Jules Verne
Die Drangsale eines Chinesen in China
Jules Verne

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiundzwanzigstes Kapitel:

dessen Schluß sich der Leser selbst hätte schreiben können, auf eine so wenig unvermutete Weise findet er statt.

Die Große Mauer – ein chinesischer Wandschirm von 400 Meilen Länge – im 3. Jahrhundert durch den Kaiser Thsin-Schi-Huang-Ti erbaut, erstreckt sich vom Golfe von Liau-Tong, in welchen sie mit ihren beiden »Damm-Aermen« hineinreicht, bis nach der Provinz Kan-su, wo sie, südwestlich von Su-tschou endigend, zur einfachen Mauer wird. Sie stellt eine ununterbrochene Folge von doppelten Wällen dar, die durch Bastionen und Türme geschützt werden. Sie hat eine Höhe von 50 und eine Breite von 20 Fuß. Die Grundmauer besteht aus Granit, der Oberbau aus Backsteinen. Sie überschreitet den Hoang-ho, windet sich über Abgründe und Bergrücken und zieht sich bis zur russisch-chinesischen Grenze. Die Seite nach dem Himmlischen Reiche zu befindet sich in ziemlich schlechtem Zustande; die nach der Mandschurei zu gelegene Seite zeigt solidere Bauweise, und ihre Plattform weist noch heute eine oft bis zu 5 Meter aufsteigende Brustwehr. Von Verteidigungsmannschaft auf der ganzen langen Festungslinie keine Spur; von Geschützen erst recht nicht. Der Russe, der Tatare, der Kirgise ebensogut wie die Söhne des Himmels, können frank und frei durch ihre Thore passieren. Der Wandschirm schützt die Nordgrenze des Kaiserreichs nicht mehr, nicht einmal vor jenem feinen Staube aus der Mongolei, den der Nordwind zuweilen bis nach der Hauptstadt hineinfegt.

Unter das Ausfallthor eines dieser leeren Türme wurden am andern Morgen Kin-Fo und Sun nach einer auf Strohlager äußerst schlecht verbrachten Nacht geführt und zwar von etwa einem Dutzend Menschen, die nirgends wo anders hin, als zur Räuberbande Lao-Schens gehören konnten.

Was den Führer anbetrifft, so war er verschwunden; indes blieb Kin-Fo absolut keine Möglichkeit, sich über dieses Verschwinden einer Illusion hinzugeben. Nichts weniger als ein Zufall hatte ihm diesen Verräter in den Weg geführt. Der vormalige Klient der »Centennar«-Versicherungsgesellschaft war offenbar von diesem Schuft abgepaßt worden. Seine Zögerung, sich über die große Mauer hinaus zu wagen, war bloß eine List gewesen, um den Argwohn auf eine falsche Fährte zu lenken. Dieser Schurke gehörte ohne Frage mit zu der Tai-ping-Bande und einzig und allein nach den Befehlen dieses Räuberhauptmannes konnte er gehandelt haben.

Uebrigens hegte Kin-Fo in dieser Hinsicht auch gar nicht Zweifel, nachdem er einen von den Leuten gefragt hatte, der die Begleitmannschaft zu kommandieren schien.

»Sie führen mich ohne Zweifel in das Lager Ihres Hauptmannes Lao-Schen?« fragte er.

»In einer Stunde werden wir dort sein!« antwortete der Mann.

Was suchte schließlich der Zögling Wangs? Den Vollstrecker des Philosophen! Nun also, wohin er wollte, dorthin wurde er ja geführt! Ob er sein Ziel freiwillig, oder im Zwangswege erreichte, darüber brauchte er doch mit niemand zu rechten! Darüber brauchte er niemand Vorwürfe zu machen. Das überließ er viel richtiger Sun, dem die Zähne klapperten und der sattsam fühlte, wie ihm sein Hasenfußkopf auf den Schultern wackelte.

Kin-Fo hatte sich auch, ohne aus seinem Phlegma zu kommen, mit dem Abenteuer abgefunden und ließ sich ruhig führen. Endlich bot sich ihm die Gelegenheit zu dem Versuche, über den Rückkauf seines Briefes geschäftlich mit Lao-Schen zu verhandeln. Weiter wünschte er ja nichts! Und alles war also im richtigen Lote!

Sobald die Große Mauer überschritten war, verfolgte die kleine Schar nicht die mongolische Hauptstraße, sondern steile, zerrissene Pfade, die sich rechts in den gebirgigen Teil der Provinz hinein verliefen. Eine Stunde lang dauerte etwa der Marsch, und so geschwind ging es vorwärts, wie es das aufsteigende Terrain irgend gestattete. Kin-Fo und Sun, von Mannschaft eng umringt, hätten unmöglich fliehen können, und dachten übrigens auch gar nicht an Flucht.

Anderthalb Stunden später erblickten Wachtmannschaft und Gefangene an der Biegung eines Walles ein halb in Ruinen liegendes Gebäude. Es war ein ehemaliges Bonzenkloster, gebaut auf einem Bergrücken, ein merkwürdiges Denkmal buddhistischer Baukunst. Man konnte sich aber fragen, welche Klasse von Gläubigen wohl in diesem verlorenen Winkel der chinesisch-russischen Grenze, mitten in dieser Wüstenei, in diesem Tempel Einkehr zu halten wagte. Es sah doch ganz so aus, als ob jeder, der in diese für Fallen und Hinterhalte so vortrefflich geeigneten Engpässe den Fuß setzte, keine geringe Gefahr für sein Leben laufen mußte! Hatte der Tai-ping Lao-Schen sein Lager in diesem gebirgigen Platze der Provinz aufgeschlagen, so hatte er, wie jeder zugeben mußte, eine seiner Thaten würdige Stätte erkoren. Auf eine Frage Kin-Fo's gab nun der Führer der kleinen Schar den Bescheid, daß Lao-Schen in diesem Bonzenkloster tatsächlich seinen Wohnsitz habe.

»Ich wünsche ihn auf der Stelle zu sehen,« sagte Kin-Fo.

»Auf der Stelle,« antwortete der Führer.

Kin-Fo und Sun wurden, nachdem ihnen zuvor ihre Waffen abgenommen worden, in eine weite Halle geführt, die das Atrium des Tempels bildete. Dort standen etwa zwanzig Mann in Waffen, höchst malerisch anzuschauen in ihren Wegelagerer-Kostümen, aber wild von Aussehen und nichts weniger, als vertrauenerweckend. Kin-Fo trat beherzt zwischen diese doppelte Reihe von Tai-ping-Leuten. Sun hingegen wurde, weil er sich nicht traute, durch ein paar kräftige Püffe vorwärts geschoben.

Diese Halle führte im Hintergrunde auf eine in eine dicke Wand gebrochene Treppe, deren Stufen ziemlich tief hinunter in das Innere des Berges führten. Augenscheinlich weitete sich dort unter dem Hauptgebäude des Bonzenklosters eine Art Krypta oder Totengruft, und für jeden, der nicht den Ariadnefaden durch diese unterirdischen Krümmungen und Windungen besessen hätte, mußte es höchst schwierig, wenn nicht unmöglich, sein, zu ihr zu gelangen.

Nachdem sie im trüben Schein von qualmenden Fackeln, die von ihrer Begleitmannschaft getragen wurden, etwa 30 Stufen hinunter gestiegen, dann noch etwa 100 Schritte weit vorgedrungen waren, gelangten die beiden Gefangenen mitten in einen großen Saal, der ebenfalls von Fackellicht matt erleuchtet wurde. Es war tatsächlich eine Krypta. Säulen von mächtiger Dicke, mit jenen scheußlichen Köpfen von Ungetümen geschmückt, die zu der grotesken Fauna der chinesischen Mythologie gehören, stützten die Flachbogen, deren Rippen am Schlußstein der mächtigen Wölbungen zusammenliefen.

Ein dumpfes Gemurmel ertönte, als die beiden Gefangenen den Fuß in diese unterirdische Halle setzten, die nichts weniger als leer, sondern bis in ihre dunkelsten Tiefen dicht angefüllt mit Menschen war. Die ganze Tai-ping-Räuberschar war hier zum Zweck irgend einer verdächtigen Feierlichkeit versammelt.

Im Hintergrunde der Krypta, auf einer großen Kanzel aus Stein, stand ein Mann von hohem Wuchse, der ganz so aussah, wie der oberste Stuhlherr eines Femgerichts. Drei bis vier Genossen, die unbeweglich zu seinen Seiten standen, schienen seine Beisitzer darzustellen.

Dieser Mann gab ein Zeichen. Die Menge teilte sich im Nu und machte den beiden Gefangenen den Weg frei.

»Lao-Schen,« sagte einfach der Hauptmann der Geleit-Schar zu Kin-Fo, auf den Mann zeigend, der auf der Kanzel stand.

Kin-Fo that einen Schritt auf den Mann zu. Dann hub er, ganz wie jemand, der sofort in medias res tritt, um ein Ende zu machen, zu sprechen an:

»Lao-Schen! Du hast ein Schreiben in Deinen Händen, das Dir von Deinem einstigen Genossen Wang gesandt worden ist. Dieses Schreiben ist jetzt zwecklos und ich bin hier, es von Dir zurückzufordern.«

Bei diesen mit fester Stimme gesprochenen Worten bewegte der Tai-ping nicht einmal das Haupt. Es war, als ob er aus Bronze geformt sei.

»Was forderst Du für die Herausgabe dieses Schreibens?« fragte Kin-Fo wieder und wartete auf Antwort. Aber umsonst!

»Lao-Schen.« hob Kin-Fo wieder an, »ich gebe Dir auf jeden Bankier, den Du mir nennst, in jeder Stadt, die Du wünschest, einen Check, der bei Sicht auf Heller und Pfennig bezahlt wird, ohne daß der Vertrauensmann, den Du zum Inkasso entsendest, auch nur mit einer Frage belästigt werden soll!«

Dasselbe eisige Schweigen des finsteren Tai-ping – ein Schweigen, das von keiner guten Vorbedeutung war.

Kin-Fo begann, seine Worte scharf betonend, von neuem:

»Welche Summe begehrst Du für dieses Schreiben? Wie hoch soll ich den Check ausstellen? Ich biete Dir 5000 Taëls!« – Keine Antwort. – »10 000 Taëls?« –

Lao-Schen blieb mitsamt seinen Genossen so stumm, wie die Bildsäulen dieses seltsamen Bonzenklosters. Eine Regung von Ungeduld und Zorn bemächtigte sich Kin-Fo's. Einer Antwort, mochte sie lauten, wie sie wollte, waren seine Angebote doch wenigstens wert!

»Verstehst Du mich nicht?« fragte er den Tai-ping. – Diesmal geruhte Lao-Schen, mit dem Kopfe zu nicken, zum Zeichen, daß er vollkommen verstanden hatte. – »20 000 Taëls! 30 000 Taëls!« rief Kin-Fo; »ich biete Dir, was Dir die »Centennar« bezahlen würde, wenn ich tot wäre! Das Doppelte! Das Dreifache! Sprich! Ist's nun genug?« – Kin-Fo, den dieser Starrsinn ganz außer sich brachte, trat zu der schweigsamen Gruppe dichter heran und fragte, die Arme übereinanderschlagend: »Welchen Preis willst Du also haben für das Schreiben?«

»Keinen!« versetzte endlich der Tai-ping. »Du hast Buddha beleidigt, indem Du das Leben verachtetest, das er Dir geschenkt hat, und Buddha verlangt seine Rache. Erst angesichts des Todes wirst Du erkennen, was diese Gnade, auf der Welt zu sein, wert ist, die Du so lange verkannt hast!«

Als er diese Worte gesprochen, mit einem Tone gesprochen hatte, der keinen Widerspruch litt, winkte Lao-Schen. Kin-Fo wurde ergriffen, ehe er nur einen Versuch zur Verteidigung gemacht hatte, geknebelt und fortgeschleppt. Nach wenigen Minuten lag er in einem Käfig, der zum Tragen eingerichtet, aber hermetisch verschlossen war. Sun, der unglückliche Sun, mußte, alles Geschreies, alles Flehens ungeachtet, dieselbe Behandlung leiden.

»Also der Tod!« sprach Kin-Fo bei sich. »Nun, so sei es denn! Wer das Leben verachtet hat, verdient den Tod!«

Jedoch war der Tod, wenn er ihm auch unvermeidlich schien, weniger nahe, als er sich dachte. Aber zu welcher entsetzlichen Todesstrafe ihn dieser grausame Tai-ping aufhöbe, vermochte er sich nicht auszumalen.

Stunden verstrichen. Kin-Ho hatte in dem Käfig, in den man ihn gesperrt hatte, gefühlt, daß er in die Höhe gehoben, dann auf irgend ein Gefährt geschafft wurde. Das Rütteln des Wagens auf der Straße, das Pferdegetrappel, das Waffengeklirr seiner Begleitmannschaft enthoben ihn jedes Zweifels. Man schleppte ihn weit hinweg. Wohin? das hätte er vergeblich zu erfahren gesucht.

Sieben bis acht Stunden nachher fühlte Kin-Fo, daß der Käfig hielt, daß ihn Männerarme aufhoben und daß bald darauf eine leichtere Transportweise auf die Erschütterungen und Stöße einer Beförderung zu Lande folgte.

»Bin ich denn auf einem Schiffe?« fragte er sich.

Heftig schlingernde und stampfende Bewegungen, sodann auch eine zitternde Bewegung, wie sie Schiffsschrauben verursachen, bestärkten ihn in diesem Gedanken, daß er sich auf einem Dampfboote befände.

»Der Tod in den Fluten!« dachte er. »Meinetwegen! Man will mir Qualen von schrecklicherer Natur ersparen. Dank Dir, Lao-Schen!«

Indessen verflossen nochmals zweimal 24 Stunden. Zweimal am Tage wurde ihm durch einen schmalen Schieber ein wenig Nahrung in den Käfig geschoben, ohne daß der Gefangene sehen konnte, welche Hand sie ihm spendete, und ohne daß seinen Fragen Antwort zu teil wurde. Ach! Wie oft hatte Kin-Fo, ehe er jenes Dasein aufgab, das ihm der Himmel mit so reicher Güte gespendet, nach Aufregungen gesucht! Nach weiter nichts hatte er begehrt, als daß sein Herz zu schlagen aufhöre, nachdem es ihm wenigstens einmal geklopft hätte! Nun! seine Wünsche hatten Befriedigung gefunden und weit über den Rahmen derselben hinaus!

Gern aber hätte Kin-Fo, wenn er das Opfer seines Lebens bringen sollte, den Tod bei vollem Tageslichte nahen sehen. Der Gedanke, daß dieser Käfig jeden Augenblick in die Fluten versenkt werden könnte, war ihm gräßlich. Sterben, ohne nur einmal noch das Tageslicht, ohne die arme Le-u, deren Erinnerung sein ganzes Herz erfüllte, wiederzusehen, das war zu schwer! Das war zu viel!

Nach einem Zeitraum, den er nicht hatte schätzen können, schien es ihm endlich, als ob diese lange Seereise plötzlich zu Ende ginge. Das Gezitter der Schraube hörte auf. Das Schiff, das sein Gefängnis trug, hielt. Kin-Fo fühlte, daß sein Käfig von neuem aufgehoben würde.

Diesmal war's also wirklich der letzte Moment, und der Verurteilte brauchte nichts anderes mehr zu thun, als um Verzeihung für die Irrtümer seines Lebens zu bitten. Noch aber verflossen einige Minuten – Jahre, Jahrhunderte!

Zu seinem großen Staunen konnte Kin-Fo zunächst feststellen, daß der Käfig neuerdings auf festem Boden stände! Und plötzlich – that sein Gefängnis sich auf. Er wurde von Armen gepackt – eine breite Binde legte sich im Nu über seine Augen, und jäh fühlte er sich herausgerissen. Von kräftigen Fäusten geschoben, mußte er einige Schritte thun. Dann nötigten ihn seine Wächter, stehen zu bleiben.

»Soll's denn endlich zum Tode gehen,« rief er, »so bitte ich Euch nicht, mir ein Leben zu schenken, mit dem ich nichts anzufangen gewußt habe, aber gewährt mir wenigstens, am hellen Tage zu sterben, als Mensch, der sich nicht fürchtet, dem Tode ins Gesicht zu sehen!«

»Es sei!« sprach eine ernste Stimme – »dem Verurteilten geschehe nach seinem Willen!«

Plötzlich wurde ihm die Binde von den Augen gerissen. Kin-Fo warf nun einen gierigen Blick um sich . . . War er der Spielball eines Traumes? Eine verschwenderisch gedeckte Tafel stand in der Mitte eines großen Saales. An ihr saßen mit lächelnder Miene fünf Tischgäste, die auf den Beginn des Essens zu warten schienen. Zwei Plätze waren noch leer, offenbar bestimmt für die letzten beiden Gäste.

»Ihr? Ihr? Liebe Freunde! Liebste, beste Freunde!« rief Kin-Fo in einem Tone, der sich unmöglich wiedergeben ließe – »seid Ihr's wirklich? sehe ich Euch wirklich?«

Aber nein! er täuschte sich nicht – Wang war's, der Philosoph! Wang, wie er leibte und lebte! Und dort saßen Bin-Pang, Hu-al, Pao-Schen, Tim – seine Cantoner Freunde, dieselben, die er vor acht Wochen auf dem Blumenschiffe des Perlenflusses bewirtet hatte – seine Jugendfreunde – die festlichen Zeugen des Abschiedes, den er vom Junggesellen-Leben genommen hatte!

Kin-Fo konnte seinen Augen nicht trauen. Er war bei sich zu Hause, in dem Speisesaal seines Schang-haier Yamens!

»Wenn Du's bist!« rief er, sich an Wang wendend – »und nicht Dein Schatten, dann sage mir . . .«

»Ich bin's, Freund! bin's selbst!« antwortete der Philosoph – »wirst Du Deinem alten Meister die letzte, freilich herbe Lektion in der Philosophie verzeihen, die er Dir geben mußte!«

»Was?« rief Kin-Fo – »Du wärst – Du wärst es – Wang?«

»Ich bin's,« versetzte Wang – »ich! und ich hatte mich der Aufgabe unterzogen, Dich diesem Leben zu entreißen, damit sich kein anderer ihr unterzöge! Ich wußte früher als Du, daß Du nicht zu Grunde gerichtet seiest und daß ein Augenblick kommen würde, wo Du nicht würdest sterben wollen! Mein alter Kamerad Lao-Schen, der soeben seine Unterwerfung ausgeführt hat und hinfort eine der kräftigsten Stützen des Kaiserreichs sein wird, hatte mir seinen Beistand versprochen, Dich den Wert des Lebens zu lehren, indem er Dich dem Tode ins Antlitz schauen ließ! Wenn ich Dich in einem Leben voll schrecklicher Aengste allein ließ, wenn ich Dir – was schlimmer, weit schlimmer ist – obwohl mir selbst fast das Herz dabei verblutete, Situationen schuf und durchleben ließ, die fast über Menschenkraft hinausgehen, so geschah es darum, weil ich die Gewißheit hatte, daß Du ja nur dem Glücke entgegenliefest und daß Du es schließlich auf Deinem Wege auch finden und fassen würdest!«

Kin-Fo lag in Wangs Armen und Wang drückte ihn kräftig an seine Brust.

»Mein armer Wang,« sagte Kin-Fo tief ergriffen – »wenn ich den Lauf doch wenigstens allein unternommen hätte! Aber welches Herzeleid habe ich Dir dabei zugefügt! In welches Unglück habe ich Dich selbst gestürzt! Wie scharf hast Du selbst mitlaufen müssen, und zu welchem Schwimmbade habe ich Dich von der Palikao-Brücke aus gezwungen!«

»Ha! die Geschichte damals,« antwortete Wang lachend, »hat mir für meine 55 Jahre und meine Philosophie, schwerenot! keine schlechte Furcht in den Leib gejagt! Mir war infam heiß und im Wasser war's hundsföttisch kalt! Aber pah! ich bin mit blauem Auge davongekommen! so gut läuft und schwimmt man niemals als für anderer Leute Rechnung!«

»Für anderer Leute Rechnung!« wiederholte Kin-Fo mit ernster Miene. »Ja! für andere muß man zu wirken lernen! zu wirken verstehen! Darin liegt das Geheimnis des Glücks!«

In diesem Augenblick kam, leichenblaß, wie ein Mensch, der eben 48 Stunden Folterqualen erlitten, Sun herein. Genau so wie sein Herr, hatte auch der unglückliche Diener diese ganze Ueberfahrt von Fu-Ning nach Schang-Hai zurück machen müssen – und unter welchen Umständen! in welcher Lage! Aus seinen Mienen konnte man darauf schließen!

Kin-Fo drückte seinen Freunden nacheinander die Hand, sobald er sich Wangs Umarmung entwunden hatte.

»So,« sagte er, »ist's mir entschieden lieber! Ich bin ein Narr bislang gewesen!«

»Und kannst wieder zum Weisen werden!« antwortete der Philosoph.

»Versuchen will ich's,« sagte Kin-Fo. »und anfangen will ich damit, daß ich dran denke, Ordnung in meine Angelegenheiten zu bringen. Ein Stück Papier ist in der Welt herumgeirrt, das die Ursache zu Drangsalen über Drangsalen für mich geworden ist, so daß es mir nicht verdacht werden wird, wenn ich mich ernstlich darum kümmere. Was ist nun eigentlich aus dem vertrackten Schreiben geworden, das ich Dir übergab, mein lieber Wang? Ist es wirklich aus Deinen Händen in andere gelangt? Es würde mich gar nicht verdrießen, es wieder zu sehen, denn wenn es schließlich doch noch verloren gehen sollte! Wenn es Lao-Schen noch in den Händen haben sollte, so kann für ihn ein Stückchen Papier doch keinerlei Wichtigkeit haben, und höchst unangenehm müßte es doch für mich sein, wenn es in Hände gelangte, die – die weniger zartfühlend wären!«

Ueber diese Worte brachen alle in Lachen aus.

»Liebe Freunde,« sagte Wang, »aus seinem reichen Missgeschick hatte Kin-Fo doch eins gewonnen, dass er ein ordentlicher Mensch geworden ist! So indifferent, wie wir Ihn gekannt haben, ist er nicht mehr! Er denkt wie ein Mensch, der in geordneten Verhältnissen lebt und zu leben liebt!«

»Das alles schafft mir mein Stückchen Papier nicht wieder,« nahm Kin-Fo wieder das Wort, »den dummen Brief, den ich an Dich gerichtet! Ich bekenne ohne Beschämung, daß ich nicht eher wieder Ruhe finden werde, als bis ich ihn verbrannt und seine Asche in alle Winde verstreut habe!«

»Also in allem Ernste – Deinen Brief willst Du wiederhaben?« fragte Wang.

»Gewiß!« versetzte Kin-Fo – »oder möchtest Du so grausam sein, ihn als Sicherheit dafür zu behalten, daß ich in meine Thorheit nicht zurückverfalle?«

»Nein.« – »Nun dann?«

»Nun dann, mein lieber Zögling, der Erfüllung Deines Wunsches steht leider ein Hindernis im Wege, das aber nicht meine Schuld ist. Deinen Brief nämlich haben wir nicht mehr, weder Lao-Schen, weißt Du, noch ich . . .«

»Ihr habt ihn nicht mehr?« – »Nein!« – »Ihr habt ihn vernichtet?« – »Nein! ach! nein!« – »Ihr habt doch nicht die Thorheit begangen, ihn noch andern Händen zu überantworten?« – »Ja! ach! ja!« – »Wem? wem?« fragte Kin-Fo lebhaft, mit dessen Geduld es zu Ende war; »jawohl! wem? sprich!« – »Jemand, der es übernommen, ihn allein Dir zurückzugeben!«

In diesem Augenblick kam die holde Le-u, die, hinter einem Wandschirm versteckt, kein Wort, keinen Auftritt dieser Szene verloren hatte, mit dem bösen Brief zwischen den Spitzen ihrer zierlichen Finger, zum Vorschein.

Kin-Fo eilte ihr mit offenen Armen entgegen.

»Nicht doch! Ein bißchen Geduld noch, wenn ich bitten darf!« sagte die liebenswürdige Dame, indem sie, den bösen Brief zwischen den Fingern schüttelnd, so that, als wenn sie wieder hinter dem Wandschirm verschwinden wollte – »vor allem erst die Geschäfte, mein weiser Herr Gemahl!« und ihm den Brief unter die Augen haltend: »Erkennt mein junges Brüderchen dies als sein Werk an?«

»Ob ich es erkenne!« rief Kin-Fo – »wer anders als ich hätte solchen thörichten Brief schreiben können?«

»Nun, dann vor allem,« erwiderte Le-u, »ganz so, wie Du es eben als sehr berechtigten Wunsch geäußert, zerreiße den Brief! verbrenne den Brief! vernichte ihn, diesen unklugen Brief! Und möge kein Atom übrig bleiben, auch von dem damaligen Kin-Fo! von dem Kin-Fo, der ihn geschrieben!«

»Einverstanden!« sagte Kin-Fo, das lose Stückchen Papier an ein Licht haltend – »aber, Du, süßes Herz! Erlaube Deinem Gemahl, daß er seine Gemahlin umarme und küsse und sie inständig bitte, den Vorsitz bei diesem glücklichen Mahle zu führen! Jetzt fühle ich mich in der Stimmung, ihm Ehre anzuthun!«

»Und wir auch!« riefen die fünf Tischgäste. »So recht zufrieden sein, macht recht hungrig!«

Wenige Tage nachher wurde das kaiserliche Interdikt aufgehoben und die Hochzeit festlich gefeiert.

O, wie sich das junge Ehepaar liebte! Ich glaube, sie lieben sich noch immer! Sie lieben sich in alle Ewigkeit! Tausend und abertausend Glückwünsche mögen sie begleiten im Leben!

Wer's selbst mit ansehen will, der muß halt selbst nach China gehn!

 

Ende.

 


 << zurück