Jules Verne
Die Drangsale eines Chinesen in China
Jules Verne

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Zwanzigstes Kapitel:

worin man sehen wird, welchen Dingen sich Leute aussetzen, die sich Boyton'scher Schwimm-Apparate bedienen.

Nach Verlauf von drei Stunden zeichneten sich die ersten weißen Lichter in leichten Umrissen am Horizont. Bald wurde es Tag, und das Meer ließ sich in voller Ausdehnung übersehen. Die Dschunke war nicht mehr sichtbar. Sie hatte die Skaphander, die an Schnelligkeit nicht mit ihr wetteifern konnten, rasch hinter sich gelassen. Sie waren wohl unter der Wirkung der gleichen Brise, im gleichen Kurse in westlicher Richtung gefolgt, aber der »Sam-Yep« mußte sich jetzt schon über drei Meilen unterm Winde befinden. Mithin war für die hinter ihm Herfahrenden nichts mehr zu fürchten. Immerhin war die Lage, trotzdem diese unmittelbare Gefahr vermieden worden, noch immer ernst genug.

Das Meer war total leer und öde. Kein Schiff, keine Barke war in Sicht. Kein Schimmer von Land, weder im Norden noch im Osten. Nichts was auf die Nähe eines Gestades deutete. Gehörten die Gewässer, wo sie trieben, zum Busen von Pe-tschi-li oder zum Gelben Meer? Totale Ungewißheit in dieser Hinsicht!

Leichter Wind strich indessen noch immer auf der Wasserfläche. In seinem Bereich mußte man sich unbedingt halten. Die Richtung, die von der Dschunke eingeschlagen worden, bewies, daß in größerer oder geringerer Nähe Land aufkommen mußte, und zwar im Westen, sowie ferner, daß es auf alle Fälle geraten wäre, Land in dieser Richtung und keiner andern zu suchen. Demgemäß wurde beschlossen, sobald man sich gestärkt hätte, die Segel wieder zu setzen. Der Magen forderte sein Recht, und eine zehnstündige Wasserpromenade unter solchen Bedingungen machte den Magen rebellisch!

»Frühstücken wir,« hub Craig an.

». . . und zwar reichlich!« ergänzte Fry.

Kin-Fo winkte zustimmend und Sun klapperte so deutlich mit den Kinnladen, daß man sich über seine Stimmung nicht in Zweifel befinden konnte. In diesem Augenblick dachte der verhungerte Wicht nicht mehr daran, auf dem Flecke aufgefressen zu werden. Im Gegenteil!

Der wasserdichte Sack wurde also geöffnet. Fry nahm verschiedene eßbare Sachen von bester Sorte heraus, Brot, Konserven, mancherlei Tischgerät, kurz, alles was notwendig war, um Hunger und Durst zu stillen. Es wurde gespeist und mit vortrefflichem Appetit. Der Sack enthielt Proviant auf zwei Tage. Ehe zwei Tage herum waren, mußte man doch aber an Land gelangt sein, oder würde nun und nimmer hin gelangen!

»Aber Hoffnung haben wir,« meinte Craig. – »So, und warum Hoffnung?« fragte Kin-Fo, nicht ohne Ironie. – »Weil uns das Glück wieder lächelt,« antwortete Fry. – »Lächelt? Finden Sie?« fragte Kin-Fo wieder. – »Ohne Frage,« versetzte Craig; »die schlimmste Gefahr war die Dschunke, und ihr haben wir entrinnen können!« – »Niemals, mein Herr,« setzte Fry hinzu, »sind Sie in besserer Sicherheit gewesen als hier; niemals, seit wir die Ehre gehabt haben, Ihrer Person beigegeben zu werden!«

»Alle Tai-pinge der Welt . . .« hub Craig wieder an.

». . . würden die Hand nicht an Sie legen können,« meinte Fry.

»Und wie flott Sie treiben!« setzte Craig hinzu.

»Für einen Menschen, der 200 000 Dollars schwer ist!« ergänzte Fry.

Kin-Fo konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Wenn ich treibe,« meinte er, »so verdanke ich es Ihnen, meine Herren! Ohne Ihren Beistand würde ich jetzt beim armen Yin sein!«

»Wir auch!« riefen Fry-Craig als Antwort. – »Und ich auch!« rief Sun, indem er, nicht ohne tüchtige Anstrengung, ein gewaltiges Stück Brot durch seinen Mund in seinen Magen wandern ließ.

»Immerhin,« versetzte Kin-Fo, »weiß ich, was ich Ihnen schuldig bin!«

»Sie sind uns gar nichts schuldig,« antwortete Fry, »denn Sie sind Klient der »Centennar«-Lebensversicherungsgesellschaft . . .« – Craig.

»Garantiertes Vermögen: 20 Millionen Dollars!« – Fry.

»Und wir hoffen stark . . .« – Craig.

». . . daß sie nicht notwendig haben wird, einzuspringen« – Fry.

Im Grunde seiner Seele war Kin-Fo tief gerührt über die aufopfernde Hingabe, von der ihm die beiden Agenten so viel Beweise gegeben hatten, so viel er sie auch im Trab gehalten hatte. Darum machte er auch aus seinen Gefühlen ihnen gegenüber kein Hehl.

»Wir werden hierüber reden,« bemerkte er noch, »wenn mir Lao-Schen den Brief zurückgegeben hat, dessen sich Wang in so unglückseliger Weise entäußert hat!«

Craig-Fry sahen sich an. Ein unmerkliches Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen. Augenscheinlich hatten sie den gleichen Gedanken gehabt.

»Sun!« rief Kin-Fo. – »Mein Herr und Gebieter?« – »Wie steht's mit dem Thee?« – »Hier, bitte!« versetzte Fry.

Und für Fry war es sicher am Platze, statt Suns zu antworten, denn Thee unter diesen Bedingungen zu bereiten wäre Sun, wie er nicht anders hätte antworten können, gar nicht möglich gewesen. Aber wer hätte meinen wollen, daß sich die beiden Versicherungsagenten um solcher Lappalie willen Kopfschmerzen gemacht hätten, der hätte sie schlecht gekannt. Fry langte aus seinem Gerätesack ein kleines Behälterchen, das ein unentbehrlicher Bestandteil von Boyton-Apparaten ist. Tatsächlich kann man sich seiner als Leuchte oder Fackel bedienen zur Nachtzeit, als Wärmherd bei Kälte, als Kochwerkzeug, wenn man was Warmes zu trinken haben will!

Etwas Einfacheres läßt sich in Wahrheit nicht denken. Ein 5–6 zölliges Rohr, an einem metallnen Recipienten angebracht, mit einem Hahn oben und einem Hahn unten versehen – alles nach Art der Schwimmthermometer, die in Badeanstalten gebraucht werden, in einer Korkhülle befindlich – das ist der ganze in Frage stehende Apparat.

Fry setzte das Gerät auf die Wasserfläche, die vollkommen glatt war. Mit der einen Hand drehte er den oberen, mit der andern den unteren Hahn auf, der an dem unter Wasser tauchenden Recipienten angefügt war. Alsbald schnellte eine helle Flamme aus der Spitze herauf, die eine ganz respektable Wärme entwickelte.

»Da haben wir den Ofen,« meinte Fry.

Sun konnte seinen Augen nicht trauen. – »Sie machen Feuer aus Wasser?« rief er. – »Aus Wasser und phosphorsaurem Kalk!« belehrte ihn Craig.

Der Apparat war nämlich so konstruiert, daß er eine merkwürdige Eigenschaft des phosphorsauren Kalks verwertete, jener Phosphorverbindung, die bei Berührung mit Wasser phosphorhaltigen Wasserstoff bildet. Nun brennt bekanntlich dieses Gas von selbst in der Luft, und weder Wind, noch Regen, noch See können es auslöschen. Während nun der Wasserstoff an der Röhrenspitze brannte, hielt Craig eine mit Süßwasser, das er aus einem in seinem Sack befindlichen kleinen Fäßchen entnommen, gefüllte kleine Kochpfanne darüber. Binnen wenigen Minuten war die Flüssigkeit auf Siedehitze gebracht: Craig goß sie in ein Theekännchen, das ein paar Finger voll feinster Blätter enthielt, und diesmal tranken Kin-Fo und Sun Thee nach amerikanischer Bereitungsmethode – worüber sie sich aber in keiner Weise beklagten!

Dieses heiße Getränk bildete den passenden Abschluß für dieses unter dem »soundsovielsten« Längen- und dem »soundsovielsten« Breitengrade direkt auf der Meeresoberfläche servierte Frühstück. Um die Lage bis auf Sekunden zu bestimmen, fehlte es nur an einem Sextanten und einem Chronometer.

Kin-Fo und seine Kameraden hatten sich nun ausgeruht und gestärkt. Sie setzten nun flugs wieder ihre kleinen Klüversegel und setzten ihre durch diesen Morgenimbiß angenehm unterbrochene Wasserpromenade nach Westen zu fort. Die Brise hielt sich noch 12 Stunden lang, und die Skaphander machten mit dem Wind hinter sich recht gute Fahrt. Kaum brauchte man von Zeit zu Zeit den Kurs durch einen leichten Paddelschlag zu korrigieren. In dieser wagerechten Lage sanft und mollig dahingeführt, überkam sie eine gewisse Neigung zum Schlaf, die aber besser bekämpft wurde, da ihnen Schlaf unter solchen Umständen leicht verderblich werden konnte.

Craig und Fry hatten sich, um dieser Neigung nicht anheimzufallen, eine Cigarre angesteckt und rauchten wie Modebengel im Bassin einer Schwimmschule. Hin und wieder wurden die Skaphander übrigens auch durch Sprünge und Spiele mancher Seetiere betroffen, die dem unglücklichen Sun die größten Schrecken einjagten. Zum Glück waren es nur ungefährliche Delphine, jene »Clowns« der Meere, die sich ihnen scharenweis näherten mit allerhand Kapriolen, und die offenbar neugierig waren, zu erfahren, was für wunderliche Wesen in ihrem Element umhertrieben. Wesen aus der Ordnung der Säugetiere wie sie, aber ganz und gar keine Meersäugetiere.

Gegen Mittag aber flaute der Wind vollständig ab. Er setzte aus mit ein paar launischen »Bocksprüngen«, die einen Moment lang die kleinen Segel auftrieben, dann aber in gänzliche Trägheit setzten. Die Schote spannte nicht mehr, sondern hing schlapp in der Hand. Keine Spur von Kräuselsee mehr, weder um die Beine, noch um die Köpfe der Skaphander.

»Komplikation . . .« hub Craig an.

»– . . . ernster Natur!« ergänzte Fry.

Eine Weile wurde gehalten. Die Masten wurden abgesteckt, die Segel zusammengethan. Alle vier versetzten sich in die Senkrechte zurück und musterten den Horizont. Das Meer nach wie vor öde und leer! Kein Segel in Sicht, keine Rauchwolke aus Dampferschlot, die sich am Himmel skizziert hätte! Eine heiße Sonne hatte allen Dunst aufgesogen und die atmosphärischen Strömungen gleichsam verdünnt. Die Temperatur des Wassers wäre warm erschienen, selbst Leuten, die nicht mit zwiefacher Kautschukhülle bekleidet gewesen wären! So sicher sich Fry-Craig indessen auch über den Ausgang dieses Abenteuers ausgesprochen hatten, so ließ sich ihnen doch langsam Beunruhigung anmerken. Allerdings ließ sich ja die seit etwa 16 Stunden zurückgelegte Strecke keineswegs schätzen: aber daß die Nähe des Gestades durch gar nichts offenbar wurde, weder durch eine Fischerbarke, noch durch ein Handelsfahrzeug, das wurde allmählich doch unbegreiflich. Zum Glück gehörten weder Kin-Fo noch Craig und Fry zu den Menschen, die vor der Zeit in Angst und Verzweiflung fallen – wenn solche Zeit ihnen überhaupt schlagen sollte. Noch immer hatten sie ja Proviant für einen Tag, und daß das Wetter schlimm zu werden drohte, dafür waren absolut keine Anzeichen vorhanden.

»An die Paddeln!« kommandierte Kin-Fo.

Diesem Signal zum Aufbruch wurde sogleich entsprochen, und bald auf dem Rücken, bald auf dem Bauche, nahmen die Skaphander die Wassertour nach dem Westen wieder auf. Man kam nicht schnell vorwärts. Die Paddelei strengte die an solche Arbeit nicht gewöhnten Arme an. Es mußte oft gehalten und auf Sun gewartet werden, der zurückblieb und seine Klagelieder Jeremiä wieder zu singen anfing. Sein Herr setzte ihn zur Rede, kanzelte ihn herunter, drohte ihm: aber Sun hatte um das bißchen Zopf, das ihm noch geblieben war, keine Furcht, zumal es durch die dichte Kautschuk-Kappe geschützt war, und ließ ihn reden. Die Furcht, im Stiche gelassen zu werden, spornte ihn ohnehin an, den Abstand, in welchem er sich bewegte, nach Möglichkeit kurz zu bemessen.

Um die zweite Stunde herum wurden einige Vögel sichtbar, Raubmöven; aber diese flinken Vögel wagen sich weit aufs Meer hinaus; aus ihrer Gegenwart ließ sich also durchaus nicht folgern, daß die Küste nahe sei. Immerhin wurde es als ein günstiges Anzeichen betrachtet. Eine Stunde nachher gerieten die Skaphander in ein Sargasso-Gewirr, aus dem sie sich mit Mühe und Not freimachten; sie verhedderten sich dann wie Fische in den Maschen eines Schleppnetzes. Ja sie mußten zu den Messern greifen und sich durch dieses Seegewächs-Dickicht förmlich durchhauen. Darüber ging eine reichliche halbe Stunde Zeit verloren, und ein Kräfte-Verbrauch war obendrein die Folge, der für bessere Zwecke hätte verwandt werden können.

Kin-Fo, auf seine Paddel gestützt, runzelte die Brauen: noch immer mehr erregt, als beunruhigt infolge dieses hartnäckigen Mißgeschicks, das sich ihm an die Fersen heftete, sprach er kein Wort. Sun ächzte und stöhnte unaufhörlich und nieste schon in einem weg, wie ein sterblicher Mensch, dem ein schrecklicher Schnupfen droht. Craig und Fry hatten die Empfindung, als wenn ihre beiden Kameraden sie mit Fragen behelligten, aber sie wußten nicht, was sie antworten sollten!

Endlich gab ihnen einer der glücklichsten Zufälle eine Antwort in den Mund. Kurz vor 5 Uhr streckten sie beide gleichzeitig ihre Hand gen Süden und riefen: »Segel!« und wirklich, drei Meilen unter Wind, zeigte sich eine Barke, die von Segeltuch schier strotzte.

Im Nu steuerten die Skaphander in dieser Richtung. Die Kräfte kamen ihnen wieder. Jetzt lag die Rettung sozusagen in ihren Händen, und sie sich entgehen lassen durften sie auf keinen Fall! Die Windrichtung erlaubte ihnen nicht mehr, Segel zu setzen: aber die Paddeln mußten ausreichen, die verhältnismäßig kurze Strecke zurückzulegen. Sie sahen die Barke rasch unter der auffrischenden Brise an Größe zunehmen. Es war bloß ein Fischerboot, aber seine Anwesenheit wies unwiderleglich darauf hin, daß die Küste nicht mehr fern sein könnte, denn aufs hohe Meer hinaus wagt sich ein chinesischer Fischer nur selten.

Und wirklich, das Boot kam zu ihnen heran, und es gelang den Fischern, wenn auch mühsam, sie aufzufischen.

Es waren Fischer aus Fu-Ning. Nach knapp 2 Meilen Fahrt that sich vor ihnen der Hafen auf, wohin Kin-Fo gelangen wollte. Noch am selbigen Abend, gegen 8 Uhr, ging er dort mit seinen Gefährten ans Land. Im Nu zogen sie die Boyton-Apparate vom Leder und gewannen alle vier wieder das Aussehen von menschlichen Wesen.



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