Jules Verne
Die Drangsale eines Chinesen in China
Jules Verne

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Achtes Kapitel:

worin Kin-Fo Wang einen ernsthaften Vorschlag macht, den dieser nicht weniger ernsthaft entgegennimmt.

Der Philosoph war noch nicht zu Bett gegangen. Auf einem Divan ausgestreckt, las er die letzte Nummer der Pekinger Zeitung. Wenn seine Brauen sich zusammenzogen, so lag der Grund ganz gewiß in dem Umstände, daß die Zeitung an die herrschende Dynastie der Tsing irgend ein Wort des Lobes verschwendet hatte.

Kin-Fo drückte die Thür auf, trat ins Zimmer ein, warf sich auf einen Sessel und sagte ohne alle Vorrede:

»Wang, ich möchte Dich um einen Dienst bitten.«

»Und wären's ihrer zehntausend!« antwortete der Philosoph, indem er die offizielle Zeitung fallen ließ. »Sprich, sprich, mein Sohn! Sprich ohne Furcht! Sei's, welcher Dienst es sei, ich werde ihn Dir leisten!«

»Der Dienst, den ich erwarte,« sprach Kin-Fo, »gehört zu jenen, die ein Freund bloß einmal leisten kann. Hast Du mir den geleistet, sollst Du entbunden sein von den 9999 anderen, und ich füge hinzu, daß Du nicht einmal Dank von meiner Seite zu erwarten hast!«

»Der geschickteste Mensch im Erklären unerklärlicher Dinge würde Dich nicht verstehen. Um was handelt es sich?«

»Wang,« sagte Kin-Fo – »ich bin ruiniert!«

»Ah! ah!« machte der Philosoph, im Tone eines Menschen, dem man weniger eine schlimme, als eine gute Nachricht meldet.

»Der Brief, den ich bei unserer Rückkehr von Canton hier vorfand,« versetzte Kin-Fo, »meldete mir, daß die Centralbank von Californien in Konkurs geraten ist. Außer dem Yamen und etwa tausend Dollars, die mich noch ein paar Monate durchfristen können, verbleibt mir nichts von meinem Reichtum!«

»Also ist's nicht mehr der reiche Kin-Fo,« fragte Wang, nachdem er seinen Zögling eine Weile lang beobachtet, »der zu mir spricht?«

»Der arme Kin-Fo! den seine Armut übrigens keineswegs schreckt!«

»Wohl gesprochen, mein Sohn!« versetzte der Philosoph und stand auf. »So werde ich denn meine Zeit und meine Mühen nicht verloren haben, Dich Weisheit zu lehren! Bislang hattest Du nur vegetiert, ohne Neigung, ohne Leidenschaften, ohne Kämpfe! Jetzt wirst Du leben! Die Zukunft hat sich gewandelt! Was thut's, hat Kon-fu-tse gesagt und der Talmud hat's nach ihm gesagt: von Unglück passiert immer weniger, als man fürchtet! Also werden wir nun endlich unseren täglichen Reis verdienen! Der ›Nun-shum‹ lehrt uns: ›Im Leben giebt's Höhen und Tiefen; das Glücksrad dreht sich in einem fort, und der Frühlingswind ist veränderlich! Reich oder arm, wisse Deine Pflicht zu erfüllen!‹ Komm, brechen wir auf!«

Und wirklich! Wang, als praktischer Philosoph, war bereit, die luxuriöse Wohnstätte vom Flecke weg zu verlassen. Kin-Fo vertrat ihm den Weg.

»Ich sagte,« nahm er wieder das Wort, »daß die Armut mich nicht erschrecke; aber ich setze hinzu, darum nicht, weil ich entschlossen bin, sie nicht zu ertragen.«

»Ach!« meinte Wang, »Du willst also . . .«

»Sterben.«

»Sterben!« antwortete mit Seelenruhe der Philosoph. »Der Mensch, der gewillt ist, mit dem Leben abzuschließen, spricht mit niemand darüber.«

»Die Sache würde schon geschehen sein,« versetzte Kin-Fo mit einer Ruhe, die derjenigen des Philosophen nichts nachgab, »wenn ich nicht gewollt hätte, daß mir mein Tod wenigstens eine erste und letzte Aufregung verursachte. In dem Moment aber, als ich eins jener Opiumkörnchen schlucken wollte, die Du ja kennst, schlug mir das Herz so matt, daß ich das Gift weggeworfen habe, und zu Dir her ging.«

»Willst Du denn, Freund, daß wir zusammen sterben?« antwortete Wang lächelnd.

»Nein,« sagte Kin-Fo, »für mich ist's notwendig, daß Du lebst!«

»Warum?«

»Damit mir Deine Hand den Tod gebe!«

Bei dieser unvermuteten Zumutung fuhr Wang nicht einmal zusammen. Aber Kin-Fo, der ihm voll ins Gesicht sah, sah einen Blitz in seinen Augen aufleuchten. Wachte in Wang der alte Tai-ping wieder auf? Sollte das Werk, mit dem ihn sein Zögling betrauen wollte, auf kein Bedenken, kein Besinnen bei ihm stoßen? Sollten denn achtzehn Jahre über seinem Haupte hingegangen sein, ohne die blutdürstigen Instinkte seiner Jugend zu dämpfen! Sollte er dem Sohne dessen, der ihm eine Freistatt gegeben, nicht einmal Vorhaltungen machen! Nahm er es, ohne zu straucheln, auf sich, den Sohn seines Wohlthäters von diesem Dasein zu befreien, von dem derselbe nichts wissen wollte! Er wollte so handeln? er? Wang, der »Philosoph«.

Aber dieser Blitz verlöschte fast ebenso schnell wieder. Wang zeigte seine gewöhnliche Miene als braver, biederer Mensch wieder – vielleicht war sie um einige Schattierungen ernster. Dann setzte er sich wieder und sagte: »Diesen Dienst also begehrst Du von mir?«

»Ja,« versetzte Kin-Fo, »und dieser Dienst wird Dir Quittung sein über alles, was Du Dir vielleicht einbildest, Tschung-he-u und seinem Sohne schuldig zu sein.«

»Was soll ich thun?« fragte einfach der Philosoph.

»Von heute ab bis zum 25. Juni, dem 28. Tage des 6. Mondes, hörst Du wohl, Wang, dem Tage, an welchem sich mein 31. Jahr vollenden wird, muß ich aufgehört haben, zu leben! Von Dir getroffen, sei's von vorn, sei's von hinten, bei Tag oder bei Nacht, gleichviel wo, gleichviel wie, gleichviel ob stehend, sitzend, liegend, ob wach oder im Schlafe, ob durch Stahl oder durch Gift, muß ich fallen! In jeder der 80 000 Minuten, aus denen mein Leben sich während der 55 Tage zusammensetzen wird, die ich noch zu leben habe, muß ich den Gedanken, die Hoffnung, die Furcht haben, daß mein Dasein jäh zu Ende gehen wird! Diese 80 000 Momente der Aufregung muß ich vor mir haben, so zwar, daß ich, wenn sich endlich die sieben Elemente meines Daseins scheiden, den Ruf ausstoßen kann: ›Ich habe schließlich doch gelebt!‹«

Kin-Fo hatte wider seine Gewohnheit mit einer gewissen Belebtheit gesprochen. Man wird auch merken, daß er sechs Tage vor Erlöschen seiner Police als die äußerste Grenze für sein Leben festgesetzt hatte. Das hieß als kluger Mann handeln, denn falls die Prämie nicht wiederbezahlt wurde, so verfiel die Versicherung und die beiden Erben derselben würden um den ihnen zugedachten Nutzen gekommen sein.

Der Philosoph hatte ernst zugehört. Heimlich warf er auf das Bild des Kaisers Tai-ping, das sein Zimmer schmückte und das er, wie er noch nicht ahnte, erben sollte, einen raschen Blick.

»Du wirst vor dieser Verpflichtung, mich zu töten, nicht zurückschrecken?« fragte Kin-Fo.

Wang gab durch eine Gebärde zu verstehen, daß ihm das gar nicht einfiele! Er hatte ja auch, als er unter den Bannern der Tai-pings revoltierte, ganz andere Dinge vollbracht! Aber als Mann, der doch alle Einwände erschöpfen will, bevor er sich verpflichtet, setzte er hinzu:

»Demnach verzichtest Du auf die Möglichkeit, die Dir der wahre Meister aufbewahrt hatte, das äußerste Alter zu erreichen?«

»Ich verzichte darauf.«

»Ohne Bedauern?«

»Ohne Bedauern!« antwortete Kin-Fo. »Als Greis leben! Einem Stück Holz ähnlich, aus dem sich nichts mehr schnitzen läßt! Als ich reich war, sehnte ich mich nicht darnach. Arm mag ich's noch weniger!«

»Und die junge Wittib in Peking?« fragte Wang. »Vergißt Du das Sprichwort: Die Blume mit der Blume! Die Weide mit der Weide! Der Zusammenklang zweier Herzen schafft hundert Jahre Frühling!«

»Denen dreihundert Jahre Sommer, Herbst und Winter gegenüberstehen!« antwortete achselzuckend Kin-Fo. »Nein! Le-u als arme Frau würde unglücklich und elend sein mit mir! Dagegen sichert ihr mein Tod ein Vermögen.«

»Das hast Du gethan?«

»Ja, und Dir selbst, Wang, fallen nach meinem Tode 50 000 Dollars zu.«

»Ah!« machte bloß der Philosoph – »Du bist auf alles vorbereitet!«

»Auf alles, selbst auf einen Einwand, den Du noch nicht erhoben hast.«

»Auf welchen?«

»Aber . . . die Gefahr, die Du nach meinem Tode laufen könntest . . . als Mörder prozessiert zu werden!«

»O!« rief Wang, »nur die Tölpel oder die Feiglinge lassen sich hängen! Wo läge übrigens das Verdienst, Dir diesen letzten Dienst zu leisten, wenn ich gar keine Gefahr liefe!«

»Nicht doch, Wang! Du sollst, so will ich, in dieser Hinsicht völlige Sicherheit genießen. Niemand soll Dich auch nur mit einem Gedanken beunruhigen!«

Mit diesen Worten trat Kin-Fo an einen Tisch heran, nahm ein Blatt Papier und schrieb mit fester Hand und deutlich lesbar die beiden Zeilen:

»Ich habe mir freiwillig den Tod gegeben aus Ueberdruß und Ekel am Leben.

Kin-Fo.«

Das Blatt Papier gab er Wang. Der Philosoph las es erst ganz leise, dann noch einmal ganz laut. Hierauf faltete er es fürsorglich zusammen und schob es in einen Notizblock, den er immer bei sich führte. Ein zweiter Blitz hatte in seinem Blicke geleuchtet.

»Ist das alles Ernst bei Dir?« fragte er, seinen Zögling scharf fixierend.

»Voller Ernst.«

»Dann soll's auch voller Ernst bei mir sein!«

»Ich habe Dein Wort?«

»Mein Wort!«

»Am 25. Juni also werde ich spätestens aufgehört haben zu leben?«

»Ich weiß nicht, ob Du gelebt haben wirst in dem Sinne, wie Du es meinst,« antwortete der Philosoph – »todsicher aber wirst Du tot sein!«

»Dank, Wang, und lebe wohl!«

»Lebe wohl, Kin-Fo!«

Und nun verließ Kin-Fo mit Seelenruhe das Zimmer des Philosophen.



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