alle zu einer Reise angeworben, die ich berechtigt bin fortzusetzen, wohin es mir beliebt!«

»Entschuldigen Sie, Kapitän,« erwiderte Hearne trocken, »wir sind bereits an einem Punkte, wohin noch kein Seefahrer gelangt ist, wohin sich, außer der ›Jane‹, noch kein Schiff vorgewagt hat. Meine Kameraden und ich halten es nun für angezeigt, vor Eintritt der schlechten Witterung nach den Falklands-Inseln zurückzukehren. Dann mögen Sie noch einmal bis zur Insel Tsalal und, wenn es Ihnen gefällt, bis nach dem Pole fahren!«

Hier ertönte ein zustimmendes Gemurmel. Ohne Zweifel bildete der Segelmeister nur das Sprachrohr der Mehrheit, die gerade aus den neuen Leuten der Besatzung bestand. Gegen deren Anschauung anzukämpfen, Leute, die nicht mehr gehorchen wollten, zum Gehorsam zu zwingen und sich unter diesen Verhältnissen weit, weit in unbekanntes Polargebiet hinaufzuwagen, das wäre eine Tollkühnheit, ja noch mehr, eine Thorheit gewesen, die mit einem Unglück enden mußte.

Nun mischte sich aber Jem West ein, der auf Hearne zutretend, diesen fragte:

»Wer hat Dir erlaubt zu sprechen?«

»Der Kapitän fragte uns . . .« erwiderte Hearne. »Ich hatte das Recht, zu antworten.«

Diese Worte wurden mit solcher Frechheit geäußert, daß der Lieutenant – der sich gewöhnlich so gut zu beherrschen wußte – seinem Zorn schon freien Lauf lassen wollte, als der Kapitän Len Guy, ihn mit einem Winke aufhaltend, sagte:

»Beruhige Dich, Jem! . . . Hier ist nichts zu machen, wenn wir nicht alle eines Sinnes sind!«

Dann wendete er sich an den Hochbootsmann.

»Deine Ansicht von der Sache, Hurliguerly? . . .«

»Die ist sehr einfach, Kapitän,« antwortete der Hochbootsmann. »Ich gehorche Ihren Befehlen, wie sie auch lauten mögen! Unsre Pflicht ist es, William Guy und die Andern nicht im Stiche zu lassen, so lange wir noch einige Aussicht haben, sie zu retten.«

Der Hochbootsmann schwieg eine kurze Zeit, während einige der Matrosen, wie Drap, Rogers, Gratian, Stern und Burry, ihre Zustimmung deutlich genug zu erkennen gaben.

»Was nun Arthur Pym angeht . . .« fuhr er dann fort.

»Hier handelt es sich nicht um Arthur Pym,« unterbrach ihn der Kapitän auffallend lebhaft, »sondern um meinen Bruder William und seine Gefährten!«

Da ich bemerkte, daß Dirk Peters Einspruch erheben wollte, ergriff ich ihn am Arme, und obgleich er vor Ingrimm bebte, schwieg er doch.

Nein, das war nicht die rechte Zeit, auf Arthur Pym zurückzukommen. Meiner Ansicht nach blieb uns nichts anders übrig, als der Zukunft zu vertrauen, die Zufälligkeiten der Fahrt bestens auszunützen und die Leute unbewußt, mehr instinctiv sich von der Sache einnehmen zu lassen. Jedenfalls glaubte ich, Dirk Peters mit directeren Mitteln zu Hilfe kommen zu sollen.

Der Kapitän Len Guy hatte die Mannschaft weiter befragt. Er wollte die, auf die er rechnen konnte, einzeln und dem Namen nach kennen. Alle die alten Leute stimmten seinen Vorschlägen bei und verpflichteten sich, nie an seinen Befehlen zu deuteln und ihm zu folgen, wohin er sie auch führen würde.

An diese braven Männer schlossen sich auch einige der Neuangeworbenen an, freilich nur drei, die englischer Abstammung waren. Die größere Zahl schien mir aber den Anschauungen Hearne's beizupflichten. Für sie war die Fahrt der »Halbrane« mit der Insel Tsalal beendigt; deshalb weigerten sie sich, noch höher hinauf mitzugehen und verlangten nachdrücklich, wieder nach Norden zu steuern, um das Packeis noch in der allergünstigsten Jahreszeit zu passieren.

Diese Ansicht vertraten etwa zwanzig und es war kein Zweifel, daß Hearne ihren wahrsten Empfindungen Ausdruck gegeben hatte. Wollte man sie trotzdem nöthigen, bei den Manövern der Goëlette, wenn diese südwärts segelte, mit Hand anzulegen, so hieß das soviel, wie eine Meuterei herausfordern.

Um eine Sinnesänderung bei den von Hearne bearbeiteten Matrosen zu bewirken, gab es nur das Mittel, ihre Habgier zu reizen, die Saite des persönlichen Interesses schwingen zu machen.

Ich ergriff daher das Wort, und mit fester Stimme, die niemand an dem Ernste meines Vorschlags zweifeln lassen konnte, begann ich:

»Ihr Seeleute von der ›Halbrane‹, hört mich an! Wie schon mehrere Staaten für Entdeckungsreisen in den Polarmeeren Belohnungen ausgesetzt haben, so biete ich hiermit den Leuten unsrer Goëlette eine solche an. Ihr sollt für jeden Breitengrad, den wir über den vierundachtzigsten hinauf gelangen, zweitausend Dollars erhalten!«

Ueber siebzig Dollar für jeden Mann, das erschien doch verlockend.

Ich merkte, daß ich die Leute an der rechten Stelle getroffen hatte.

»Diese Zusage,« fügte ich hinzu, »werd' ich dem Kapitän Len Guy schriftlich bestätigen, er mag Euer Vertreter sein, und die gewonnene Summe wird Euch bei der Rückkehr, diese erfolge nun unter was immer für Umständen, ausgeliefert werden.«

Auf die Wirkung dieses Versprechens hatte ich nicht lange zu warten.

»Hurrah!« rief der Hochbootsmann, wie um seine Kameraden zu begeistern, und fast einstimmig vermischten sich ihre Hurrahs mit den seinigen.

Hearne erhob keinen ferneren Widerspruch – stand es ihm doch immer frei, mit Rathschlägen hervorzutreten, wenn die Umstände dafür günstiger waren.

Der Vertrag galt also als geschlossen, und um meine Ziele zu erreichen, hätte ich auch eine noch größere Summe geopfert.

Wir befanden uns jetzt nur noch sieben Grade vom Südpol entfernt, und selbst wenn die »Halbrane« bis zu diesem gelangte, konnte mir es doch nicht mehr als vierzehntausend Dollars kosten!

 


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