Jules Verne
Die Drangsale eines Chinesen in China
Jules Verne

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Neunzehntes Kapitel:

das kein gutes Ende nimmt, weder für Kapitän Yin als Kommandant des »Sam-Yep«, noch für seine Mannschaft.

Die Apparate des Kapitäns Boyton bestehen einzig und allein aus einem Kautschuk-Anzug, der aus Beinkleid, Jacke und Kappe besteht. Durch die Beschaffenheit des zu ihnen verwendeten Stoffes sind sie wasserdicht. Diese Eigenschaft hätte sie aber noch nicht frostdicht gemacht, das heißt also, wenn auch kein Wasser in sie eindringen konnte, so würde doch die infolge langen Tauchens entstehende Kälte zu ihnen hereingedrungen sein. Darum werden diese Anzüge aus zweierlei übereinander genähten Stoffen gefertigt, zwischen die sich eine gewisse Menge Luft einblasen läßt. Diese Luft dient also zweierlei Zweck: 1) soll sie den Apparat schwebend über Wasser halten; 2) soll sie durch ihre Zwischenlage jede Berührung mit der flüssigen Luft verhindern und demzufolge vor jeder Erkältung, bzw. Kälte schützen. In solchem Boyton-Anzuge würde ein Mensch eine fast unbegrenzte Zeit, ohne unterzugehen, sich im Wasser aufhalten können.

Daß die Nähte und Anschlußteile solcher Apparate absolut dicht sein müssen, versteht sich von selbst. Das Beinkleid, das bis über die Füße reichte, und in bleischweren Sohlen auslief, war an einem metallenen Gürtel mittels Haken befestigt, der weit genug war, dem Körper zu Bewegungen einigen Raum frei zu lassen. Die an dem gleichen Gürtel befestigte Jacke lief wieder in einem festen Halsgurt aus, an welchen sich die Kappe fügte. Diese Kappe lief um den Kopf herum, fügte sich hermetisch an Stirn, Backen und Kinn, und zwar mittels eines Gummibandes oder Gummireifens. Vom Gesicht sah man also nichts weiter als Nase, Augen und Mund. An die Jacke waren mehrere Kautschukrohre gefügt, die zur Einführung von Luft dienten und die Regulierung derselben, je nach dem Dichtigkeitsgrade, den man erlangen wollte, gestatteten. Man konnte sich also, je nach Belieben, bis zum Halse oder bloß bis zu den Hüften ins Wasser tauchen, oder sogar wagerechte Lage einnehmen. Sozusagen also vollkommene Handlungs- und Bewegungsfreiheit, bei fragloser Sicherheit.

In solcher Weise beschaffen ist der Apparat, der seinem kühnen Erfinder so großen Erfolg gesichert hat und dessen praktischer Nutzen sich in einer gewissen Zahl von Unglücksfällen zur See bewährt hat. Verschiedene zugehörige Bestandteile bilden seine Ergänzung: ein wasserdichter Sack, der einige Gerätschaften enthält, die man über die Schulter nimmt; ein fester Stock, dessen Fuß in einer Hülse oder einem Rohre steckt und ein in Klüverform geschnittenes Segel trägt; endlich eine leichte Paddel, die je nach Bedarf als Ruder oder Steuer dient.

In dieser Equipierung trieben nun Kin-Fo, Craig-Fry und Sun auf der Wasserfläche. Sun, von den beiden Agenten abwechselnd ins Schlepptau genommen, ließ sich vom Wasser treiben, und mit einigen Paddelschlägen hatten sich alle vier ziemlich weit ab von der Dschunke bringen können.

Die noch rabenfinstere Nacht begünstigte das Unternehmen. Falls Kapitän Yin oder einige von seiner Mannschuft auf den Brückensteg getreten wären, so hätten sie die Flüchtlinge doch nicht wahrnehmen können. Es dürfte übrigens auch kaum jemand an Bord der Dschunke eine Ahnung von den Umständen haben, wie sie ihre Flucht bewerkstelligt hatten. Die im Zwischendeck eingesperrten Schufte würden erst im allerletzten Augenblicke dahinter kommen.

»Bei der zweiten Wache,« hatte die Pseudo-Leiche des letzten Sarges gesagt, also die Zeit um Mitternacht herum. Also hatten Kin-Fo und seine Gefährten noch immer einige Stunden Vorsprung für ihre Flucht, und im Verlauf dieser Zeit hofften sie reichlich eine Meile unter Wind vom »Sam-Yep« zu gewinnen. In der That fing auch eine schwache Kühlte den Wasserspiegel zu kräuseln an, aber noch so leise, daß man sich nur auf die Paddel verlassen konnte, zwischen sich und die Dschunke einen Abstand zu bringen.

Binnen wenigen Minuten hatten sich Kin-Fo, Craig und Fry so gut an ihren Apparat gewöhnt, daß sie instinktiv manövrierten, ohne sich auch nur einmal zu besinnen, weder hinsichtlich der Bewegungen, die sie machen, noch hinsichtlich der Haltung oder Stellung, die sie in diesem weichen, schmiegsamen Element machen mußten. Selbst Sun war bald wieder zu besserem Verstande gelangt und fühlte sich verhältnismäßig im Wasser wohler, als an Bord. Seine Seekrankheit war im Nu gewichen. Dem Schlingern und Stampfen eines Fahrzeuges ausgesetzt zu sein, oder mit halbem Leibe im Wasser sich von den Wellen tragen zu lassen, ist nämlich ein ganz bedeutend anderes Ding, und Sun konstatierte diesen Unterschied nicht ohne innere Befriedigung.

Wenn aber Sun auch nicht mehr krank war, so saß ihm doch eine entsetzliche Furcht im Leibe. Er dachte, womöglich seien die Haifische noch nicht zur Ruhe gegangen, und instinktiv, als wenn er schon unmittelbar davor stände, verschluckt zu werden, zog er die Beine an sich! . . . Frei heraus gesagt, ein gewisses Maß von Unruhe in dieser Hinsicht war momentan auch eher am Platz, als nicht!

Kin-Fo und seine Reisegefährten, vom bösen Schicksal ununterbrochen in die ungewöhnlichsten Situationen gebracht, trieben nun im Meere; paddelnd hielten sie sich in einer fast wagerechten Lage, und wenn sie sich ausruhen wollten, oder auf dem Platze verweilten, nahmen sie wieder die senkrechte Stellung ein.

Nach Verlauf einer Stunde etwa mochte der »Sam-Yep« etwa eine halbe Meile unter Wind von ihnen liegen. Nun machten sie Halt, stützten sich auf ihre flach vor sich gestreckte Paddel und beratschlagten, was nun zu thun sei, wobei sie die Vorsicht übten, nicht anders, als leise miteinander zu sprechen.

»Dieser Schuft von Kapitän!« rief Craig, um das Gespräch auf dem Stande der Situation zu halten.

»Dieser Lump von Lao-Schen!« versetzte Fry.

»Verwundert Sie das?« fragte Kin-Fo im Ton eines Menschen, der sich durch nichts in Verwunderung setzen läßt.

»Jawohl!« antwortete Craig, »denn ich kann nicht begreifen, wie diese Halunken dahinter kommen konnten, daß wir an Bord dieser Dschunke die Ueberfahrt machen würden.«

»Absolut unfaßbar, wahrhaftig!« setzte Fry hinzu.

»Hat wenig zu sagen,« sagte Kin-Fo, »da sie's nun doch mal gewußt haben und da wir ihnen entwischt sind!«

»Entwischt? Nein! So lange der »Sam-Yep« noch in Sicht ist, so lange werden wir auch nicht außer Gefahr sein!«

»Nun! Was also thun?« fragte Kin-Fo.

»Alle Kräfte zusammenraffen und weit genug abzukommen suchen, daß bei Sonnenaufgang keine Spur mehr von uns zu sehen ist!« und, eine gewisse Luftmenge in seinen Rettungsanzug blasend, stieg Fry wieder bis zu den Hüften aus dem Wasser herauf, zog seinen Gerätesack vor die Brust, machte ihn auf, nahm eine Flasche und ein Glas heraus, füllte das letztere mit stärkendem Branntwein und reichte es seinem Schutzbefohlenen. Kin-Fo ließ sich nicht lange bitten und trank das Glas bis auf die Neige aus. Craig-Fry machten es ebenso, und auch Sun wurde nicht vergessen.

»Geht's nun?« fragte Craig. – »Besser!« antwortete Sun, nachdem er den Schluck genommen hatte – »vorausgesetzt, wir können auch einen Bissen essen!« – »Morgen,« sagte Craig, »werden wir bei Tagesanbruch frühstücken, und ein paar Tassen Thee . . .« – »Kalt!« rief Sun und schüttelte sich. – »Warm!« versetzte Craig. – »Wollen Sie Feuer anzünden?« – »Ich werde Feuer anzünden.« – »Warum denn bis morgen warten?« fragte Sun. – »Soll denn unser Feuer dem Kapitän Yin und seinen Mitverschworenen sagen, wo wir stecken? – »Nein, nein!« – »Also auf morgen!«

Der Wahrheit gemäß schwatzten die braven Leute nun, als wenn sie »bei sich zu Hause« wären! Bloß versetzte sie die leichte Bewegung der Fluten in eine Auf- und Abwärtsbewegung, die eine merkwürdig komische Seite hatte; sie stiegen und fielen nämlich reihum, je nachdem die Flut sie traf, ähnlich, wie die Hämmer einer von Pianistenhand angeschlagenen Klaviatur.

»Die Brise fängt an aufzufrischen,« bemerkte Kin-Fo.

»Also rüsten wir uns!« versetzten Fry-Craig, und sie schickten sich an, ihren Stock zu bewimpeln, als Sun einen Schreckensruf ausstieß.

»Willst Du das Maul halten, Esel!« rief ihm sein Herr zu . . . »Willst Du denn, daß wir uns aufstöbern lassen?« – »Aber ich habe, glaube ich, eben . . .« flüsterte Sun. – »Was hast Du?« – »Ich habe, glaube ich, eben ein Riesenvieh gesehen, das auf uns zuschwamm! Haifisch oder so was!« – »Irrtum, Sun!« sagte Craig, nachdem er aufmerksam die Wasseroberfläche gemustert hatte. – »Aber . . . mir ist's ganz so gewesen . . .« stotterte Sun. – »Willst Du schweigen, Hasenherz!« sagte Kin-Fo, seinem Diener die Hand auf die Schulter legend – »und selbst wenn der Hai nach Dir schnappen sollte, wirst Du das Maul halten, oder . . .« – »Oder,« setzte Fry hinzu, »einen Schlitz in seinen Anzug! und dann kann der Kerl auf dem Grunde schreien, so viel er will!«

Der unglückliche Sun war, wie man sieht, noch lange nicht am Ende seiner Drangsale. Die Furcht saß ihm im Leibe, und nicht schlecht! Aber er wagte keinen Mucks mehr. Wenn ihm die Dschunke und die Seekrankheit und die Zwischendeckpassagiere noch nicht leid thaten, so konnte das nicht mehr lange dauern.

Wie Kin-Fo festgestellt hatte, fing die Brise sich aufzunehmen an. Aber es war nichts weiter als eine jener plötzlichen Frischen von kurzer Dauer, die am häufigsten bei Sonnenaufgang eintreten. Nichtsdestoweniger mußte man sie nützen, um so viel wie möglich vom »Sam-Yep« abzukommen. Wenn Lao-Schens Gesellen Kin-Fo nicht mehr im »Logis« hinterschiffs finden würden, so stand doch zu erwarten, daß sie sich ohne weiteres auf die Suche machen würden, und wenn sie irgendwie wahrnahmen, wo er steckte, so würde ihnen die Piroge es kinderleicht machen, ihnen nachzusetzen und sie wieder einzufangen. Um jeden Preis war es also wichtig, so viel Terrain, wie möglich, zu gewinnen, ehe es Tag wurde.

Die Brise blies aus Osten. Gleichviel, in welche Bereiche der Orkan die Dschunke gejagt hatte, an einem Punkte des Meerbusens von Leao-Tong, des Golfs von Pe-tschi-li oder schließlich auch des Gelben Meeres mußten sie, wenn sie die westliche Richtung beibehielten, ohne Frage das Gestade erreichen. Dort konnte man ja irgend einem Handelsschiffe, auf der Fahrt nach der Mündung des Pei-ho begriffen, begegnen. Dort gehörten ja auch Fischerbarken bei Nacht, wie bei Tage, zu den gewöhnlichsten Erscheinungen des Küstenverkehrs. Die Möglichkeit, aufgefischt zu werden, gewann also in ziemlich hohem Verhältnis an Wahrscheinlichkeit. Wäre hingegen der Wind aus dem Westen gekommen, und war der »Sam-Yep« über die Küste von Korea hinaus südwärts verschlagen worden, so stünde es um die Rettungswahrscheinlichkeit für Kin-Fo und seine Reisegefährten äußerst schlecht. Dann würde sich vor ihnen das ungeheure Meer erstrecken, und, falls es ihnen wirklich beschert sein sollte, bis zu den Küsten Japans zu gelangen, so würde das wohl kaum anders der Fall sein, als im Zustande von Leichen im wassersicheren Kautschuk-Rocke!

Wie aber schon gesagt worden, ließ sich mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß die Brise mit Sonnenaufgang abflauen würde; um so mehr galt es also, sie klug auszunützen, um sich so weit wie möglich aus dem Sehbereich der Dschunke zu bringen. Es war etwa 10 Uhr abends. Der Mond mußte kurz vor Mitternacht über dem Horizont zum Vorschein kommen. Also war kein Augenblick zu verlieren! »Unter Segel!« riefen Fry-Craig. Im Nu war die Bewimpelung der Stöcke erfolgt. Nichts leichter übrigens, als das! Denn jede Sohle des rechten Fußes trug eine Dille oder Hülse, zu dem Zwecke, den Stock hineinzusetzen, der als Mast zu dienen hatte. Kin-Fo, Sun und die beiden Versicherungsagenten legten sich zunächst auf den Rücken; dann zogen sie den rechten Fuß in der Beuge bis zum Knie heran, machten den Stock in der Dille fest, nachdem sie zuvor das kleine Klüversegel auf denselben gesetzt hatten. Sobald sie den Fuß dann in wagerechte Stellung gebracht hatten, richtete sich der Stock in rechter Winkelstellung zur Körperlinie senkrecht in die Höhe. »Hissen!« kommandierten Fry-Craig. Und jeder zog, mit der rechten Hand auf das »Fall-« oder Zugseil drückend, das dreieckig geschnittene Wimpel an die Spitze der improvisierten Maststange hinauf. Nun wurde das »Fall« an den metallenen Gürtel gehakt, die Schote mit der Hand gefaßt, und die vier Klüversegel blähten sich vor der Brise, die die kleine Skaphander-Flottille mitten im leichten Kielwasser von dannen trieb. Verdienten nicht diese »Wasserratten« diese Bezeichnung »Skaphander« mit um so größerem Recht, als die Untermeer-Arbeiter, denen er in der Regel, und ohne, daß er auf sie so recht paßt, zugelegt wird?

Zehn Minuten nachher arbeitete jede der vier »Wasserratten« mit vollkommener Sicherheit und Leichtigkeit. Ohne daß sich einer von der andern entfernte, ruderten sie, um es seemännisch zu bezeichnen, »unter Admiralschaft«, nämlich zusammen in Reih und Glied, so daß es fast aussah, als ob ein Trupp Riesenraubmöven mit vorm Winde gespannten Fittichen leicht über die Wasserfläche glitte. Uebrigens wurde diese Schiffahrtsweise durch den Stand der See außerordentlich begünstigt. Keine einzige Welle störte die lange, ruhige Wasserfläche, weder eine Kabbel- noch eine Widersee.

Ein paarmal nur wollte der ungeschickte Sun, weil er an Fry-Craigs Instruktionen nicht dachte, sich umdrehen und schluckte dann ein paar Mundvoll von der bittersalzigen Flüssigkeit. Aber ein paarmal kräftigen Aufstoßens in Verbindung mit etwas Erbrechen machten den Schaden allemal wieder gut. Uebrigens war das nicht der Grund für die Angst, die er fühlte, sondern vielmehr die Nähe von gefräßigen Haifischen, die er fortwährend witterte! Man machte ihm jedoch begreiflich, daß er geringere Gefahr in wagerechter Lage als in senkrechter liefe. Thatsächlich nötigt den Hai die Beschaffenheit seines Quermauls, sich umzudrehen, wenn er nach seiner Beute schnappen will, und diese Bewegung wird ihm nicht leicht, wenn er einen Gegenstand fassen will, der wagerecht schwimmt. Außerdem hat man die Bemerkung gemacht, daß diese gefräßigen Tiere, während sie sich auf träge Körper stürzen, vor solchen, die mit Bewegung ausgestattet sind, sich sozusagen besinnen. Sun mußte sich also bequemen, in einem fort seine Paddel zu rühren, und ob er sich dazu bequemte, mag sich der Leser selbst ausmalen!

Die vier Skaphander trieben in dieser Weise etwa eine Stunde lang auf dem Wasser. Weder mehr noch weniger war nötig. Ein Weniger würde sie nicht rasch genug von der Dschunke abgebracht haben. Ein Mehr würde sie, und zwar ebenso sehr infolge der ihrem kleinen Segel gegebenen Spannung als infolge der zu scharfen Kabbelsee, zu stark ermüdet haben. Craig-Fry kommandierte also »Stoppen«! Die Schoten wurden »gefiert« oder nachgelassen und die kleine Flotte stand still.

»Fünf Minuten Ruhe, wenn's beliebt, Herr?« fragte Craig, zu Kin-Fo gewandt. – »Gern,« antwortete dieser.

Alle, bis auf Sun, der »vorsichtshalber« ausgestreckt bleiben wollte und zu plätschern fortfuhr, nahmen die senkrechte Stellung ein.

»Zweites Glas Schnaps gefällig?« fragte Fry.

»Mit Vergnügen!« antwortete Kin-Fo.

Ein paar Schlucke von dem kräftigenden Tranke, mehr davon war für den Moment nicht nötig. Der Hunger quälte sie noch nicht. Eine Stunde vor ihrer Flucht von der Dschunke hatten sie die Hauptmahlzeit des Tages gehalten; also konnten sie es schon bis zum andern Morgen aushalten. Sich zu wärmen war auch unnötig. Die zwischen ihren Leib und das Wasser eingefügte »Luftmatratze« gewährte ihnen Schutz vor jeder Frische. Die Normaltemperatur ihres Körpers war sicherlich noch um keinen Grad seit ihrer Flucht gesunken.

Und der »Sam-Yep«? War er noch immer in Sicht?

Craig und Fry drehten sich um. Fry nahm aus seinem Gerätesack ein Nachtfernrohr und suchte damit sorgfältig den Horizont am östlichen Himmel ab. Nichts! nichts zu sehen! Keiner von jenen kaum merklichen Schatten, die die Schiffe auf dem dunklen Himmelsgrunde zeichnen. Ueberall schwarze, in leichten Nebel gehüllte, sternenarme Nacht! Die Planeten sahen kaum anders aus als ein Nebelfleck am Firmament. Sehr wahrscheinlich würde aber der Mond, der seine halbe Scheibe sicher bald zeigen würde, diese fast undurchsichtigen Nebel verscheuchen und den Raum weithin aufhellen.

»Die Dschunke ist weit von uns!« sagte Fry.

»Die Halunken liegen noch im Schlafe,« versetzte Craig, »und werden die Brise kaum ausgenützt haben!«

»Wann's Ihnen recht ist?« meinte Kin-Fo, indem er seine Schote wieder straff zog und sein Segel von neuem im Winde spannte.

Seine Kameraden thaten wie er, und alle schlugen wieder unter dem Druck einer etwas steifer gewordenen Brise ihren ersten Kurs ein. Gen Westen zu ging die Paddeltour. Mithin konnte der im Osten aufsteigende Mond sie nicht direkt in die Augen treffen; aber den entgegengesetzten Horizont mußte er mit seinen ersten Strahlen treffen, und diesen Horizont mit Aufmerksamkeit abzusuchen, war eine Hauptsache. Vielleicht zeigte er statt einer von Himmel und Wasser scharf gezogenen Kreislinie ein zerrissenes, vom Mondlicht gefranstes Profil! Die Skaphander würden sich schon nicht irren! Was sie dort sehen würden, würde das Gestade des Himmlischen Reiches sein, und gleichviel, wo sie dort an Land geraten würden, würde sich Rettung für sie bieten. Die Küste war frei, die Widersee fast gleich Null. Also konnte die Landung nicht mit Gefahr verknüpft sein; und erst einmal auf festem Boden, würde man sich rasch klar darüber werden, was nunmehr für sie am besten zu thun sei.

Ungefähr gegen drei Viertel zwölf Uhr zeichneten sich am Nebelgewölk des Zeniths in unbestimmten Umrissen einige weiße Flecke. Das Mondlicht fing an, allmählich über die Wasserlinie zu ragen. Weder Kin-Fo noch einer seiner Gefährten drehte sich um. Die Brise, die sich unmerklich aufgefrischt hatte, während sich die obern Dunstwolken zu zerstreuen anfingen, führte sie nun mit einer gewissen Schnelligkeit hinweg. Aber daß es sich im Raum langsam aufhellte, merkten sie natürlich. Zur gleichen Zeit traten die Sternbilder schärfer in Sicht. Der Wind, der sich aufnahm, fegte das Nebelgewölk hinweg und ein schärferes Kielwasser zitterte den Skaphandern um die Köpfe. Die von Kupferrot in Silberweiß übergegangene Mondscheibe erleuchtete bald den ganzen Himmel.

Plötzlich entfuhr ein echter, unverhohlener Fluch, ein echter Amerikaner-Fluch Craigs Munde. »Die Dschunke!« rief er. Alle machten Halt. »Segel gekappt!« rief Fry. Im Nu waren die vier Klüversegel hereingeholt und die Stöcke aus ihren Dillen gehoben. Im Nu waren die vier »Wasserratten« wieder in senkrechte Stellung getreten und blickten rückwärts.

Der »Sam-Yep« zeichnete in Entfernung von knapp einer Meile, alle Segel aufgemacht, in Schwarz seine Umrisse am hellerleuchteten Horizont. Wirklich und wahrhaftig, es war die Dschunke! Sie hatte zur Fahrt klar gemacht und nützte jetzt die Brise aus. Kapitän Yin hatte ohne Zweifel Kin-Fo's Verschwinden bemerkt, ohne sich zunächst darüber klar werden zu können, wie er die Flucht bewerkstelligt hatte. Auf gut Glück hatte er sich im Einverständnis mit seinen Mitverschwornen aus dem Zwischendeck auf die Verfolgung gemacht, und ehe noch eine Viertelstunde verstrich, würden sie, Kin-Fo, Sun, Craig und Fry, ihm wieder in die Hände gefallen sein!

Waren sie denn aber inmitten dieses Strahlenbündels, mit dem sie der Mond auf der Meeresoberfläche übergoß, gesehen worden? Nein! vielleicht nicht! »Kopf gesenkt!« kommandierte Craig, der sich an diese Hoffnung klammerte. Er wurde verstanden. Die Röhren der Rettungsanzüge ließen ein mäßiges Quantum von Luft entweichen, und die vier Skaphander sanken so tief, daß bloß ihr in die Kappe gehüllter Kopf über Wasser ragte. Nun blieb nichts weiter zu thun, als, ohne sich zu rühren, in absolutem Schweigen zu warten.

Die Dschunke näherte sich mit Geschwindigkeit. Ihre hohen Segel warfen ihre breiten Schatten auf die Fluten. Nach fünf Minuten war der »Sam-Yep« höchstens noch eine halbe Meile weit. Oben auf den Regelingen liefen die Matrosen hin und her. Hinterschiffs stand der Kapitän und hielt das Ruder. Steuerte er in der Absicht, die Flüchtlinge zu erreichen? Ließ er sich nur vom Winde treiben? Man wußte es nicht. Plötzlich wurde lautes Geschrei hörbar. Eine Masse von Menschen wurde auf dem Verdeck des »Sam-Yep« sichtbar. Das Geschrei verdoppelte sich. Offenbar kam es zum Kampfe zwischen den Pseudo-Leichen, die aus dem Zwischendeck entronnen waren, und der Bemannung der Dschunke. Aber weshalb ein solcher Kampf? Standen denn diese Halunken, Matrosen und Seeräuber, nicht im Komplott?! Kin-Fo sowohl wie seine Kameraden hörten ganz deutlich einerseits schauerliche Verwünschungen und Flüche, anderseits Schmerzensgeschrei und verzweifeltes Geheul, das binnen wenigen Minuten verklang.

Dann deutete eine heftige Kabbelsee, längs der Dschunke verlaufend, darauf hin, daß Leichname ins Meer geschleudert wurden.

Nein! Kapitän Yin und seine Mannschaft waren nicht die Mitverschwornen von Lao-Schens Banditen! Die armen Menschen waren vielmehr überrumpelt und hingeschlachtet worden. Die Schufte, die sich an Bord versteckt hatten, – ohne Zweifel mit Hilfe der Umlader in Taku – hatten kein anderes Ziel verfolgt, als sich für Rechnung des Tai-ping der Dschunke zu bemächtigen, und ganz sicher wußten sie gar nicht einmal, daß Kin-Fo Passagier auf dem »Sam-Yep« gewesen war! Wäre er aber gesehen, wäre er festgenommen worden, dann hätte weder er noch Fry-Craig noch Sun auf Mitleid von diesen Elenden zu rechnen gehabt.

Die Dschunke rückte noch immer näher. Sie kam ihnen nahe; sie erreichte sie – aber zufolge eines unverhofften Glückszufalls warf sie den Schatten ihrer Segel auf die Skaphander . . . Diese tauchten im Nu unter . . . Als sie wieder zum Vorschein kamen, war die Dschunke vorbei, ohne sie zu bemerken, und enteilte inmitten einer jähen Kräuselflut. In ihrem Kielwasser schwamm ein Leichnam, der langsam in die Nähe der Skaphander trieb. Es war die Leiche des Kapitäns, in dessen Hüfte ein Dolchmesser gestoßen war. Die weiten Falten seines Gewandes hielten ihn noch eine Zeitlang über Wasser. Dann sank er und verschwand in den Tiefen des Meeres.

So endigte der joviale Kapitän Yin, Kommandant des »Sam-Yep«!

Zehn Minuten später war die Dschunke im Westen verschwunden und Kin-Fo, Fry-Craig und Sun befanden sich wieder allein auf der Meeresoberfläche.



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