Jules Verne
Die Drangsale eines Chinesen in China
Jules Verne

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Siebzehntes Kapitel:

worin Kin-Fo's Marktwert abermals gefährdet erscheint.

Acht Tage vorher war ein amerikanisches Schiff im Hafen von Ta-ku vor Anker gegangen. Geheuert von der sechsten chinesisch-californischen Handelsgesellschaft, war es für Rechnung der Agentur Fuk-ting-tong, die ihren Sitz in San Francisco im Friedhofe auf dem Laurel-Hügel hat, geladen worden. Dort warten die in Amerika gestorbenen Söhne des Himmels auf den Tag ihrer Verschiffung in die Heimat, ihrer Religion getreu, die ihnen Bestattung in der Muttererde zum Gesetz macht. Dieses, nach Canton bestimmte Schiff hatte zufolge schriftlicher Weisung der Agentur eine Ladung von 250 Särgen, von denen 75 in Ta-ku ausgeladen werden sollten, um von dort nach den Provinzen im Norden weiter verfrachtet zu werden. Die Umladung dieser Frachtstücke von dem amerikanischen auf das chinesische Fahrzeug war bewirkt worden, und am nämlichen Morgen noch, dem 27. Juni, ging das Schiff nach dem Hafen von Fu-Ning unter Segel. Auf ihm hatten Kin-Fo und seine Begleiter Plätze für die Ueberfahrt belegt. Jedesfalls würden sie es nicht genommen haben, wenn ihnen eine andere Wahl geblieben wäre; aber andere Schiffe mit Fahrt nach dem Meerbusen von Leao-Tung waren nicht vorhanden; also blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich auf dem Leichendampfer einzuschiffen. Uebrigens handelte es sich ja nur um eine Ueberfahrt von höchstens 2–3 tägiger Dauer, mit der um diese Jahreszeit so gut wie keine Schwierigkeiten verbunden waren.

Der »Sam-Yep« war eine See-Dschunke von ca. 300 Tonnen Gehalt. Es giebt ihrer zu Tausenden, und ihr Tiefgang von höchstens 6 Fuß ermöglicht ihnen die Passage durch die Barren oder Sandbänke, die den Flüssen des Himmlischen Reiches vorgelagert sind. Da sie im Verhältnis zur Länge eine zu große Breite haben, gehen sie krumm nach vorn und nach hinten aufwärts und können, wie es scheint, nur bei günstigem Winde schnell fahren, aber sie lavieren auf dem Fleck, indem sie sich wie ein Kreisel um seinen Zapfen drehen, wodurch sie dem besten Linienschiff gegenüber im Vorteil sind. Die Hacke ihres mächtigen Steuers wird mit Löchern ausgebohrt, ein in China höchst beliebtes System, dessen Nutzen aber ziemlich prekär zu sein scheint. Wie dem auch sei, diese grossen Schiffe bieten den Ufermeeren gern Stand; man erzählt sogar, eine solche Dschunke sei mit Thee- und Porzellan-Fracht von einem Cantoner Handelshause unter dem Befehl eines amerikanischen Kapitäns bis San Francisco ausgeschickt worden. Ein Beweis dafür, daß solche Fahrzeuge auch die schwere See bewältigen können und daß der Chinese, wie sich kompetente Leute schon längst klar sind, einen vortrefflichen Seemann abgiebt.

Der »Sam-Yep«, von moderner Konstruktion, vom Vorder- zum Hintersteven fast schnurgerade verlaufend, erinnerte durch sein Mall oder Schiffsmodell an die Gestalt des europäischen Schiffsrumpfes. Weder mit einem Nagel, noch einem Pflock im Leibe, aus zusammengenähtem Bambus gefertigt, mit Werg und Kambodje-Harz kalfatert, war er so absolut wasserdicht, daß er nicht einen einzigen Pumpenschwengel aufwies. Seine Leichtigkeit brachte es mit sich, daß er wie ein Stück Kork auf dem Wasser schwamm. Ein Anker aus steinhartem Holz, eine Takelage aus Palmenfasern von hervorragender Biegsamkeit, geschmeidiges Segelwerk, von Deck aus zu hantieren und sich nach Fächerart schließend oder öffnend, zwei Masten in einer Stellung wie Groß- und Besanmast auf einem Lugger, ohne Hintersegel, ohne Klüver, war diese Dschunke, alles in allem genommen, für die Küstenfahrt wohl ausgerüstet und wohlgeeignet.

Ganz gewiß hätte es niemand dem »Sam-Yep« angesehen, daß ihn seine Reeder für diese Fahrt zum Leichenwagen im Riesenstil umgewandelt hatten. An die Stelle von Theekisten, Seidenballen, der kleineren Frachtstücke von chinesischen Spezerei- und Parfümeriewaren war die bezeichnete Fracht getreten. Die Dschunke hatte aber nichts eingebüßt von ihren lebhaften Farben. An seinen beiden Steven, also vorn wie hinten, tanzten buntfarbige Paniere und Quasten hin und her. Am Vorderbug that sich ein großes, flammendes Auge auf, das der Dschunke das Aussehen eines Riesenungetüms von Seetier gab. Am Topp ihrer Masten entfaltete der frisch einsetzende Wind das grelle Flaggentuch der chinesischen Marine. Zwei Karronaden reckten ihre schimmernden Läufe, auf denen die Sonnenstrahlen wie in einem Spiegel blitzten, über das Schanzdeck hinaus. Nützliche Vorkehrung das, auf diesen von Seeräubern noch immer verseuchten Meeren! Das Gesamtbild, das diese Dschunke bot, war lustig, blendend und wohlthätig fürs Auge. Im Grunde genommen wars doch nur eine Rückfahrt ins Vaterland, die der »Sam-Yep« bewirkte – freilich nur von Leichen, aber von Leichen, die willig zur Fahrt, die froh über die Fahrt waren!

Weder Kin-Fo noch Sun konnten den geringsten Widerwillen vor einer Seefahrt unter solchen Bedingungen empfinden. Dazu waren sie viel zu sehr Chinesen! Craig und Fry hingegen hätten es ohne Zweifel, wie ihre amerikanischen Landsleute, die sich um solche Fracht ganz sicher nicht rissen, lieber gesehen, sie hätten auf einem anderen Schiffe fahren können; aber es blieb ihnen leider keine Wahl.

Ein Kapitän und sechs Matrosen bildeten die Ausrüstung der Dschunke, für die höchst einfachen Hantierungen mit dem bißchen Segelwerk völlig ausreichend. Wie es heißt, ist die Bussole oder der Kompaß eine chinesische Erfindung. Das mag sein; in China bedient sich dieses Instruments aber kein einziges Küstenschiff, sondern alles fährt und steuert nach Gutdünken. So und nicht anders auch Kapitän Yin, der Kommandant des »Sam-Yep«, der übrigens das Gestade des Golfs nicht aus den Augen verlor.

Dieser Kapitän Yin, ein kleines Männchen mit lachendem Angesicht, lebhaft und schwatzhaft, gab die lebendige Demonstration für jenes unlösliche Problem des Perpetuum mobile ab. Er kannte kein Maß in Gebärden! Seine Arme, Hände, Augen sprachen noch mehr und deutlicher, als seine Zunge, die doch hinter seinen weißen Zähnen nie in Ruhe trat. Er drillte, kommandierte, schalt seine Mannschaft nach Noten. Aber er war ein tüchtiger Seemann, wohlbefahren im ganzen Küstengebiet, und manövrierte mit seiner Dschunke, als wenn er sie am kleinen Finger hätte. Der hohe Passagier-Preis, den Kin-Fo für sich und seine Kameraden bezahlte, war auch nicht angethan, ihm die Laune zu verderben. Passagiere zur Taxe von 150 Taëls für eine 60 stündige Fahrt konnten schon als eine feine Ernte gelten! Zumal dann, wenn sie sich bezüglich ihrer Ansprüche auf Bequemlichkeit und Unterhalt nicht höher stellten, als ihre im Zwischendeck eingepferchten Reisegefährten!

Kin-Fo, Craig und Fry waren, so gut und schlecht es ging, unter dem sogenannten »Logis« am Schiffs-Hinterteil, Sun unter dem am Vorderteil beherbergt worden. Die beiden »Versicherungsspitzel«, die nach wie vor an Vertrauen großen Mangel litten, hatten sich mit einer peinlichen Musterung von Mannschaft und Kapitän befaßt. In der Aufführung dieser braven Leute war nichts Verdächtiges zu finden. Die Annahme, daß sie mit Lao-Schen im Einvernehmen stehen könnten, mußte doch aller Wahrscheinlichkeit entbehren, denn der Zufall allein hatte doch diese Dschunke ihrem Schutzbefohlenen zugeführt, und wie hätte der Zufall Mitverschworener des allzu berüchtigten Tai-ping sein können! Bis auf die Fährlichkeiten des Meeres mußte demnach die Fahrt auf die Zeit von einigen Tagen ihre täglichen Beunruhigungen unterbrechen. Drum überließen sie auch Kin-Fo mehr sich selbst, als sonst.

Kin-Fo war übrigens hierüber nicht böse. Er setzte sich allein in seine Kabine und überließ sich dort nach Belieben seinen Gedanken. Armer Mensch! der sein Glück nicht zu schätzen gewußt hatte, der nie hatte begreifen können, was ein solches Dasein ohne Sorgen und ohne Kummer im reichen Yamen von Schang-hai wert war, und den nur Arbeit hätte umändern können! Wenn er doch nur seinen Brief zurückerhielte! man sollte ja bald sehen, ob ihm die Lektion genützt hätte! ob aus dem Narren ein Weiser geworden wäre!

Dieser Brief sollte ihm ja aber endlich wieder zu Händen kommen! Jawohl, ganz ohne Zweifel! denn er würde ja dafür bezahlen, was er wert war! Für diesen Lao-Schen konnte es sich bei der ganzen Sache doch nur um Geld handeln! Immerhin galt es, ihm die Vorhand zu spielen und nicht etwa die Möglichkeit hierzu zu lassen! Eine schwierige, sehr schwierige Aufgabe! Lao-Schen mußte sich ja doch über alles auf dem Laufenden halten, was Kin-Fo unternahm; Kin-Fo wußte nicht das geringste von dem, was Lao-Schen im Sinne hatte. Daraus mußte sich eine sehr ernste Gefahr ergeben, sobald Craig-Fry's Schutzbefohlener in der Provinz an Land gegangen sein würde, in welcher der Tai-ping sein Unwesen trieb. Alles lief also darauf hinaus, daß man ihm nicht die Vorhand ließ! Ganz offenbar würde Lao-Schen 50 000 Dollars lieber vom lebendigen, als vom toten Kin-Fo nehmen. Dadurch würde er um die Reisekosten nach Schang-hai, und würde um den Gang nach den Kontoren der Versicherungsgesellschaft kommen, der für ihn keineswegs ohne Gefahr war, mochte die Regierung ihm gegenüber auch noch soviel Langmut an den Tag gelegt haben.

Also dachte der völlig umgewandelte Kin-Fo, und daß die liebenswürdige junge Wittib in Peking in seinen Zukunftsplänen einen sehr wichtigen Platz einnahm, darf man wohl glauben.

Woran dachte nun aber währenddessen Sun? Sun dachte an gar nichts! Sun lag ausgestreckt auf seinem Pfühl und zahlte den böswilligen Gottheiten des Meerbusens von Pe-tschi-li seinen Tribut. Auf andere Gedanken, außer bald seinem Herrn und Gebieter, bald dem Philosophen Wang, bald dem Banditen Lao-Schen zu grollen und fluchen, konnte er gar nicht kommen! Sein Herz war stumpf, sein Hirn war faul! Ai-Ai-y-a! ach, die dämlichen Gedanken, ach die dämlichen Empfindungen! Weder an Thee dachte er mehr, noch an Reis! Ai-ai-y-a! Was für ein Wind hatte ihn bloß irrigerweise hierher gejagt! Tausend, zehntausendmal dumm und dämlich war er gewesen, bei einem Menschen in Dienste zu treten, dem es einfallen konnte, übers Meer zu fahren! Gern würde er hingeben, was ihm von seinem Zopf noch übrig war, bloß, um nicht dort zu sein, wo er jetzt war! Lieber ließe er sich den Schädel rasieren! Lieber würde er Bonze!! ein gelber Hund, ai-ai-y-a! ein schmutzig-gelber Hund war's, der ihm an Leber und Eingeweiden fraß – ai-ai-y-a!

Unterdessen segelte unter dem Druck eines herrlichen Südwindes der »Sam-Yep« 3–4 Meilen fern von dem niedrigen Gelände der Küste, die sich nun von Ost nach West erstreckte, an Pej-Tang vorbei, an der Mündung des gleichnamigen Flusses gelegen, unfern von der Stelle, wo die europäischen Armeen gelandet worden waren – dann an Schan-tung, an Tschiang-ho, an den Mündungen des Tscha-u, an Hai-we-tsse vorbei.

In diesem Teil des Meerbusens fing es an, öder zu werden. Der am Aestuarium des Pei-ho noch ziemlich bedeutende Schiffsverkehr erstreckte sich keine zwanzig Meilen darüber hinaus. Ein paar Kauffahrtei-Dschunken, die den Kleinverkehr an der Küste vermittelten, ein Dutzend Fischerbarken, die die fischreichen Gewässer an der Küste und die Thunfischbestände weiter draußen im Meere aushoben – seewärts bis zum Horizont weite, leere Fläche! – Dies war der Anblick, den dieser Teil des Meeres bot! Craig und Fry machten die Beobachtung, daß die Fischerboote, selbst solche, die kaum mehr als 5–6 Tonnen Gehalt hatten, fast sämtlich mit kleinen Kanonen, zwei bis drei Stück in der Regel, bewaffnet waren. Als sie sich dem Kapitän gegenüber äußerten, wie das zu erklären sei, versetzte dieser, indem er sich die Hände rieb:

»Hm! ein bißchen Furcht muß man dem Seeräuber-Pack schon einjagen!«

»Was? Seeräuber hier im Busen von Pe-tschi-li!« rief Craig, nicht ohne Verwunderung.

»Warum denn nicht!« antwortete Yin. »Hier wie überall! In den chinesischen Meeren fehlt's nicht an solchen braven Leuten!« und dabei wies er lachend die doppelte Reihe seiner Zähne.

»Sie scheinen keine große Furcht vor ihnen zu haben?« meinte Fry.

»Ei! habe ich nicht meine beiden Karronaden?« antwortete er – »die beiden munteren Hechte reißen schon ihr Maul auf, wenn man ihnen allzunahe kommt!«

»Sind sie denn geladen?« fragte Craig. – »In der Regel.« – »Und jetzt?« – »Nein!« – »Warum denn jetzt nicht?« fragte Fry. – »Weil ich kein Pulver an Bord habe,« versetzte mit Seelenruhe Kapitän Yin. – »Wozu haben Sie dann aber die Karronaden?« fragten Craig-Fry, wenig befriedigt von der Antwort. – »Wozu?« rief der Kapitän; »ei! zum Schutze für meine Fracht, wenn's der Mühe verlohnt, sie zu schützen! Wenn ich meine Dschunke voll mit Thee oder Opium geladen habe! Aber heute, mit solcher Fracht!« – »Und wieso wissen denn die Seeräuber, ob sich's bei Ihrer Dschunke verlohnt oder nicht, sie anzugreifen?«

Der Kapitän drehte sich achselzuckend auf dem Absatz herum; dann erwiderte er: »Sie scheinen Dampf vor den braven Leuten zu haben?« – »Ei, allerdings!« sagte Fry hierauf. – »Sie haben ja bloß Handgepäck an Bord!« – »Mag sein,« versetzte Craig: »aber wir haben ganz besondere Gründe, ihren Besuch nichts weniger als zu wünschen!« – »Nun, dann seien Sie unbesorgt!« sagte der Kapitän: »wenn wir Piraten treffen, so werden sie auf unsere Dschunke ganz gewiß nicht Jagd machen!« – »Und warum nicht?« – »Weil sie, sobald sie in Sicht kommen sollten, sofort erfahren werden, wenn sie es nicht an sich schon wissen, was für Fracht ich führe.«

Bei diesen Worten wies Kapitän Yin auf ein weißes Wimpel, das der frische Wind halbmast der Dschunke blähte.

»Das weiße Wimpel in Schau bedeutet hierzulande Trauer! Die braven Leute werden die Hand nicht rühren, um eine Fracht Särge zu plündern!« – »Aber sie könnten doch auch meinen, Sie führen aus Vorsicht unter Trauerflagge!« bemerkte Craig, »könnten an Bord kommen, um festzustellen . . .« – »Na, wenn sie kommen,« antwortete der Kapitän, »so werden wir sie eben kommen lassen und wenn sie sich überzeugt haben, daß es sich so und nicht anders verhält, werden sie wieder gehen, wie sie gekommen sind!«

Craig-Fry verfolgten das Thema nicht weiter, teilten aber die unerschütterliche Ruhe des Kapitäns nur in sehr bescheidenem Maße, trotzdem der Kapitän nichts verabsäumt hatte, sich die Gunst des Schicksals zu versichern. Denn im Moment der Abfahrt war zu Ehren der Meeresgottheiten ein Hahn geopfert worden. Am Besanmast hingen noch die Federn des unglücklichen Mitglieds der Hühnerfamilie. Ein paar auf Deck gespritzte Blutstropfen, ein kleines Becherglas voll Wein über Bord geworfen, hatten dieses fürsorgliche Opfer vervollständigt. Also geweiht, konnte ja doch die Dschunke »Sam-Yep«, obendrein unter dem Kommando des braven Yin, unmöglich etwas zu befürchten haben!

Indessen hatte es doch den Anschein, als ob die launischen Gottheiten den »Hals nicht voll gekriegt« hätten! Ob der Hahn nun zu mager gewesen, oder der Wein nicht aus den besten Bergen von Schao-Schi-nje gewonnen war, ein entsetzlicher Windstoß packte die Dschunke! Er kam ganz unvermutet, denn den ganzen Tag über war es hell und klar gewesen und hatte bloß eine angenehme Brise geherrscht: selbst der weitsichtigste Seemann hätte nicht merken können, daß Gott Aeolus sich so hundsföttisch aufführen würde!

Gegen 8 Uhr abends war's, der »Sam-Yep« schickte sich eben unter vollen Segeln an, das Vorgebirge zu umschiffen, das die Küste nach Nordosten zu bildet. War sie über dasselbe hinaus, so hätte sie weiter nichts mehr gebraucht, als vor dem Winde her zu segeln: Kapitän Yin rechnete also, ohne seine Kräfte gerade zu überschätzen, daß er in annähernd 24 Stunden die Küste von Fu-Ning erreicht haben würde.

Kin-Fo sah also nicht ohne eine Regung von Ungeduld, die bei Sun in wilden Grimm umsprang, die Stunde nahen, wo der »Sam-Yep« vor Anker gehen würde. Was Fry-Craig anbetrifft, so thaten sie die folgende Aeußerung: Wenn binnen heut und drei Tagen ihr Schutzbefohlener den Brief, der sein Dasein in Gefahr setzte, Lao-Schens Händen entwunden hätte, so würde das genau in dem Moment geschehen, wo die »Centennar«-Gesellschaft keinerlei Ursache mehr hätte, sich um seinetwillen in Unruhe zu setzen. Thatsächlich hätte seine Police ja nur bis zum 30. Juni um Mitternacht Deckung, also Giltigkeit, da bloß eine einmalige Zahlung für die Zeit von zwei Monaten an Seine Ehren William J. Bidulph geleistet worden war. Von da ab also würde die Geschichte –

». . . klar.« hub Fry an –

». . . sein!« ergänzte Craig.

Gegen Abend, in dem Augenblick, als die Dschunke am Eingang zum Busen von Leao-Tong anlangte, sprang der Wind jäh nach Nordost herum, dann nach Norden und zwei Stunden nachher pfiff er aus Nordwest.

Hätte Kapitän Yin ein Barometer an Bord gehabt, so hätte er feststellen können, daß die Merkursäule fast urplötzlich um 4–5 Millimeter gesunken war. Diese geschwinde Verdünnung der Luft kündete nun einen in geringer Entfernung hausenden Taifun an, dessen Bewegung schon die atmosphärischen Schichten tangierte. Oder hätte Kapitän Yin die Wahrnehmungen des Engländers Paddington und des Amerikaners Maury gekannt, so würde er versucht haben, den Kurs zu ändern und nordöstlich zu steuern, in der Hoffnung, eine minder gefährliche Region zu erreichen, außerhalb des Anziehungsmittelpunktes dieses gefährlichen Drehsturms. Kapitän Yin benutzte aber niemals das Barometer und hatte keine Ahnung von dem Gesetz der Cyklone. Hatte er denn übrigens nicht einen Hahn geopfert und mußte ihn solches Opfer nicht vor jeder Eventualität sicher stellen? Trotz alledem war er ein tüchtiger Seemann, dieser abergläubische Chinese, und er lieferte den Beweis hierfür in dieser schlimmen Situation. Instinktiv manövrierte er, wie es kein abendländischer Kapitän besser gekonnt hätte!

Der Taifun, der gegen die Dschunke heranbrauste, war nur ein kleiner Taifun, mithin mit einer sehr großen Drehungsgeschwindigkeit und einer umläufigen Bewegung von über 100 Kilometer in der Stunde ausgestattet. Er trieb den »Sam-Yep« ostwärts, alles in allem ein günstiger Umstand, da die Dschunke sich bei solchem Kurs von einer Küste entfernte, die keinerlei Schutz bot und an der sie unfehlbar in kurzer Zeit gescheitert sein würde.

Gegen elf Uhr nachts erreichte der Sturm seine höchste Stärke. Kapitän Yin, von seiner Mannschaft trefflich unterstützt, manövrierte als richtiger Seebär. Er lachte nicht mehr, sondern bot seine ganze Kaltblütigkeit auf. Seine fest aufs Ruder gedrückte Hand steuerte das leichte Schiff, das sich, wie eine Möve tanzend, auf den Wellen hob und senkte.

Kin-Fo hatte seine Kabine am Hintersteven verlassen. Ans Takelwerk geklammert, betrachtete er den Himmel mit seinem verstreuten, vom Orkan hin und her gefegten Gewölk, das seine Dunstfetzen über dem Wasser schleppte. Er betrachtete das Meer, das in dieser rabenschwarzen Nacht schneeweiß aussah, dessen Fluten der Taifun mit seinem gewaltigen Hauche weit über ihre normale Höhe emporjagte. Die Gefahr setzte ihn weder in Staunen noch in Schrecken. Sie bildete einen Bruchteil in der Kette von Aufregungen, die ein wider seine Person entfesseltes widriges Geschick über ihn verhängte. Eine 60stündige Ueberfahrt ohne Sturm, mitten im Sommer, wäre brillant gewesen für die Glückskinder der Zeit, aber zu ihnen zählte er ja schon lange nicht mehr!

Craig und Fry fühlten sich weit unruhiger, denn sie standen nach wie vor unter dem Eindruck des Marktwerts, den ihr Schutzbefohlener hatte. Ganz gewiß war ja ihr Leben genau so viel wert, wie das Kin-Fo's. Fanden sie mit ihm zusammen den Tod, dann traten freilich auch für sie die Interessen der »Centennar«-Gesellschaft außer Kraft. Aber diese beiden Versicherungsagenten waren so gewissenhaft, daß sie ihre Person ganz vergaßen und einzig und allein an ihre Pflicht dachten. Sterben, nun ja! Zusammen mit Kin-Fo! auch recht! Aber nach dem 30. Juni um Mitternacht! Eine Million retten wollten Craig-Fry – darauf hinaus zielte ihr Streben! Darauf allein richteten sich ihre Gedanken!

Was nun Sun anbetrifft, so hatte er nicht den leisesten Zweifel, daß die Dschunke zu Grunde gehen müßte, oder vielmehr, daß man schon von dem Moment an, als man sich auf das heimtückische Element gewagt habe, wenn auch beim allerschönsten Wetter, auf Grund geraten sei. Ha! Die Passagiere im Zwischendeck waren doch sicher nicht zu beklagen! A-i! a-i! y-a! Denn die fühlten ja weder Schlingern noch Stampfen! A-i! a-i! y-a!! Und der unglückliche Sun, ob er vielleicht, wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre, die Seekrankheit nicht bekommen hätte!

Drei Stunden lang schwebte die Dschunke in höchster Gefahr. Ein falscher Druck aufs Steuer hätte sie ins Verderben gestürzt, denn das Meer wäre über ihr Verdeck gebrandet. Konnte sie auch so wenig kentern wie ein Kübel, so konnte sie doch voll Wasser laufen und sinken. Nicht dran zu denken war, die Dschunke in beständigem Kurse zu halten mitten in den vom Wirbel des Cyklons gepeitschten Wogen! Jeder Versuch, die eingehaltene und zurückgelegte Strecke zu schätzen, war ein Ding der Unmöglichkeit!

Indessen fügte es ein glücklicher Zufall, daß der »Sam-Yep« ohne ernste Havarie den Mittelpunkt der atmosphärischen Riesenscheibe erreichte, die eine Region von 100 Kilometern bedeckte. Dort befand sich ein Raum von 2–3 Meilen mit ruhigem Meer und kaum merklichem Winde – gleichsam ein friedlicher See inmitten eines aufgebäumten Ozeans.

Dieser Umstand war für die Dschunke die Rettung. Dorthin hatte sie, ohne Tuch an den Masten, der Orkan getrieben. Gegen 3 Uhr früh sank die Wut des Cyklons wie durch Zauber und die wilden Fluten glätteten sich rings um jenen kleinen Mittelsee herum. Als aber der Tag kam, konnte der »Sam-Yep« sich die Augen aussehen, Land am Horizont sah er nirgendswo. Keine Spur von Küste in Sicht! Die bis zur Ringlinie des Himmels zurückgewichenen Fluten des Meerbusens umschlossen ihn auf allen Seiten.



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